2. Kapitel
Staatsmännische Prinzipientreue / Schï Dsiä

[145] Ein Staatsmann ist ein Mensch, der, wenn es sich um die Stimme der Vernunft handelt, vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckt. In Stunden der Not vergißt er den Vorteil. Er läßt sein Leben, um seine Pflicht zu erfüllen. Den Tod betrachtet er nur wie eine Rückkehr. Solche Männer kann der Landesfürst nicht nach Belieben zu seinen Freunden machen, der Himmelssohn nicht nach Belieben zu seinen Beamten machen. Die Großen unter ihnen vermögen die Weltereignisse zu bestimmen, die weniger Bedeutenden wenigstens die Schicksale eines Staates. Alles kommt auf solche Leute an. Darum muß ein Herrscher, der große Verdienste und großen Ruhm erwerben will, vor allem danach trachten, solche Männer zu suchen. Ein weiser Herrscher gibt sich alle Mühe, die rechten Leute zu finden, dann hat er es nachher leicht, die Geschäfte in Ordnung zu erhalten.

Im Staate Tsi lebte ein Mann namens Be Guo Sau15, der flocht Netze und Reusen, sammelte Schilf und Binsen und flocht Sandalen daraus, um den Lebensunterhalt für seine Mutter zu verdienen.[145] Da er aber nicht genug verdienen konnte, ging er persönlich in das Haus des Ministers Yän Dsï, besuchte ihn und sprach: »Ich möchte um so viel bitten, daß ich meine Mutter davon ernähren kann.«

Ein Diener des Yän Dsï sprach zu Yän Dsï: »Dies ist einer der würdigsten Männer von Tsi. Seine Pflicht steht ihm höher als Anstellung beim Großkönig und als Freundschaft von Fürsten. Vorteile, die sich ihm bieten, nimmt er nicht unbesehen an, drohendem Unheil sucht er nicht auf unanständige Weise zu entgehen. Daß er Euch um Lebensunterhalt für seine Mutter bittet, ist ein Zeichen, daß er sich Eurer Gerechtigkeit freut. Gebt ihm unter allen Umständen etwas.«

Yän Dsï sandte jemand, um ihm einen Anteil des Korns in seinem Speicher und des Goldes in seinen Schatzkammern zu überbringen. Jener lehnte das Gold ab und nahm nur das Getreide an.

Nach einer Weile fiel Yän Dsï in Ungnade bei dem Fürsten von Tsi. Als er im Begriff war, aus dem Staate zu entweichen, ging er am Hause des Be Guo Sau vorüber und nahm Abschied. Be Guo Sau badete, dann kam er heraus, um Yän Dsï zu sehen. Er sprach zu ihm: »Meister, warum wollt Ihr fort?« Yän Dsï sprach: »Ich bin bei dem Fürsten von Tsi in Ungnade gefallen und muß fliehen.«

Be Guo Sau sprach: »Meister, seht Euch gut vor!« Als Yän Dsï wieder auf den Wagen stieg, seufzte er tief und sprach: »Es geschieht mir recht, daß ich fliehen muß; denn ich besaß auch wirklich gar keine Menschenkenntnis.«

Nachdem Yän Dsï weg war, rief Be Guo Sau seinen Freund und sagte zu ihm: »Ich freute mich über die Gerechtigkeit des Yän Dsï und bat ihn daher um Nahrung für meine Mutter. Ich habe aber gehört, daß wir für den, der für unsere Nächsten uns Nahrung gegeben, verpflichtet sind mit unserem Leben einzutreten, wenn er in Schwierigkeiten kommt. Nun ist Yän Dsï in Ungnade gefallen und ich werde mein Leben lassen, um ihn von dem Verdachte zu reinigen.«

Darauf zog er Feierkleider an und setzte einen Feierhut auf,[146] dann ließ er seinen Freund ein Schwert und eine Schüssel in die Hand nehmen und ihm so folgen an den Hof des Fürsten. Dann bat er den Zeremonienmeister: »Yän Dsï ist einer der würdigsten Männer auf Erden. Da er weg ist, wird der Staat Tsi sicher von Feinden überfallen werden. Wenn man die feindlichen Überfälle des Vaterlandes sicher voraussieht, so ist es besser, vorher zu sterben. Ich bitte durch mein abgehauenes Haupt als Zeugnis für Yän Dsï eintreten zu dürfen.«

Darauf sprach er zu seinem Freund: »Lege mein Haupt auf die Schüssel und bringe es dar.« Dann zog er sich zurück und tötete sich selbst. Sein Freund aber überreichte sein Haupt als Zeugnis für Yän Dsï und sprach zu den Zuschauern: »Be Guo Sau ist für das Vaterland gestorben, ich werde für Be Guo Sau sterben.«

Darauf zog er sich ebenfalls zurück und tötete sich.

Als der Fürst von Tsi davon hörte, erschrak er sehr, bestieg einen Sonderwagen und fuhr dem Yän Dsï nach. Er erreichte ihn an der Grenze von Tsi. Er bat ihn mit zurückzukommen. Yän Dsï konnte nicht umhin zurückzukehren.

Als er gehört hatte, daß Be Guo Sau durch seinen Tod für ihn eingetreten sei, da sprach er: »Geschieht es mir denn nicht wirklich recht, daß ich fliehen mußte, da ich noch weniger Menschenkenntnis besaß, als ich gedacht hatte?«

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 145-147.
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