1. Kapitel
Vorsicht bei hoher Stellung / Schen Da

[205] Ein weiser Herrscher wird, je höher er steht, desto vorsichtiger, je mächtiger er ist, desto besorgter. Denn die Größe eines Staates beruht auf der Verkleinerung der Nachbarstaaten, jede Macht beruht auf der Besiegung der Feinde. Wer seine Feinde besiegt, verursacht vielen Groll; wer Staaten verkleinert, schafft viele Unzuträglichkeiten. Wenn man sich aber vielem Groll und vielen Unzuträglichkeiten gegenüber sieht, das ist auch für ein mächtiges Reich Grund genug zur Vorsicht und Besorgnis. Darum ist ein weiser Herrscher im Frieden der Gefahr eingedenk, im Erfolg des Mißerfolges, im Gewinn des Verlustes. In den Urkunden von Dschou heißt es1:


Als nahtest du einem tiefen Abgrund,

Als trätest du auf dünnes Eis.

Das zeigt, wie man in allen Dingen vorsichtig sein muß.


Der Tyrann Giä war ohne Ordnung, grausam, tyrannisch, eigensinnig, habgierig. Alle Welt war in Schrecken und Furcht und litt unter ihm. Die Äußerungen über ihn waren zahlreich, sie waren wirr und unwillig. Ihre Stimmung war schwer zu erkennen. Sein Minister Gan Sin stützte sich auf Schrecken und bedrückte die Lehnsfürsten, so daß es selbst die Masse des Volkes zu fühlen bekam. Die Tüchtigen und Guten waren ratlos und ungehalten. Er tötete den Lung Pang2, um die Rotte der Bösewichter zu befriedigen. Darüber wurden alle Leute verwirrt und wandten sich im Herzen von ihm ab. Niemand wagte gerade herauszureden. Alles Leben war wie von Schrecken gelähmt. Die hohen Beamten waren alle voll Schmerz, sie verließen ihre Ämter und empörten sich. Aber Giä hielt sich nur desto mehr für tüchtig, rühmte sich seiner Fehler und nannte sein Unrecht gut.

Dadurch wurde die Autorität untergraben und die Bürger kamen[205] in große Unordnung. Deshalb geriet Tang in Furcht und Zittern. Er war betrübt, daß die Welt aus den Fugen war und wollte den I Yin hinschicken, um die Verhältnisse in Hia weiter zu beobachten. Aus Furcht aber, man möge dort dem I Yin nicht trauen, schoß Tang selbst zum Schein nach I Yin. I Yin suchte bei Hia Zuflucht. Nach drei Jahren kam er zurück und berichtete in Go folgendes: »Giä ist bestrickt von der Mo Hi. Er ergötzt sich an der Wan und Tan3. Er hat kein Mitgefühl mit seinem Volk. Sein Volk hält im Herzen seine Art nicht mehr aus. Fürst und Untertanen sind mißgünstig aufeinander. In den Herzen der Untertanen häuft sich Groll. Alle sprechen:


»Gott im Himmel will nichts von uns wissen.

Die Berufung des Hauses Hia ist zu Ende.«


Tang sprach zu ihm: »Was Du mir von den Verhältnissen im weiten Hia berichtest, ist alles, wie ich es mir gedacht.« Da verschwor sich Tang mit I Yin, daß sie unter allen Umständen Hia vernichten wollten.

Darauf ging I Yin wieder hin, um das weite Land von Hia zu beobachten. Er horchte Mo Hi aus. Mo Hi sprach: »Heute Nacht hat dem Großkönig geträumt, daß im Westen eine Sonne stand und im Osten eine Sonne stand, und daß die beiden Sonnen miteinander gekämpft haben, wobei die westliche Sonne gesiegt und die östliche Sonne nicht gesiegt habe.« I Yin ging hin und sagte es Tang. Zu jener Zeit herrschte in Schang (dem Lande Tangs) Dürre. Aber Tang ließ dennoch ein Heer marschieren, um dem Eid, den er I Yin geschworen, treu zu bleiben. So ließ er sein Heer nach Osten rücken und von Westen her in das Kronland einfallen. Ehe man die Waffen kreuzte, floh Giä schon. Man verfolgte ihn bis zum großen Sand, und sein Leib wurde zerteilt und angesichts der ganzen Welt enthauptet. Wem nicht zu raten ist, dem hilft alle Reue, die hinterher kommt, nichts mehr4.

Als Tang zum Großkönig eingesetzt war, da freuten sich die Leute von Hia so sehr, als hätten sie einen lieben Vater gefunden. Der Hof veränderte nicht seinen Platz. Die Bauern änderten nicht ihre Felder, die Kaufleute nicht ihre Läden. Sie liebten Yin ebenso[206] wie früher Hia. Das heißt höchste Gerechtigkeit, das heißt höchste Ruhe, das heißt höchste Treue. Er führte den Eid, den er I Yin gegeben hatte, durch, ohne sich durch die Dürre (im eigenen Land) abhalten zu lassen. Er ehrte I Yin, und Geschlecht für Geschlecht erhielt er Opfer, solange das Haus Schang dauerte.

König Wu5 besiegte Yin und drang im Gebiet von Yin ein. Noch ehe er vom Wagen stieg, belehnte er die Nachkommen des Huang Di mit Dschun, die Nachkommen des Herren Yau mit Li, die Nachkommen des Herren Schun mit Tschen6. Als er vom Wagen gestiegen war, belehnte er die Nachkommen der Herrscher von Hia mit Ki. Nachdem er feststand, belehnte er die Nachkommen des Tang mit Sung und verlieh ihnen das Recht zum Opfer im Maulbeerwald.

Da war der König Wu in großen Sorgen, seufzte tief und befahl unter Tränen seinem Bruder Dan, dem Herzog von Dschou, die früheren Beamten der Yin-Dynastie bei ihm einzuführen und nach den zerstreuten Gliedern der Familie auszuforschen und zu fragen, was das Volk erfreue und was es wünsche. Die früheren Beamten von Yin erwiderten: »Man wünscht, daß die Regierungsart von Pan Gong wiederhergestellt7 wird.« Darauf stellte der König Wu die Regierungsart von Pan Gong wieder her. Er verteilte das Korn im Speicher bei der großen Brücke und verteilte das Geld der Hirschterrasse, um dem Volk zu zeigen, daß er keine egoistischen Absichten habe.

Er entließ die Gefangenen, verzieh den Schuldigen, verteilte die Güter, hob die Schulden auf, um so die Verlassenen und Hilflosen zu retten. Er schmückte das Grab des Bi Gan, er reinigte den Palast des Gi Dsï8, zeichnete das Tor des Schang Yung9 dadurch aus, daß wer zu Fuß vorüberging, mit kleinen, ehrerbietigen Schritten vorübereilen sollte und wer im Wagen vorbeifuhr, absteigen mußte.

Staatsmänner, mit denen er sich einmal beraten, machte er während drei Tagen zu Fürsten. Alle Räte wurden dadurch belohnt, daß ihnen die Einkünfte von 25 Familien zugewiesen wurden. Alle Staatsmänner, die bei der Regierung mitwirkten, befreite er von Abgaben.[207]

Darauf kehrte er über den Gelben Fluß zurück und wandte sich nach Westen, um im Ahnentempel Bericht zu erstatten. Er ließ die Pferde am Hua Schan und die Ochsen am Tau Lin (Pfirsichwald) los. Die Pferde sollten nicht mehr an Kriegswagen angespannt werden, und die Ochsen sollten nicht mehr als Zugtiere verwendet werden. Die Trommeln, Fahnen, Panzer, Waffen wurden mit Blut eingerieben und in den Arsenalen aufbewahrt, und bis an sein Lebensende benützte er sie nicht wieder. So war die Tugend des Königs Wu. Darum waren an der Lichthalle des Hauses Dschou die Außentüren nicht geschlossen, um der Welt zu zeigen, daß nichts verborgen werde. Denn nur wenn nichts zu verbergen ist, kann man die höchste Verborgenheit wahren.

Als König Wu10 Yin besiegte, machte er zwei Gefangene; die fragte er: »Gab es in Eurem Lande schlimme Vorzeichen?« Der eine Gefangene sprach: »Wohl gab es in unserem Lande schlimme Vorzeichen: bei Tag sah man die Sterne, und es regnete Blut. Das waren die schlimmen Vorzeichen in unserm Land.« Der andere Gefangene erwiderte: »Das sind wohl schlimme Zeichen gewesen, aber dennoch nicht die schlimmsten. In unserm Lande gab es aber äußerst schlimme Zeichen: der Sohn hörte nicht auf den Vater, der jüngere Bruder nicht auf den älteren, und die Befehle des Fürsten wurden nicht ausgeführt. Das waren die schlimmsten Zeichen.«

König Wu erhob sich von seiner Matte und verneigte sich zweimal vor ihm, nicht um den Gefangenen zu ehren, sondern um seine Worte zu ehren.

Darum heißt es im Buch der Wandlungen:


»Wenn man unter Furcht und Zittern auf den Schwanz

des Tigers tritt, wird schließlich alles gut werden11


Dschau Siang Dsï12 griff den Staat I an und nahm die beiden Städte Lau Jen und Dschung Jen. Als ein Bote kam, es ihm zu melden, saß Siang Dsï gerade beim Essen. Da schob er den Reis zur Seite und sah traurig aus. Seine Umgebung sprach: »Wenn man an einem Morgen zwei Städte unterwirft, das ist doch etwas, worüber sich jedermann freuen würde13. Ihr aber scheint betrübt. Weshalb?« Siang Dsï14 erwiderte: »Wenn der Giang und der Ho Hochwasser[208] haben, so dauert es höchstens drei Tage lang. Ein Wirbelwind und ein Platzregen dauert des Morgens nur eine Weile lang. Nun hat das Haus Dschau noch keinen großen Schatz von Tugenden angesammelt. Und dennoch haben wir an einem Morgen zwei Städte erobert, könnte das nicht vielleicht darauf hindeuten, daß uns der Untergang droht?«

Meister Kung15 hörte das und sprach: »Das Haus Dschau wird wohl aufblühen. Denn Trauer bringt Segen und Freude Untergang.« Siegen ist nicht das Schwerste. Den Sieg festhalten: darin liegt die Schwierigkeit. Ein tüchtiger Herrscher hält auf diese Weise den Sieg fest, darum reicht sein Glück bis auf spätere Geschlechter. Tsi, Tschu, Wu, Yüo: alle diese Staaten haben einmal gesiegt und dennoch haben sie sich schließlich den Untergang zugezogen; denn sie verstanden es nicht, den Sieg festzuhalten. Nur ein Herrscher, der auf rechtem Wege ist, kann seinen Sieg festhalten16.

Meister Kung17 war so stark, daß er die Riegel eines Stadttors aufheben konnte, und dennoch verschmähte er es, durch seine Kraft berühmt zu werden. Meister Mo Di war in Angriff und Verteidigung selbst einem Gung Schu Pan über und dennoch verschmähte er es, durch seine kriegerischen Leistungen berühmt zu werden. Wer sich gut aufs Festhalten des Sieges versteht, der wird sich künstlich zur Schwäche zwingen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 205-209.
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