6. Kapitel
Prüfung der unmessbaren Einflüsse / Tscha We

[252] Wenn Ordnung und Unordnung, Bestehen und Untergang so deutlich von einander geschieden wären wie ein hoher Berg von einem tiefen Tal, wie weißer Kalk von schwarzem Lack, so wäre keine Weisheit nötig, ein Narr wüßte auch Bescheid. Nun verhält es sich aber mit Ordnung und Unordnung, Bestehen und Untergang nicht also, sondern es ist so, daß man diese Unterschiede bald erkennen kann, bald nicht, bald sehen kann, bald nicht.

Darum: selbst wenn weise Staatsmänner und tüchtige Fürsten sich in gemeinsamer Überlegung abmühen, um das Rechte zu erlangen, so kann es noch immer geschehen, daß Vorfälle wie die des Aufstands von Guan Schu17 und Tsai Schu vorkommen und Verschwörungen wie die, als die acht Staaten der Ostbarbaren aufsässig wurden. So sind die Anfänge von Ordnung und Unordnung, Bestehen und Untergang so fein wie die feinen Härchen der Herbstpelze. Wenn man diese Herbsthärchen zu beurteilen versteht, so kommen in großen Dingen keine Mißgriffe vor.

Im Staate Lu18 bestand der Brauch, daß wenn Staatsangehörige als Sklaven oder Sklavinnen in fremden Ländern dienten, diejenigen, die sie loskauften, das Geld dafür sich von der Staatskasse[252] ersetzen lassen konnten. Dsï Gung kaufte einst Bürger von Lu aus fremden Diensten los, aber verzichtete auf den Ersatz des aufgewandten Geldes. Meister Kung sprach: »Das hast du falsch gemacht! Die Folge wird nun die sein, daß künftig die Bürger von Lu (auch wenn sie Gelegenheit hätten) ihre Mitbürger nicht mehr loskaufen. Hättest du das Geld genommen, so wäre das kein Verstoß gegen den Anstand gewesen. Da du das dir zustehende Geld nicht nahmst, bist du schuld, wenn künftig keine Sklaven mehr losgekauft werden.« Dsï Lu rettete einmal jemand vor dem Ertrinken. Der Gerettete schenkte ihm zum Dank ein Rind. Dsï Lu nahm es an. Da sprach Meister Kung: »Künftig werden es sich die Leute von Lu angelegen sein lassen, Ertrinkende zu retten!«

Meister Kung vermochte aus den kleinsten Anfängen, deren Wirkungen in weiter Ferne vorauszusagen.

In Tschu lag eine Grenzstadt mit Namen Be Liang. Ein Mädchen aus dieser Stadt sammelte einst mit einem Mädchen aus einer Grenzstadt von Wu zusammen Maulbeerblätter auf dem Grenzgebiet. Im Scherz wurde das Mädchen aus Be Liang verletzt. Da nahmen die Leute von Be Liang ihr verletztes Kind und machten den Eltern des Mädchens von Wu Vorwürfe. Die Leute von Wu empfingen sie nicht höflich genug, da wurden die Leute von Tschu böse, schlugen sie tot und ließen sie liegen. Nun gingen die Leute von Wu hin, um Rache zu nehmen und schlachteten die ganze Familie des Mädchens. Da wurde der Herr von Be Liang böse und sprach: »Was? Die Leute von Wu wagen meine Stadt anzugreifen?« Er bot Soldaten auf, griff die feindliche Stadt an und tötete sämtliche Einwohner, alt und jung.

König I Mo von Wu hörte die Sache, er wurde böse, bot Soldaten auf, brach in die Grenzstadt von Tschu ein, eroberte sie und machte sie dem Erdboden gleich; dann zog er ab. Infolge davon kam es zu einer heftigen Feindschaft zwischen Wu und Tschu.

Der Prinz Guang von Wu führte ein Heer gegen Tschu und es kam zur Schlacht mit Tschu bei Gi Fu. Er brachte den Leuten von Tschu eine schwere Niederlage bei und nahm ihre drei Feldherrn Pan Dsï Tschen, Siau We Dsï und Tschen Hiä Miä gefangen. Darauf[253] wandte er sich gegen Ying, die Hauptstadt von Tschu, und nahm die Gattin des Königs Ping von Tschu gefangen mit nach Hause. Das ist der Hergang der Schlacht bei Gi Fu19.

Die Weisesten verstehen die Zukunft, die weniger Weisen die Vergangenheit, die noch weniger Weisen die Gegenwart. Wer aber alles nicht versteht, bringt sein Reich in Gefahr und sich selbst in Not.

Im Buch der kindlichen Ehrfurcht heißt es: »Wer hoch ist, ohne sich in Gefahr zu bringen, vermag dauernd sein Ansehen zu wahren. Wer reich ist, ohne verschwenderisch zu sein, vermag dauernd seinen Reichtum zu wahren. Wem Glück und Ansehen nicht von der Seite weichen, nur der vermag die sozialen Ordnungen in seinem Lande zu wahren und seinem Volk den Frieden zu geben.« Das aber verstand der Staat Tschu nicht.

Der Prinz Gui Schong von Dschong20 griff an der Spitze eines Heeres den Staat Sung an. Hua Yüan aus Sung trat ihm an der Spitze eines Heeres bei Da Gi entgegen. Sein Wagenlenker war Yang Dschen. Am Tage vor der Schlacht ließ Hua Yüan Schafe schlachten und speiste damit seine Leute, nur Yang Dschen bekam nichts davon ab.

Am andern Tage sprach der Wagenlenker während der Schlacht zornig zu Hua Yüan: »Gestern hattet Ihr die Dinge in der Hand, heute habe ich die Dinge in der Hand.« Mit diesen Worten trieb er die Pferde mitten in das Heer von Dschong hinein. Das Heer von Sung erlitt eine schwere Niederlage. Hua Yüan wurde gefangen.

Wenn die Maschinerie einer Armbrust auch nur durch ein Körnchen gestört ist, so geht sie nicht los. Eine Schlacht ist eine große Maschinerie, wenn man nun seine Soldaten vorher speist und dabei den eigenen Wagenlenker vergißt und infolge davon besiegt und gefangen wird, so geschieht es einem ganz recht.

Darum muß man vor einer Schlacht erst alles genau überlegen und alles vorbereiten. Man muß die Kräfte des Feindes ebenso wie die eigenen kennen, dann erst darf man es wagen.

Die Familie Gi21 aus Lu veranstaltete einst mit der Familie von[254] Gou einen Hahnenkampf. Die Familie Gou versah ihren Hahn mit einer Schutzkappe; darauf versah die Familie Gi den ihrigen mit Sporen. Dennoch siegte der Hahn der Familie Gi nicht. Da wurde Freiherr Ping von Gi böse, und schlug den Palast der Familie Gou zu seinen eigenen Gebäuden. Da wurde Dschau Bo von Gou böse und verleumdete jenen beim Herzog Dschau von Lu und sprach: »Beim großen Opfer im Tempel Eures verewigten Vaters Siang waren im ganzen nur zwei Reihen von Tänzern anwesend. Die übrigen waren alle bei der Familie Gi angestellt. Schon lange ist die Familie Gi auf Abwegen und verachtet ihren Herrn, wenn man sie nicht streng bestraft, so kommt die Sicherheit des Staates in Gefahr.«

Der Herzog Dschau wurde böse und ohne den Fall näher zu untersuchen, beauftragte er den Dschau Bo von Gou, an der Spitze eines Heeres die Familie Gi anzugreifen. Und er drang wirklich in deren Palast ein.

Da berieten die beiden Schwesterfamilien von Gi, Dschung Sun und Schu Sun, miteinander und sprachen: »Ohne das Haus Gi werden unsere Familien in absehbarer Zeit zugrunde gehen.«

Darauf rüsteten sie Bewaffnete und zogen vor jenen Palast, den sie vorn Nordwesttor aus betraten. Die drei Familien schlossen darauf einen gemeinsamen Bund. Dschau Bo von Gou unterlag und kam im Kampfe um. Darauf geriet der Herzog Dschau in Furcht und entfloh nach Tsi und starb schließlich in Gan Hou, einer Stadt in Dsin. Wenn dem Herzog Dschau von Lu etwas, das er hörte, zu Kopfe stieg, so fragte er gar nichts mehr danach, ob es berechtigt war oder nicht. Herzog Dschau verzweifelte daran, mit der Macht von Lu der Familie Gi siegreich entgegentreten zu können und wußte dabei noch nicht einmal, daß die Familien Dschung und Schu infolge ihrer Befürchtungen mit Gi sich vereinigen würden, um Schwierigkeit zu machen. Dadurch bewies er, daß er sich nicht auf die Gedanken der Menschen verstand. Wer sich aber nicht auf die Gedanken der Menschen versteht, der mag noch so hoch stehen: was nützt es ihm zu seiner Sicherheit!

Wenn man befürchten mußte, mit der Landesmacht von ganz[255] Lu nicht einmal der einen Familie von Gi Herr zu werden, was sollte da erst daraus werden, wenn man sich der Feindschaft von drei ungefähr gleich mächtigen Häusern aussetzen wollte. So falsch waren die gemeinsam angestellten Berechnungen.

Aber nicht nur um die Familien Dschung und Schu handelte es sich, vielmehr waren alle Leute in Lu voll Befürchtungen. Diese allgemeinen Befürchtungen bedeuteten, daß man in Wirklichkeit das ganze Volk zum Feind hatte. Da war es noch das größte Glück, daß es dem Herzog Dschau gelang, bis Gan Hou zu kommen und dort zu sterben.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 252-256.
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