7. Kapitel
Wichtignehmen der Benutzung der Umstände /Gui Yin

[226] Was die drei ersten Dynastien als kostbares Gut erachteten, das waren die Umstände. Wenn man die Umstände für sich hat, so hat man nicht seinesgleichen.

Yü regelte die drei Ströme und die fünf Seen. Er grub den Wassern des Berges I-Küo ein Bett, daß sie quer durch das Festland flossen und sich in das Ostmeer ergossen, weil er die Kraft des Wassers benützte.

Schun ließ sich an einem Orte nieder, da bildete sich ein Marktflecken; am zweiten Orte, da bildete sich eine Stadt; am dritten, da bildete sich eine Großstadt. Da übertrug ihm Yau das Reich, weil er die Gesinnung der Menschen zu nutzen verstand.

Tang und Wu besiegten mit 1000 Kriegswagen die Königsgeschlechter von Hia und Schang, da sie die Volksgunst zu benutzen verstanden.

Wenn man nach Tsin will, so kann man stehend hingelangen, weil es Wagen gibt Wenn man nach Yüo will, kann man sitzend hingelangen, weil es Schiffe gibt. Der Weg nach Tsin und Yüo ist weit, und doch kann man ruhig stehen und behaglich sitzen und kommt hin, wenn man die Beförderungsmittel benützt.

Der König Wu sandte einen Boten, um Yin zu beobachten. Jener kam zurück und berichtete in Ki Dschou: »Yin ist in schlimmer Verwirrung.« Der König sprach: »Wie weit geht seine Verwirrung?« Jener erwiderte: »Die Schmeichler und Betrüger haben die Ehrlichen überwunden.« Der König sprach: »Es ist noch nicht Zeit.« Jener ging wieder hin, kam zurück und berichtete: »Die Verwirrung ist noch schlimmer geworden.« Der König sprach: »Wie weit ist es gekommen?« Jener erwiderte: »Die Würdigen verlassen den Hof.« König Wu sprach: »Es ist noch nicht Zeit.« Jener ging wieder hin, kam zurück und berichtete: »Jetzt ist die Verwirrung aufs Äußerste gestiegen.« König Wu sprach: »Wie weit ist es gekommen?« Jener erwiderte: »Die Untertanen wagen nicht mehr ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu[227] geben.« Der König Wu sprach: »Ei!« und sagte es dem Tai Gung Wang an.

Tai Gung Wang erwiderte: »Wenn Schmeichler und Betrüger die Ehrlichen überwinden, das nennt man Grausamkeit. Wenn die Tüchtigen das Land verlassen, das nennt man Verderben. Wenn das Volk seiner Unzufriedenheit keinen Ausdruck mehr zu geben wagt, das nennt man Schreckensherrschaft. Da ist die Verwirrung auf dem Gipfel, es kann nicht mehr schlimmer werden.«

Deshalb wählte er 300 Kriegswagen und 3000 Tigerkämpfer52 aus und bestimmte in einer Audienz den Tag Gia Dsï als Termin, daß Dschou Sin gefangen werden sollte.

So wußte König Wu bestimmt, daß ihm niemand gewachsen sein werde. Denn wenn man die Verhältnisse zu benutzen versteht, wer vermöchte einem da zu widerstehen.

Als König Wu an den Fluß We kam, da hatte der König von Yin den Giau Go ausgesandt, um das Heer von Dschou zu erwarten. König Wu empfing ihn. Da sprach Giau Go: »Markgraf des Westens, wo geht Ihr hin? Betrüget mich nicht!«

König Wu sprach: »Ich betrüge Dich nicht. Ich gehe nach Yin.«

Giau Go sprach: »Und wann kommt Ihr?«

König Wu sprach: »Am Tage Gia Dsï werde ich auf dem Anger von Yin stehen. Ihr möget das berichten.«

Giau Go ging weg, da fiel ein großer Regen, der Tag und Nacht nicht aufhörte. Aber Wu rückte in Eilmärschen unaufhörlich vor.

Die Ratgeber im Heer machten alle Einwände und sprachen: »Die Soldaten werden krank, bitte, haltet ein.«

König Wu sprach: »Ich habe schon durch Giau Go seinem Herrn den Tag Gia Dsï als Termin melden lassen. Wenn ich nun an Gia Dsï nicht ankomme, so erscheint Giau Go als unwahr. Erscheint Giau Go als unwahr, so wird sein Herr ihn sicher töten. Ich rücke so schnell vor, um den Giau Go zu retten vor dem Tode.«

So kam König Wu tatsächlich am Tage Gia Dsï auf dem Anger von Yin an. Der König von Yin hatte sein Heer schon aufgestellt. Als er nun nach Yin kam, benützte er die Umstände, kämpfte und erlangte einen großen Sieg. Das war, weil König Wu im Rechte[228] war. Wenn nämlich der andere tut, was die Menschen wünschen, und ich tue, was die Menschen hassen, so nützt es nichts, wenn ich mein Heer vor ihm aufstelle. So traf es sich wirklich, daß König Wu erntete, ohne gesät zu haben.

Als König Wu in Yin einzog, hörte er von einem angesehenen Manne in Yin. König Wu ging hin, ihn zu besuchen und befragte ihn nach den Ursachen des Unterganges von Yin. Jener erwiderte: »Wenn Ihr, o König, sie zu wissen wünscht, so kommt bitte morgen Mittag wieder.«

König Wu ging mit dem Herzog Dan von Dschou am anderen Tage früh zur verabredeten Stunde wieder hin, aber sie fanden ihn nicht vor.

König Wu verwunderte sich. Aber der Herzog von Dschou sprach: »Ich weiß einen Grund. Er ist ein edler Mensch. Billigen kann er seinen Herrn nicht, seine Sünden Euch anzusagen, das mochte er nicht. Aber die Gründe von Yins Untergang waren, daß man Dinge ausmachte, die man nachher nicht tat, daß man Versprechen gab, die man nicht hielt. Das hat er Euch durch sein Verhalten mitgeteilt.«

Die Astronomen erforschen die Sterne und erforschen daraus die Jahreszeiten: das kommt von den Umständen. Die Zeitberechner sehen nach dem Lauf des Mondes und erkennen daraus, wann Neumond sein wird: das heißt, sie machen sich die Umstände zunutze. Yü kam zu dem Volke der Nackten. Er ging nackt hinein und kleidete sich erst an, als er wieder herauskam: er richtete sich nach den Umständen. Mo Di trat vor den König von Tschu, gekleidet in Brokat und die Mundorgel blasend: er richtete sich nach den Umständen. Kung Dsï ließ sich durch Mi Dsï Hia bei der Fürstin Li einführen53: er richtete sich nach den Umständen. Daß Tang und Wu in einer Zeit der Verwirrung lebten und dem bedrückten Volk zu Hilfe kommen konnten, indem sie ihren Ruhm ausbreiteten und ihre Werke vollendeten: das kam von den Umständen. Darum, wenn man sich nach den Umständen zu richten versteht, hat man Erfolg. Wenn man eigenwillig ist, so mißlingt es einem. Wer die Umstände für sich hat, dem ist niemand gewachsen.[229] Selbst wenn einer noch so ein großes Land und noch so viele Untertanen hätte, es hülfe ihm doch nichts.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 226-230.
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