2. Kapitel
Abwägen der Verdienste / Küan Hün

[209] Zweierlei Gewinn läßt sich nicht auf einmal erlangen. Zweierlei Treue läßt sich nicht vereinigen. Wenn man nicht auf kleinen Gewinn zu verzichten versteht, so wird man großen Gewinn nicht erlangen. Wenn man geringe Treue nicht zu entbehren versteht, so wird große Treue sich nicht nahen. Darum ist kleiner Gewinn der Verderb des großen Gewinns, kleine Treue der Räuber der großen Treue: der Weise verzichtet auf das Kleine, um das Große zu gewinnen.

Einst kämpfte der König Guang von Tschu mit dem Herzog Li[209] von Dsin auf dem Hügel Yän. Das Heer von Tschu wurde besiegt, der König Gung wurde verwundet18.

Zu Beginn der Schlacht war der Marschall Dsï Fan19 durstig gewesen und hatte zu trinken verlangt. Da brachte ihm sein Diener Schu Yang Gu ein Gefäß mit Wein ins Zelt. Dsï Fan fuhr ihn an und sprach: »Ha, nimm den Wein weg.« Schu Yang Gu sprach: »Es ist kein Wein!« Dsï Fan sprach: »Nimm ihn sofort weg!« Schu Yang Gu sprach wieder: »Es ist ja gar kein Wein!« Da nahm Dsï Fan ihn an und trank ihn. Dsï Fan war aber ein Mann, der dem Wein ergeben war, so daß, wenn er einmal anfing zu trinken, er nicht eher aufhören konnte, bis er betrunken war.

Nachdem die Schlacht zu Ende war, wollte der König Gung noch einmal angreifen und einen Kriegsrat halten. Da ließ er den Marschall Dsï Fan dazu holen. Dsï Fan ließ sich wegen einer Herzkrankheit entschuldigen. Da kam König Gung persönlich, um nach ihm zu sehen. Als er aber das Zelt betrat, roch er den Weingeruch und kehrte um, indem er sprach: »Bei der heutigen Schlacht bin selbst ich verwundet worden, aber wir alle haben uns auf die Anordnungen des Marschalls verlassen, und nun benimmt sich der Marschall so! Damit beweist er, daß er die Sicherheit des Staates Tschu gänzlich außer acht läßt und unsere Truppen ohne Erbarmen schlachten läßt. Mit dem kann ich keine Schlacht mehr liefern.« Darauf zog er sein Heer zurück. Den Marschall Dsï Fan aber ließ er enthaupten und ausstellen.

Schu Yang Gu hatte Wein gebracht, »nicht um den Dsï Fan betrunken zu machen. Er hatte es gut gemeint, aber was er angestellt hatte, hatte die Wirkung, ihn ums Leben zu bringen. Darum heißt es: Kleine Treue ist der Räuber der großen Treue.

Einst beauftragte der Herzog Hiän von Dsin den Sün Si20, vom Staate Yü freien Durchgang zu erlangen, um dessen Nachbarstaat Go angreifen zu können. Sün Si sprach: »Ich bitte den Fürsten von Yü durch Überreichung des Karfunkelsteins von Tschui Gi und eines Gespanns von Pferden aus Kü bestechen zu dürfen. Wenn ich dann das Recht des Durchzugs verlange, wird er es sicher gewähren.«[210]

Der Herzog Hiän sprach: »Der Karfunkelstein von Tschui Gi ist ein Familienschatz meines Hauses; das Viergespann der Pferde von Kü sind meine besten Rosse. Wenn er meine Kostbarkeiten annimmt und mir den freien Durchgang verweigert, was dann?«

Sün Si sprach: »O nein, wenn er uns den Durchgang verweigern will, wird er sicher unsere Geschenke nicht annehmen. Nimmt er sie aber an und gewährt uns den Durchgang, so ist es ja nur, als nähmen wir den Stein aus der inneren Schatzkammer und legten ihn in die äußere Schatzkammer, als brächten wir die Pferde aus dem inneren in den äußeren Stall. Warum wollt ihr Euch deswegen betrüben?«

Da willigte der Herzog Hiän ein und sandte den Sün Si, um das Viergespann der Pferde von Kü vor dem Palast des Fürsten von Yü als Gabe darzustellen und fügte noch den Karfunkelstein von Tschui Gi hinzu, indem er um freien Durchgang bat, um Go angreifen zu können.

Der Fürst von Yü war lüstern nach dem Schatz und den Rossen und wollte die Zusage geben. Da erhob Gung Dschï Ki Einsprache und sagte: »Man darf es nicht zugeben. Die Staaten Yü und Go verhalten sich zueinander wie Zähne und Wangen. Die Zähne sind auf die Wangen angewiesen und die Wangen auf die Zähne. Das ist der Zustand von Yü und Go. Die Alten pflegten zu sagen: Sind die Lippen fort, so frieren die Zähne. Go ist auf Yü angewiesen, um nicht zugrunde zu gehen. Yü ist aber auch auf Go angewiesen, um nicht zugrunde zu gehen. Wenn wir ihnen freien Durchzug gewähren, so geht Go am Morgen zugrunde, und Yü folgt ihm am Abend. Wie sollte man unter diesen Umständen den Durchzug erlauben können?«

Der Fürst von Yü hörte nicht auf ihn und gewährte den freien Durchzug. Sün Si griff Go an und besiegte es, dann kehrte er um und griff Yü an und besiegte es ebenfalls. Dann nahm Sün Si den Karfunkelstein und die Rosse und erstattete seinem Herrn Bericht.

Der Herzog Hiän sprach vergnügt: »Der Karfunkelstein ist noch derselbe, und auch die Rosse haben nur ein wenig längere Zähne bekommen.«[211]

Darum heißt es: Kleiner Gewinn ist der Verderb großen Gewinns.

Der Staat Dschung Schan21 besaß die Souveränität über das Gebiet von Su Yu, das Dschï Bo angreifen wollte, doch war das Land durch seine gebirgige Lage unzugänglich. Da ließ er eine große Glocke gießen und auf zwei Wagen, die nebeneinander fahren mußten, setzen, um sie dem Fürsten von Su Yu zum Geschenk zu machen. Der Fürst von Yü wollte schon die Hügel abtragen und die Täler auffüllen lassen, um die Glocke einzuholen. Da erhob Tschï Dschang Man Dschï Einsprache und sagte: »In den Liedern heißt es: Mach dir zum Grundsatz dein Reich zu festigen22. Aus welchem Grunde sollten wir das von Dschï Bo geschenkt bekommen? Dschï Bo ist ein Mensch, der habgierig und treulos ist. Er hat sicher im Sinn uns anzugreifen, aber weil kein Weg in unser Land führt, hat er die große Glocke machen lassen, die die Breite von zwei Wagen einnimmt, und sie Euch geschenkt. Wenn Ihr nun die Hügel abtragen und die Täler auffüllen laßt, um die Glocke einzuholen, so wird ihr sicher ein Heer folgen.«

Er fand kein Gehör. Nach einer Weile erhob er abermals Vorstellungen. Da sprach der Fürst: »Wenn ein großes Reich uns eine Freude machen will, da ziemt es Euch nicht, zu widerstreben.«

Tschï Dschang Man Dschï sprach: »Wenn ein Beamter nicht gewissenhaft und treu ist, so ist das eine Sünde. Wenn man aber auf seinen treuen und gewissenhaften Rat nicht hört, so hat er das Recht, seine Person in Sicherheit zu bringen.« Darauf verkürzte er die Radachsen23 an seinem Wagen und reiste ab.

Er war erst sieben Tage in We angekommen, als der Staat Su Yu vernichtet wurde.

Der Fürst ließ sich von seiner Begierde nach der Glocke überwältigen. Weil er sich von dieser Begierde nach der Glocke überwältigen ließ, darum fand der Rat, der die Ruhe von Su Yu bedeutete, kein Gehör. Es verlohnt sich, zu erforschen, was jeweils beim Anhören von guten Ratschlägen für Gedanken überwiegen. Die besten Menschen lassen immer das Wichtigere in ihren Überlegungen ausschlaggebend sein.

Tschang Guo Gün24 führte die Heere von fünf Staaten zum Angriff[212] gegen den Staat Tsi heran. Der König von Tsi befahl dem Feldherrn Dschu Dsï, den Heeren der ganzen Welt am Flusse Dsi entgegenzutreten. Der König von Tsi wollte es zu einer Schlacht treiben, darum sandte er jemand zu Dschu Dsï, der ihn beschämen und schelten sollte, mit folgendem Auftrag: »Wenn Du nicht kämpfst, so soll Dein ganzes Geschlecht ausgerottet und Deine Ahnengräber ausgegraben werden.« Das empfand Dschu Dsï bitter und wünschte darum, daß Tsi eine Niederlage erleiden möchte. Deshalb eröffnete er eine Schlacht gegen die Heere sämtlicher Staaten auf Erden. Als die Schlacht eben dabei war, heiß zu werden, ließ er das Signal zum Rückzug geben und wandte sich zur Flucht, und die Heere aller Staaten auf Erden warfen sich auf ihn. Deshalb floh Dschu Dsï mit einem einzigen Kriegswagen, ohne daß jemand wußte wohin, und es hat auch niemand mehr was von ihm gehört.

Den Rest des Heeres führte nun Da Dsï25. Der beabsichtigte, sein Heer beim Tsin-Dschou-Tore der Hauptstadt von Tsi zu sammeln. Da er aber kein Geld für Belohnungen hatte, sandte er jemand zum König, um Geld zu erbitten. Da wurde der König von Tsi zornig und sprach: »Dieser verfluchte Bube, wie könnte ich dem das Geld geben!« Darauf kam es zur Schlacht mit dem Heer von Yän. Tsi erlitt eine schwere Niederlage. Da Dsï fiel, mußte der König von Tsi nach Gü flüchten. Darauf drangen die Leute von Yän von Norden her in die Hauptstadt von Tsi ein und stritten miteinander um das Gold im schönen Schatzhaus26, das sehr viel war.

Das zeigt, wie einer, der nach kleinem Vorteil gierig ist, den großen Vorteil verliert.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 209-213.
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