5. Kapitel
Überlegenheit beim Angriff / Dschang Gung

[190] Ob ein Staat in Ordnung oder Unordnung ist, ob er bestehen bleibt oder untergeht, ob er in Ruhe oder Gefahr kommt, ob er stark oder schwach ist: immer kommt es darauf an, daß er mit seinem Gegenteil zusammenstößt, dann stellen sich die Folgen ein. Wenn die beiden feindlichen Teile auf derselben Stufe stehen, so können sie einander nichts anhaben.

So waren Giä und Dschou Sin allerdings unwürdig, aber daran, daß sie zugrunde gingen, ist Schuld, daß sie mit einem Tang und Wu zusammenstießen. Daß sie aber mit einem Tang und Wu zusammenstießen, war Schicksal, nicht ihre eigene Unwürdigkeit. Tang und Wu waren allerdings würdig, daß sie aber die Weltherrschaft gewannen, das kam daher, daß sie einen Giä und Dschou Sin zu Gegnern hatten. Daß sie aber mit einem Giä und Dschou Sin zusammenstießen, das war Schicksal, nicht das Verdienst von Tang und Wu. Wenn Giä und Dschou Sin nicht einen Tang und Wu getroffen hätten, so wären sie wahrscheinlich nicht zugrunde[190] gegangen. Daß sie trotz ihrer Unwürdigkeit nicht zugrunde gegangen wären, wäre daher gekommen, daß ihre Schande nicht so groß geworden wäre. Wenn Tang und Wu es nicht mit einem Giä und Dschou Sin zu tun gehabt hätten, hätten sie vielleicht die Weltherrschaft nicht erlangt. Der Grund, warum sie trotz ihrer Würdigkeit die Weltherrschaft nicht erlangt hätten, wäre gewesen, daß ihr Ruhm dann nicht so hoch gestiegen wäre. Darum, wenn ein Herrscher große Verdienste hat, so hört man nichts Nachteiliges von ihm. Von einem Herrscher, der sein Reich zugrunde richtet, hört man ebensowenig etwas Günstiges.

Damit verhält es sich wie mit einem tüchtigen Landmann, der die Pflanzen auf die geeigneten Bodenarten zu verteilen weiß, der die Arbeiten des Pflügens und Jätens pünktlich verrichtet. Er erntet nicht unter allen Umständen etwas, aber allerdings, wenn einer etwas erntet, so ist es ein Mann wie er. Doch kommt es vor allem darauf an, daß ein günstiger Regen fällt. Ein günstiger Regen aber ist eine Wirkung der Natur, er läßt sich nicht durch die Tüchtigkeit eines Landmannes erzwingen.

Einst herrschte im Staate Yüo eine große Hungersnot50. Der König war beunruhigt und berief den Fan Li, um mit ihm zu beraten. Fan Li sprach: »Warum seid Ihr traurig, o König? Die jetzige Hungersnot ist das Glück von Yüo und das Unglück von Wu. Wu ist reich und hat Güter im Überfluß. Sein König ist jung und hat wenig Erfahrung und nur oberflächliche Gaben. Ihm ist es nur um einen Namen für den Augenblick zu tun, ohne an spätere Schwierigkeiten zu denken. Wenn ihr reiche Geschenke sendet und demütig in Wu um Korn bittet, so werden wir Nahrung bekommen. Wenn wir aber erst zu essen haben, so wird schließlich Yüo den Staat Wu erobern. Warum seid Ihr also traurig?« Der König von Yüo sprach: »Gut« und sandte einen Boten, der in Wu um Nahrung bitten sollte.

Der König von Wu51 wollte sie ihm geben, da erhob Wu Dsï Sü Einsprache und sagte: »Man darf ihnen nichts geben. Wu und Yüo grenzen aneinander und sind Nachbarstaaten, sie sind für einander zugänglich und es herrscht reger Verkehr zwischen ihnen.[191] Sie sind Erbfeinde. Wenn Wu nicht Yüo vernichtet, so wird Yüo sicher Wu vernichten. Die anderen Staaten wie Yän, Tsin, Tsi und Dsin sind Berg-und Festlandstaaten, sie können nicht durch unsere 5 Seen und 9 Ströme, unsere 17 Naturhindernisse durchdringen, um Wu zu erobern. Darum sage ich: wenn nicht Wu den Staat Yüo zugrunde richtet, wird sicher Yüo den Staat Wu zugrunde richten. Wenn man ihm nun Korn liefert und Nahrung verschafft, so heißt das unsern Erbfeind stärken, während wir unsere Vorräte verringern und unsere Untertanen dadurch beunruhigen. Spätere Ruhe würde nichts mehr ausrichten. Wenn wir ihnen dagegen nichts geben, sondern sie angreifen, so ist das das angemessene Verfahren. Auf diese Weise hat unser verewigter Herr52 die Hegemonie erlangt. Ferner ist eine Hungersnot etwas, das wechselt und wie Berg und Tal in jedem Land vorkommt.«

Der König von Wu sprach: »Nein. Ich habe gehört, daß ein gerechtes Heer keine Soldaten angreift, die sich ergeben wollen und daß ein milder Fürst die Hungernden speist. Da nun Yüo sich uns ergeben hat, so wäre es ungütig, ihm nichts zu geben. Aber ungerecht sein und ungütig, das will ich nicht, sollte ich auch dadurch zehn Länder für Yüo erwerben.«

Darauf gab er ihnen Speise.

Keine drei Jahre waren vergangen, da brach in Wu ebenfalls eine Hungersnot aus. Man sandte nach Yüo, um Nahrung zu erbitten. Aber der König von Yüo gab ihnen nichts, sondern griff sie an, und der König Fu Tschai wurde gefangen.

Der König von Tschu wollte die beiden Staaten Si und Tsai annektieren53. Darum stellte er sich zunächst freundlich gegen den Fürsten von Tsai und beriet sich mit ihm. Er sprach: »Ich möchte den Staat Si haben, wie mache ich das wohl?«

Der Fürst sprach: »Die Fürstin von Si ist eine Schwester meiner Frau. Ich werde für Euch dem Fürsten von Si und seiner Gattin ein Festmahl geben und mit Euch gemeinsam hingehen. Bei dieser Gelegen heit könnt Ihr den Staat überraschen.«

Der König von Tschu sprach: »Ja.« Darauf ging er mit dem Fürsten von Tsai zu den Festlichkeiten nach Si und besetzte bei[192] dieser Gelegenheit Si. Auf dem Rückwege verweilte er in Tsai und besetzte Tsai ebenfalls.

Dschau Giän Dsï war krank. Da berief er seinen ältesten Sohn Siang Dsï zu sich und sprach zu ihm: »Wenn ich nun tot und begraben bin, so steige in den Trauerkleidern auf den Berg Hia Wu und sieh Dich um.« Der Sohn stimmte ehrerbietig zu. Als nun Giän Dsï gestorben war, da berief sein Sohn in Trauerkleidern seine Räte und sprach: »Ich will auf den Berg Hia Wu gehen und mich umsehen.« Die hohen Räte erhoben alle Einspruch und sagten: »Die Besteigung des Hia Wu Berges zum Zweck sich umzusehen ist eine Vergnügungsreise, Vergnügungsreisen aber sind nicht angängig, solange man in Trauer ist.«

Da sprach Siang Dsï: »Es ist das meines verewigten Vaters Wille, den ich nicht zu übertreten wage.« Da waren alle Räte ehrfurchtsvoll einverstanden. Und Siang Dsï stieg auf den Hia Wu Berg, um die Zustände des Landes Dai zu sehen. Die Stimmung jenes Staates war sehr schön. Da sprach Siang Dsï: »Mein verewigter Vater hat mir sicher eine gute Lehre geben wollen.« Als er heimgekehrt war, bereitete er die Annexion von Dai vor und tat daher zuerst freundlich. Der Fürst von Dai war ein Frauenliebhaber. Er bot ihm deshalb seine Schwester zur Gemahlin an. Kaum war der Fürst von Dai einverstanden, da war die Schwester auch schon unterwegs und auf tausenderlei Weise erwies man sich gegen Dai aufmerksam.

Das Gebiet von Ma Gün brachte vorzügliche Pferde hervor und der Fürst von Dai beschenkte den Siang Dsï mit guten Pferden, bis die Pferde des ganzen Bezirkes alle waren. Da besuchte Siang Dsï den Fürsten von Dai und hielt ein Festmahl zu seinen Ehren ab. Erst ließ er die Tänzer, einige hundert Mann an der Zahl, Waffen in ihren Federwedeln verstecken. Dann bereitete er einen großen goldenen Pokal vor. Und als der Fürst von Dai voll süßen Weines war, da drehte er den Pokal um und gab ihm einen Schlag auf den Kopf, daß das Gehirn auf die Erde spritzte. Da ergriffen die Tänzer die Waffen, und im Handgemenge wurde das ganze Gefolge des Fürsten von Dai niedergemacht.[193]

Darauf bestieg er den Wagen des Fürsten von Dai, um dessen Frau, seine Schwester, abzuholen. Als diese aber, noch von ferne, die Lage der Dinge erfahren hatte, da zog sie sich eine Haarnadel heraus und erstach sich damit. Darum wird in der Familie Dschau bis auf den heutigen Tag eine scharfe Nadel als Zeichen aufbewahrt, und man spricht vom umgekehrten Pokal.

Alle diese drei Fürsten erreichten ihre Erfolge nicht mit durchaus lauteren Mitteln, aber von der Nachwelt werden sie wegen ihrer Verdienste gerühmt. Darum, wer ihre Verdienste hätte und frei wäre von ihren Fehlern, der möchte wohl die Weltherrschaft erwerben.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 190-194.
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