8. Kapitel
Erforschung der Neuzeit / Tscha Gin

[230] Warum ahmen die Besten nicht den Ordnungen der alten Könige nach?

Nicht etwa, weil diese Ordnungen nicht gut gewesen wären, sondern weil man sie gar nicht nachahmen kann. Die Ordnungen der alten Könige sind durch die vergangenen Geschlechter hindurch auf uns gekommen. Manches haben andre dazu getan, manches haben andre davon genommen. Wie sollte man sie da nachahmen können? Aber selbst wenn andre nichts dazu und nichts davon getan hätten, könnte man sie doch nicht wohl nachahmen, ebensowenig wie man die Verordnungen des Auslandes nachahmen kann.

Die Ordnungen des Altertums und der Gegenwart sind verschieden im Ausdruck und getrennt durch ihre Grundsätze. So stimmen die alten Verordnungen häufig nicht mit den modernen Ausdrücken überein. Es verhält sich da wie mit Nationen von verschiedenen Sitten. Sie stimmen überein in der ihrem Tun zugrunde liegenden Absicht, aber sie sind verschieden in dem, was sie tun.

Undeutlich ausgestoßene Befehle erfreuen nicht. Wenn Schiffe und Wagen, Kleider und Hüte, Geschmack, Musik und Farben verschieden sind, so verurteilen die Menschen, die geneigt sind, sich selber immer recht zu geben, einander gegenseitig.

Die Gelehrten auf Erden sind reich an geschickten Reden und scharfen Worten. Sie verwirren alles, weil sie nicht nach dem wirklichen Tatbestand streben, sondern nur darauf aus sind, einander ins Unrecht zu setzen und zu besiegen.

Wie könnte man die Anordnungen der früheren Könige überhaupt nachahmen? Und selbst wenn man sie nachahmen könnte, so ist es doch so, daß man sie gar nicht nachahmen sollte.

Denn alle Ordnungen der früheren Könige standen in Beziehung zu ihrer Zeit. Die Zeit aber kommt nicht mit jenen Ordnungen zurück. Selbst wenn daher solche Ordnungen auf uns kommen würden,[230] so sollte man sie nicht nachahmen. Darum suche man die abgeschlossenen Ordnungen der früheren Könige auf und ahme das nach, worauf das Wesen jener Ordnungen beruht. Was ist es nun, worauf das Wesen jener Ordnungen der alten Könige beruht? Worauf die Ordnungen der früheren Könige beruhten, das war der Mensch. Aber wir sind auch Menschen. Darum, wenn man sich selbst prüft, lernt man die anderen kennen; denn das Altertum und die Neuzeit sind im Grunde dasselbe, ebenso wie die andern Menschen mit dem eigenen Ich gleichgeartet sind. Staatsmänner, die die Wahrheit verstehen, halten es für wertvoll, aus dem Nahen das Ferne, aus der Gegenwart das Altertum, aus dem was sie gesehen, das, was sie nicht gesehen, zu erkennen.

Darum, wenn man den Schatten des Sonnenzeigers im Hofe prüft, so kann man daraus den Lauf von Sonne und Mond, den Wechsel von Licht und Finsternis erkennen. Sieht man das Eis in einer Flasche, so erkennt man daraus, daß es kalt auf Erden wird und Fische und Schildkröten sich verbergen.

Wenn man einen Bissen Fleisch kostet, so erkennt man den Geschmack des ganzen Topfes und die Mischung des ganzen Kessels.

Die Leute von Tschu wollten den Staat Sung überfallen. Man sandte Leute voraus, die die Furten des Yungflusses vorher abstecken sollten. Aber der Yungfluß trat über seine Ufer. Das wußten jedoch die Leute von Tschu nicht, sondern sie gingen den Stangen nach, als sie bei Nacht den Fluß durchquerten. Dabei ertranken über tausend Mann. Die ganze Armee wurde demoralisiert und zerstörte ihre Zelte. Vorher, als die Markierungen angebracht wurden, da konnten sie zur Wegführung dienen. Nachdem aber das Wasser seinen Lauf geändert hatte und angeschwollen war, gingen die Leute von Tschu noch immer den Stangen nach, um die Furt zu finden. Das war der Grund ihres Unterganges. Wenn Herrscher der Gegenwart die Ordnungen der alten Könige nachahmen, geht es oft auch so: denn die Zeiten sind von denen, da die alten Könige ihre Ordnungen aufstellten, verschieden. Wenn man nun aber doch immer behauptet: »Das sind die Ordnungen der alten[231] Könige!« und der Meinung ist, daß durch ihre Nachahmung alles wohl regiert wäre, so ist das ein sehr trauriger Irrtum.

Wollte man bei der Regierung gar keine gesetzlichen Ordnungen zugrunde legen, so gäbe es Verwirrung, wollte man die gesetzlichen Ordnungen unverändert festhalten, so wäre das Torheit. Aber durch Torheit und Verwirrung läßt sich kein Staat erhalten. Die Welt ändert sich, die Zeit wechselt, darum ist es gehörig, daß auch die gesetzlichen Ordnungen verändert werden. Es ist wie ein guter Arzt, der den tausenderlei Veränderungen der Krankheit auch tausenderlei Arzneien entgegensetzen muß. Wenn die Krankheit sich ändert, und man wollte die Arznei nicht ändern, so würde das, was vorher den Leuten das Leben gerettet, nun zur Ursache ihres frühzeitigen Todes.

Darum: bei allen Unternehmungen muß man sich genau an die bestehenden Ordnungen halten. Aber man muß die Veränderung der Ordnungen entsprechend dem Wechsel der Zeiten vornehmen. Wenn man sich nach diesem Grundsatze richtet, so wird man in allen Dingen frei von Fehlern bleiben.

Das Volk wagte es nicht über die öffentlichen Ordnungen seine Meinung abzugeben, die Beamten müssen sich bis in den Tod unverbrüchlich an sie halten. Dagegen ist es die Aufgabe eines weisen Herrschers, entsprechend der Zeit, die Ordnungen abzuändern.

So haben die 71 Heiligen, die auf Erden regierten, alle verschiedene Ordnungen gehabt, nicht etwa, weil sie es darauf abgesehen hätten, es anders zu machen als die andern, sondern weil Zeit und Umstände verschieden waren. Darum heißt es: »Sucht man ein gutes Schwert, so sehe man darauf, daß es schneidet, nicht darauf, daß es das Mo-Ye-Schwert54 ist. Sucht man ein gutes Pferd, so sehe man darauf, daß es seine 1000 Meilen läuft, nicht darauf, daß es Ki oder Au55 heißt. Das Erreichen von Erfolg und Ruhm, das waren die 1000 Meilenpferde der Könige der alten Zeit.

Im Lande Tschu setzte ein Mann über den Giang. Da fiel sein Schwert aus dem Schiff ins Wasser. Darauf machte er an der Stelle einen Einschnitt in das Schiff und sprach: »An dieser Stelle ist mein Schwert hinuntergefallen.« Als das Schiff hielt, da tauchte[232] er an der Stelle, wo er den Einschnitt gemacht hatte, ins Wasser und suchte es.

Aber während das Schiff weitergefahren war, war das Schwert nicht mitgefahren. Ist es daher nicht töricht, das Schwert auf diese Weise zu suchen? Aber wenn man die alten Ordnungen in seinem Reich durchführen will, so ist das genau dasselbe. Die Zeiten sind inzwischen weitergeschritten, aber die Ordnungen sind nicht mitgeschritten. Würde es daher nicht schwierig sein, auf diese Weise Ordnung zu schaffen?

Es fuhr einmal ein Mann über den Giang. Da sah er einen andern Mann, der ein kleines Kind an der Hand hielt, das er eben in den Fluß werfen wollte. Das Kind aber schrie. Nun fragte er nach den Umständen. Da sprach jener: »Ach, sein Vater schon konnte gut schwimmen.«

Aber wenn der Vater gut schwimmen konnte, ist es denn damit gesagt, daß auch das Kind ihm in der Fähigkeit des Schwimmens nachschlage? Wenn man auf diese Weise vorgeht, so kommt man zu Unmöglichkeiten. Aber der Staat Tschu macht es bei seinen Regierungsmaßregeln ähnlich56.

Fußnoten

1 Dies Zitat ist nicht aus dem Schu Ging, sondern aus dem Schï Ging 2, 5. Siau Ya, Siau Min.


2 Lung Pang war ein guter Beamter des Giä.


3 Namen von Edelsteinen, aber auch von Haremsmädchen des Giä.


4 Nach der gewöhnlichen Überlieferung wurde Giä nicht getötet, sondern nur verbannt.


5 Li Gi Yüo Gi 29; Han Schï Wai Dschuan 3.


6 Über die Orte der Belehnungen weichen die Überlieferungen ab.


7 Der 15. Herrscher der Dynastie Yin, unter dem die Dynastie einen besonderen Aufschwung genommen hatte.


8 Giä Yü 8; Sun Dsï 19; Huai Nan Dsï 12.


9 Schang Yung ist ein tüchtiger Minister der Yindynastie.


10 Sin Sü 2.


11 Vgl. I Ging, Gua 10: Lü, Das Auftreten.


12 Vgl. Liä Dsï Buch VIII, 12.


13 Guo Yü 15; Huai Nan Dsï 12.


14 Vgl. Taoteking 23.


15 Anachronismus: Kung lebte vor Dschau Siang Dsï.


16 Vgl. Liä Dsï, Schuo Fu 8.


17 Die hier erwähnte Geschichte wird mit größerer Wahrscheinlichkeit von Kungs Vater erzählt; vgl. Liä Dsï 8; Huai Nan Dsï 12; Dso Dschuan Herzog Siang 10. Jahr; Mo Dsï 4.


18 Er wurde von Lü Ki ins Auge getroffen.


19 Vgl. Huai Nan Dsï 18; Han Fe Dsï 3; Schuo Yüan 10; Dso Dschuan Tschong Gung 16. Jahr.


20 Dso Dschuan Herzog Hi 2. Jahr.


21 Han Fe Dsï 8; Guo Tsche 1.


22 Ein apokryphes Lied.


23 Wegen der schmalen Wege in Su Yu war das nötig, wenn man rasch vorankommen wollte.


24 Tschang Guo Gün, »der Herr, der das Reich blühend macht«, war der Ehrentitel von Yüo I, einem Feldherrn des Königs Dschau von Yän, der die Heere der Staaten Yän, Tsin, Han, We, Dschau gegen den Staat Tsi führte. Der damalige König von Tsi war der König Min.


25 Da Dsï war ein Bürger von Tsi.


26 Me Fang heißt das Schatzhaus.


27 Das Wortspiel ist im Chinesischen zwischen Di, Göttlicher Herrscher, und Di, Nachfolger, und zwischen Wang, König, und Wang, hingehen.


28 Yü Yin Yang Hua. Wörtl.: er kann mit der lichten und dunkeln Urkraft in derselben Weise (die Dinge) wandeln.


29 Vgl. Dschuang Dsï XVII, Anm. 16.


30 D.h. in der Stellung der Untergebenen mit dem Gesicht nach Norden.


31 Vgl. oben Buch XIII, 8; Han Fe Dsï 15; Han Schï Wai Dschuan 6; Sin Sü 5.


32 Schuo Yüan 8. Über Hu Kiu Dsï Lin vgl. Liä Dsï 1, 1.


33 Vgl. Buch XIII, 5, wo jedoch statt Duan-Gan Mu, Tiän Dsï Fang genannt ist.


34 Verbessert nach Dschu Dsï Ping I.


35 Dso Dschuan Herzog Süan 2. Jahr; Schuo Yüan 6.


36 Dschau Dun, ein hoher Beamter von Dsin.


37 sc. sondern daß sie zur rechten Zeit geschieht. Die Stelle kommt in dem Buch der Urkunden nicht vor. Vgl. Mo Dsï, Ming Gui Piän.


38 Schï Ging 1,1; Dschou Nan Tu Dsï 1.


39 Schï Ging 3, 1, 1; Da Ya, Wen Wang 3.


40 Dschan Guo Tse 4.


41 Korrigiert nach Kommentar.


42 Vgl. Liä Dsï II, 21; Huai Nan Dsï 12.


43 Unnahbar für Schläge, Angriff, böse Absicht, Gleichgültigkeit.


44 Sin Sü 5. Tiän Dsan ist ein Bürger von Tsi.


45 Duan-Gan Mu hat, ohne hervorzutreten, We zur Ruhe gebracht; Tiän Dsan hat durch Beredsamkeit den König nur zur Anerkennung seiner Macht gebracht, insofern stand er hinter Duan-Gan Mu zurück.


46 Chinesisch Guo, dipus annulatus, sibirische Springmaus. Vgl. Schuo Yüan Fu En 6; Huai Nan Dsï 12.


47 Chinesisch: Kiung Kiung Gü Lü. Das erstere ist ein Greif, das zweite eine Art Maultier.


48 Vgl. Kung Dsung Dsï, B.


49 Über den Leichen der gefallenen Gegner wurde im Altertum zum Gedächtniszeichen ein hoher Grabhügel errichtet.


50 Vgl. Kung Dsung Dsï Lun Schï.


51 Dso Dschuan Herzog Hi 27. Jahr; Guo Yü 10.


52 Hu Ben, Bezeichnung für besonders ausgewählte Truppen.


53 Li Fu Jen, wohl identisch mit Nan Dsï, der Fürstin von We; vgl. Lun Yü VI, 26; vgl. Huai Nan Dsï 20.


54 Der Name des Schwertes von König Wu.


55 Namen berühmter Rosse des Altertums.


56 Die hier ausgesprochenen Grundsätze sind die der damals modernen Richtungen des Schang Yang und Sün Dsï. Der letzte Satz enthält eine Argumentatio ad hominem. Der Staat Tschu war der Hauptrivale des Staates Tsin.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 230-233.
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