4. Kapitel
Vergeltung / Bau Gong

[217] Wenn ein Land auch klein ist, es ist dennoch groß genug, um alle tüchtigen Männer auf Erden zu ernähren, und die Anzahl seiner Wagen ist groß genug, um alle tüchtigen Männer auf Erden zu fahren, und seine Güter sind reich genug, um alle tüchtigen Männer auf Erden zu ehren. Dadurch aber, daß er alle tüchtigen Männer der Welt auf seiner Seite hatte, wurde der König Wen Großkönig. Wenn man nun auch nicht immer gleich es bis zum Großkönig bringt, so ist es doch ganz leicht, auf diese Weise seinem Land den Frieden zu sichern. Das war der Grund, daß Dschau Süan Mong mit dem Leben davonkam, daß der Fürst Dschau Wen von Dschou berühmt wurde und daß Mong Tschang Gün mit den Herren von Tschu fertig wurde. Alle Männer, die sich hervortaten, entweder dadurch, daß sie große Werke vollbracht haben, oder dadurch, daß sie ihr Reich in Sicherheit gebracht haben, oder dadurch, daß sie in gefährlicher Lage sich selbst retteten, haben auf keine andere Weise als auf diese ihre Erfolge erreicht. Fähige34 Staatsmänner kann man nicht mit Gewalt sich aneignen.

Einst35 war Dschau Süan Mong36 auf dem Wege nach Güan. Da sah er unter einem knorrigen Maulbeerbaum einen Hungersterbenden, der dalag und sich nicht mehr aufrichten konnte. Dschau Süan Mong ließ halten, stieg ab und speiste ihn mit seinem Proviant.[217] Zweimal schluckte er, ehe er die Augen aufmachen konnte. Süan Mong fragte ihn: »Wie bist Du so verhungert?«

Er erwiderte: »Ich hatte ein Amt in Güan und wollte nach Hause, da ging mir unterwegs der Mundvorrat aus. Zu betteln schämte ich mich und mochte auch nichts mit Gewalt nehmen, deshalb kam ich in diese Lage.«

Darauf gab ihm Süan Mong zwei Scheiben Dörrfleisch. Er nahm es dankend an, doch ohne es zu essen. Nach dem Grunde befragt, erwiderte er: »Ich habe eine alte Mutter, der ich es mitbringen will.« Süan Mong sprach: »Iß nur alles, ich gebe Dir wieder anderes.« Und er gab ihm noch zwei Bündel Dörrfleisch und hundert Geldstücke. Dann ließ er ihn gehen.

Zwei Jahre darauf wollte der Herzog Ling von Dsin den Süan Mong töten. Er versteckte Krieger im Hause, um ihn zu überfallen und setzte dem Süan Mong Wein vor. Süan Mong aber merkte es und ging mitten im Trinkgelage hinaus. Da befahl der Herzog Ling den im Haus versteckten Kriegern ihm so schnell wie möglich zu folgen und ihn zu töten. Ein einzelner überholte alle übrigen. Als er dem Süan Mong ins Gesicht sah, sprach er: »O, steigt rasch auf Euren Wagen, ich bitte für Euch sterben zu dürfen.« Süan Mong sprach: »Wie heißt Du denn?« Jener aber kehrte um und sprach: »Was kommt auf den Namen an? Ich bin der Verhungerte unter dem krummen Maulbeerbaum.« Damit wandte er sich gegen die übrigen Verfolger und wurde im Kampf getötet. Süan Mong aber kam mit dem Leben davon.

Das ist, wie es in den Urkunden heißt: »Bei der Tugendübung kommt es nicht auf die Größe der Leistung an37.« Süan Mong hat einen Krieger freundlich behandelt und dadurch sein eigenes Leben gerettet, wie wird erst die Wirkung sein, wenn man die Menge der Untertanen freundlich behandelt?

Darum heißt es in den Liedern38:


»All die tapfern, wackern Krieger

Schirmen Fürsten gleich den Schilden«


und39


»Es drängen sich der Krieger Scharen

Um König Wen sein Reich zu wahren.«
[218]

Wie darf es darum ein Fürst versäumen, seine Mannen zu schätzen! Aber freilich ist es schwer, einen Staatsmann zu erkennen. Man muß seine Wohltaten vielen zugute kommen lassen. Wenn man sie vielen zuwendet, so übersieht man keinen.

Dschang I entstammte einer Seitenlinie des Hauses Siang We. Als er sich aufmachte, westwärts nach Tsin zu wandern, kam er durch das Gebiet des östlichen Dschou. Ein Gast redete über ihn zu dem Fürsten Dschau Wen und sprach: »Dschang I aus dem Hause We ist ein tüchtiger Staatsmann. Er ist auf der Durchreise nach Westen zum Staate Tsin, ich wünschte, daß Eure Hoheit ihn mit Auszeichnung behandelten.« Da besuchte ihn der Fürst Dschau Wen und sprach zu ihm: »Ich habe gehört, daß Ihr nach Tsin wollt. Mein Reich ist zu klein, als daß ich es wagen könnte, Euch hier zu behalten. Doch obwohl Ihr nun auf der Wanderung seid, ist es noch nicht vollkommen sicher, daß Ihr alles nach Wunsch trefft. Wenn das der Fall ist, so bitte ich Euch, mir zuliebe sofort wieder umzukehren. Ist mein Land auch klein, so bitte ich doch, es mit Euch teilen zu dürfen.«

Dschang I machte einen weiten Bogen um ihn und verneigte sich ehrerbietig vor ihm zweimal.

Dschang I reiste ab, Fürst Dschau Wen gab ihm das Geleite und sorgte für seinen Reiseunterhalt bis an die Grenze von Tsin.

Nachdem er dort eine Zeit lang geblieben war, fand der König Hui Wohlgefallen an ihm und machte ihn zu seinem Kanzler. Wen aber Dschang I am allerfreundlichsten behandelte im ganzen Reich, das war der Fürst Dschau Wen. Obwohl das Gebiet von Dschou nur ein Staat mit 1000 Kriegswagen war, ehrte er ihn mehr als Staaten mit 10000 Kriegswagen. Er veranlaßte den König Hui, ihn als Lehrer zu ehren. Bei dem Fürstentag von Fong Dse mußte der König von We ihm den Wagen lenken und der König von Han ihm zur Rechten sitzen. Sein Ruhm ist bis heute noch nicht erloschen. Das verdankte er den Bemühungen von Dschang I.

Mong Tschang Gün40 war im Besitz der Grenzfeste Süo, die vom Staate Tschu angegriffen wurde. Schun Yü Kun ging im Auftrag des Königs von Tsi als Gesandter nach Tschu. Auf der Heimreise[219] kam er durch Süo. Mong Tschang Gün ließ ihn mit höchster Auszeichnung behandeln und gab ihm selbst das Geleit bis auf den Anger vor der Stadt. Da sprach er zu Schun Yü Kun: »Die Leute von Tschu greifen Süo an; nehmt es mir daher nicht übel, wenn ich künftig nicht mehr werde aufwarten können.« Schun Yü Kun sprach nur: »Ich habe ehrfurchtsvoll Euren Befehl vernommen.«

Als er nach Tsi gekommen und seinen Bericht vollendet hatte, sprach der König: »Was habt ihr in Tschu alles gesehen?« Jener erwiderte: »Tschu ist eine starke Macht, andererseits ging Süo auch über seine Kräfte hinaus.« Der König sprach: »Was heißt das?« Er erwiderte: »Süo ging über seine Kräfte, als es für den Ahn des Königshauses von Tsi einen Ehrentempel errichten ließ. Tschu ist stark und greift Süo an, dabei wird der Ehrentempel in Süo sicher gefährdet werden. Darum sagte ich: Süo ging über seine Kräfte, und Tschu ist eine starke Macht.« Da erheiterten41 sich die Mienen des Königs und er sprach: »Ei, ein Tempel unseres Ahns ist dort, da wollen wir doch schnell Truppen aufbieten und ihm zu Hilfe eilen.« So wurde Süo gerettet. Wenn Süo in seiner Not flehentlich und demütig um Hilfe bei Tsi gebeten hätte, so hätte es auch im günstigsten Fall nicht so viel erlangt.

Darum: wer gut zu reden versteht, der richtet sich mit seinen Worten nach den Umständen. Wer die Not anderer wie seine eigene Gefahr ansieht, was bedarf der der Gewalt? Die Anwendung von Gewalt ist zu gemein. Wenn es vorkommt, daß die Worte des Redenden kein Gehör finden, so liegt der Fehler davon nicht immer nur an dem Angeredeten, sondern oft auch an dem Anredenden.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 217-220.
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