4. Kapitel
Entscheidung des Siegs / Güo Schong

[99] Das Militärwesen hat Stamm und Zweige. Worauf es unter allen Umständen ankommt ist Gerechtigkeit, Weisheit und Tapferkeit. Durch die Gerechtigkeit wird der Gegner vereinsamt. Ist er vereinsamt, so zürnen ihm seine Verwandten, die Weisen tadeln ihn und es erheben sich innere Unruhen.

Durch die Weisheit erkennt man den Wandel der Zeit. Erkennt man den Wandel der Zeit, so weiß man den Wechsel von Fülle und Leere, Blüte und Untergang abzuschätzen; so weiß man was man zuerst zu tun hat und was danach, was in der Ferne und was in der Nähe, wem man sich zuzuwenden hat und was man zu lassen hat.

Durch Tapferkeit kann man die Entscheidung herbeiführen.[99] Kann man die Entscheidung herbeiführen, so kann man Wirkungen hervorbringen wie Donner und Blitz, wie Wirbelwind und heftiger Regen, man kann es machen wie stürzende Berge, wie gebrochene Dämme; man kann trennen und stürzen, wie der Adler auf seine Beute stürzt, was er mit seinen Klauen faßt, ist tot, jeder Baum, den er trifft, geht in Stücke.

Das aber läßt sich durch Erkenntnis erlangen: Ein Volk ist nicht beständig tapfer, aber auch nicht beständig feige. Hat es Kraft, so ist es stark, ist es stark, so ist es tapfer. Hat es keine Kraft, so wird es schwach, ist es schwach, so wird es feige. Die Ursachen von Feigheit und Tapferkeit, Schwäche und Stärke sind sehr verborgen, aber man muß sie zu erkennen suchen. Der Geist der Tapferkeit führt zu mutigem Kampf, der Geist der Feigheit führt zu Flucht. Kämpft man und siegt, so hat man mutig gekämpft, kämpft man und flieht, so hat man feige gekämpft. Feigheit und Tapferkeit sind nichts Beständiges. Sie kommen und gehen plötzlich und niemand weiß, woher und wohin, nur der Weise erkennt ihre Gründe. Darum kamen die Dynastien von Schang und Dschou hoch und gingen Giä und Dschou Sin zugrunde. Der Unterschied eines klugen und eines törichten Fürsten besteht nur darin, daß der eine es versteht, seines Volkes Kraft zu mehren, während der andere seinem Volk die Kraft raubt, daß der eine es versteht, die Menge zum Kampf zu begeistern, während der andere es nicht versteht, die Menge zum Kampf zu begeistern. In diesem Falle hilft auch ein großes Heer und viele Krieger nicht zum Siege. Wenn das Heer groß und die Krieger zahlreich sind, ohne daß man die Menge zum Krieg begeistern kann, so ist man schlimmer dran, als mit einer kleinen Anzahl. Die große Anzahl kann unter Umständen ein großes Glück bedeuten, sie kann aber ebenso ein großes Unglück bedeuten. Es ist wie beim Fischen in tiefen Gewässern. Man fängt größere Fische, aber die Gefahr ist auch größer. Wer es versteht, Soldaten zu führen, der wird seinem ganzen Heer bis zum letzten Mann den Geist des Kampfes einflößen, so daß die Massen des geringen Volkes auf hunderte von Meilen weit herbeiströmen und ihm beim Kampfe helfen, denn die Verhältnisse führen sie dazu. Wer Glück[100] hat, der versteht sich auf den rechten Zeitpunkt für die Schlacht und weiß, womit die Leute anzulocken sind.

Beim Militär kommt alles darauf an, die Lage ausnützen zu können. Wer die Lage auszunützen vermag, der wird die gefährdeten Stellen des Feindes in eigene Stärke umwandeln, er wird sich den Überlegungen des Feindes in seinen eigenen Bewegungen anpassen. Wer sich auf diese Ausnützung versteht und ihr noch den Sieg hinzufügt, der ist unüberwindlich. Wer unüberwindlich im Siegen ist, der heißt göttlich, wer göttlich ist, den kann man nicht besiegen. Beim Militär kommt alles darauf an, daß man nicht besiegt werden kann. Das nicht besiegt werden können hängt von uns selbst ab, das siegen können vom Gegner. Der Weise sorgt dafür, daß unter allen Umständen er selbst in der rechten Verfassung ist; aber er kann nicht unter allen Umständen den Gegner in die von ihm gewünschte Lage bringen. Wenn er mit seiner Methode der Unbesiegbarkeit auf einen Feind trifft, der nicht siegt, so wird er unter keinen Umständen Verluste erleiden. Der Sieg des einen Heeres bedingt immer die Niederlage des Feindes. Eine Armee, die eine andere besiegen will, muß verborgen sein, sich konzentrieren und einen einheitlichen Willen haben. Durch Verborgenheit siegt man über einen offen aufmarschierenden Gegner, dessen Bewegungen klar zutage liegen; durch Konzentration siegt man über einen verzettelten Gegner; durch Einheitlichkeit des Willens siegt man über einen unschlüssigen Gegner. So machen es auch alle Raubtiere; sie wissen ihre Hörner, Krallen und Zähne, wenn sie ihre Beute beschleichen, zu verdecken und dadurch erreichen sie den Sieg.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 99-101.
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