6. Kapitel
Nicht grossartig sein / Bu Guang

[223] Der Weise richtet sich in seinen Unternehmungen immer nach den Umständen. Die Umstände aber hat man nicht immer in der Hand. Darum will er nicht zu viel auf einmal. Gelingt es dann, so ist's gut, gelingt es nicht, so ist's auch gut. Denn was er auf der[223] einen Seite nicht kann, wird durch das, was er auf der andern Seite kann, ausgeglichen, wie etwa Wagen und Schiff einander abzulösen vermögen. Im Norden gibt es ein Tier, das heißt Springmaus46. Vorne gleicht es einer Maus und hinten einem Hasen. Wenn es läuft, so überschlägt es sich (wegen seiner kurzen Vorderbeine) und wenn es geht, fällt es immer um. Darum sammelt die Springmaus immer für den Hippogryph47 wohlschmeckende Kräuter und gibt sie ihm. Wenn nun die Springmaus in Not kommt, so nimmt sie der Hippogryph auf den Rücken und trägt sie fort. Da gleicht der eine durch das, was er kann, das aus, was der andere nicht kann.

Die drei Freunde Bau Schu, Guan Dschung und Schau Hu wollten miteinander den Staat Tsi in Ordnung bringen in der Meinung, daß der Prinz Giu sicher auf den Thron komme. Da sprach Schau Hu: »Wir drei sind im Staate Tsi wie die drei Beine eines Dreifußes; fehlt eines, so ist er nicht vollständig. Der Prinz Siau Be wird sicher nicht auf den Thron kommen, darum ist es am besten, wir unterstützen alle drei den Prinzen Giu.«

Guan Dschung sprach: »Nein. Die Leute hassen die Mutter des Prinzen Giu und übertragen diesen Haß auch auf den Prinzen Giu. Siau Be dagegen hat in früher Jugend seine Mutter verloren, darum bemitleiden ihn die Leute. Man kann daher noch nicht wissen, wie es geht. Es wäre wohl besser, wenn einer von uns dem Prinzen Siau Be dienen würde; denn daß einer der beiden Prinzen auf den Thron von Tsi kommt, das ist ganz sicher.« So hieß er den Bau Schu dem Prinzen Siau Be als Berater dienen, Guan Dschung und Schau Hu blieben bei dem Prinzen Giu. Der Prinz Giu war auswärts. Darum war es allerdings schwer, die Dinge mit Sicherheit zu bestimmen. Dennoch traf Guan Dschung so ziemlich das Rechte, Daß doch nicht alles gelungen ist, das war Schicksal. Was in der Menschen Macht war, das hat er getan.

Einst48 griff der Staat Tsi Lin Kiu an. Der Fürst von Dschau sandte den Kung Tsing an der Spitze eines Heeres von todesmutigen Kriegern dem Platz zu Hilfe. In der nun folgenden Schlacht erlitt Tsi eine schwere Niederlage, sein Feldherr fiel und die Beute[224] von Dschau betrug 2000 Kriegswagen und 30000 Gefallene, über deren Leichen man zwei Triumphpyramiden errichten wollte49.

Da sprach Ning Yüo zu Kung Tsing: »Schade! Es wäre besser, die Gefallenen zurückzugeben, um den Staat Tsi von innen anzugreifen50. Ich habe gehört, daß in alter Zeit die tüchtigsten Feldherrn dem verfolgenden Feind unerschütterlichen Widerstand leisteten, dem Besiegten dagegen nicht folgten, sondern sich dreißig Li weit vom Schlachtfeld zurückzogen, um dem Gegner seine Toten zu überlassen. Wenn der Gegner die Leichen bekommt, so werden dadurch seine Geldmittel erschöpft. Während die Kriegswagen und Panzer im Kampfe verloren gingen, werden die Schatzkammern durch die Beerdigungskosten geleert werden: das heißt Angriff von innen her.«

Kung Tsing sprach: »Wenn aber der Feind Tsi die Leichen nicht beerdigt, was dann?«

Ning Yüo sprach: »Kämpfen und nicht siegen ist die erste Schuld, die ein Feldherr auf sich lädt; wenn er die Leute, mit denen er auszieht, nicht wieder zurückbringt, das ist die zweite Schuld; wenn er die Leichen, die man ihm überläßt, nicht aufnehmen würde, das wäre die dritte. Die Untertanen würden um dieser dreifachen Schuld willen ihre Vorgesetzten hassen. Die Oberen vermöchten ihre Untergebenen nicht zu verwenden, die Untergebenen den Oberen nicht zu dienen. Das wäre nur ein verschärfter Angriff.«

Ning Yüo gilt mit Recht für einen Mann, der sich auf Diplomatie und Strategie in gleicher Weise verstand. Strategisch siegte er durch seine Stärke, diplomatisch siegte er durch seine Handlung. Wenn man diplomatisch ebenso wie militärisch überlegen ist, welcher Feind vermöchte einem da zu widerstehen?

Herzog Wen von Dsin wollte einst die Landesfürsten unter seinem Vorsitz vereinigen51. Da sprach Giu Fan: »Es geht nicht; denn die Welt kennt noch nicht Eure edle Gesinnung.« Der Herzog sprach: »Was ist zu tun?« Giu Fan sprach: »Der Großkönig mußte sich vor dem Aufruhr des Schu Dai nach dem Staate Dschong flüchten. Wollt Ihr ihn nicht in seine Hauptstadt zurückführen, um[225] die großen Grundsätze der Gerechtigkeit festzustellen und außerdem Euch selbst einen Namen zu machen?«

Herzog Wen sprach: »Ja, kann ich das denn?«

Giu Fan sprach: »Wenn die Sache gelingt, werden wir eine Macht schaffen, die die des Königs Wen fortsetzt und einen Erfolg uns erwerben, der dem des Königs Wu entspricht. Landgebiet und innere Sicherheit fallen uns dann zu. Gelingt es nicht, so haben wir uns wenigstens dafür eingesetzt, die Risse des zerfallenen Hauses Dschou zu bessern und dem Großkönig in einer Schwierigkeit beizustehen. Auf diese Weise erwerben wir uns den Namen eines Kulturstaates. Tragt keine Bedenken, o Fürst!«

Der Herzog Wen hörte auf ihn und befestigte mit Hilfe der Jung-Barbaren von Tsau Dschung und der Di-Barbaren von Li Tu den Großkönig in dem Erblande von Dschou. Infolge davon verlieh ihm der Großkönig das Gebiet von Nan Yang. So gelang es ihm, die Hegemonie der Fürsten zu übernehmen und die öffentliche Moral zu festigen und obendrein hatte er den Vorteil, ein großes Werk vollbracht zu haben.

Den Herzog Wen kann man mit Recht weise nennen, das verdankte er dem Rat des Giu Fan. Siebzehn Jahre lebte er in der Verbannung, vier Jahre war er in sein Reich zurückgekehrt und schon hatte er die Hegemonie errungen. Das kam davon, weil er stets auf Männer wie Giu Fan hörte.

Als Guan Dsï und Bau Schu den Herzog Huan von Tsi bei der Regierung unterstützten, da hatten die Bauern des Ostens sich anzustrengen. Als dann Guan Dsï gestorben war und Menschen wie Schu Di und I Ya ans Ruder kamen, da bewirkten sie, daß die Bürger des Reiches stets untätig ihre Zeit verbrachten, nicht ahnend, daß jene Mühen schließlich dem Staate Tsi zugute hätten kommen müssen. Eines tüchtigen Mannes Segen bewirkt, daß seine Söhne und Enkel Recht und Sitte kennen. Wer Recht und Sitte kennt, der kommt aus, selbst wenn er sich nicht auf Politik versteht.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 223-226.
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