5. Kapitel
Kenntnis des richtigen Verhaltens / Dschï Du

[276] Ein weiser Fürst ist nicht der, der alles im einzelnen betrachten will, sondern der sich darüber klar ist, was ein Fürst besitzen muß. Ein Fürst, der sich aufs Herrschen versteht, ist nicht einer, der alles selber ausführen will, sondern einer, der die Beamten richtig zu benützen versteht. Weil er die Beamten richtig zu benützen versteht, darum erspart er sich Mühe, und der Staat ist in Ordnung. Weil er sich klar ist über das, was ein Fürst besitzen muß, darum ist seine Macht unbeschränkt, und die Ränke werden verhindert. Weil die Ränke verhindert werden, so kommen die Schwätzer nicht herbei, und alle Zustände sind klar. Die inneren Zustände bedürfen nicht der Ausschmückung und die Verhältnisse zeigen sich in ihrer wirklichen Gestalt. Das heißt höchste Ordnung.

In Zeiten höchster Ordnung lieben die Leute nicht eitle Reden und leere Worte, sie lieben nicht falsche Lehren und umlaufende Theorien. Die Tüchtigen und Untauglichen zeigen sich alle ihrem wahren Wesen nach, sie führen aus, was sie auf dem Herzen haben und verzieren ihre ursprüngliche Art nicht. Sie dienen ihren Oberen in Einfalt und Arglosigkeit. Wenn dies der Fall ist, so lassen sich Geschickte und Ungeschickte, Toren und Weise, Mutige und Ängstliche leicht leiten, so entspricht jeder seiner Funktion. Wer ein Amt hat, der wartet seines Amtes, ohne daß er auf Gerede hört; wer noch nicht im Amt ist, von dem verlangt man wirkliche Leistungen, um seine Worte zu belegen. Wenn über diese beiden Dinge feste Grundsätze herrschen, so dringen nutzlose[276] Worte gar nicht bis an den Hof. Der Fürst richtet sich nach den Verhältnissen der Natur und tut ab alle Vorliebe und Abneigung. Er macht die Demut zum Grundsatz und nennt das Anhören nützlicher Reden Audienzen.

Die Audienzen bezwecken eine gemeinsame Überlegung der Grundsätze der Vernunft und des Rechts, ein gemeinsames Festsetzen der Gesetze und Ordnungen. Wenn der Fürst sich nach den Verhältnissen der Natur richtet, so kommen Staatsmänner mit Vernunft und Recht herbei und die Anwendung von Gesetzen und Ordnungen wird festgesetzt, während die unruhigen Köpfe und Störenfriede sich zurückziehen und die Habgierigen und Lügner fernbleiben. Darum ist der wichtigste Gesichtspunkt für die Ordnung der Welt die Beseitigung der Ränkevollen. Der wichtigste Gesichtspunkt für die Beseitigung der Ränkevollen ist die Ordnung der Beamten. Der wichtigste Gesichtspunkt für die Ordnung der Beamten ist die Ordnung des rechten Weges. Der wichtigste Gesichtspunkt für die Ordnung des rechten Weges besteht in der Erkenntnis des Natürlichen. So sagt der Meister Hua Dsï18: »Gründlich, nicht vielerlei, ernstlich das Eine festhalten, was not ist.« Die Besserung der Natur ist wahre Freude. Alle Menschen sollen nicht allgemeine Bildung haben, sondern es beschränke sich jeder auf die Pflege einer einzigen Fähigkeit. Wenn man mit Aufbieten seiner ganzen Fähigkeit etwas fertiggebracht hat, so kommen auch die Barbaren ringsum zum Frieden. Das ist ein himmlischer Schatz, der nicht allgemein und doch allgemein ist. Dadurch ragte Schen Nung hervor, und Yau und Schun glänzten dadurch.

Wenn ein Fürst sich selber für weise und die andern für töricht hält, wenn er sich selbst für gescheit und die andern für dumm hält, so werden die Törichten und Dummen sich an ihn machen, und er wird sie in seiner Weisheit und Klugheit belehren. Wenn er aber viele Belehrungen erteilt, so werden sich die, die um Rat bitten, noch stärker vermehren. Wenn aber die, die um Rat bitten, sich immer noch vermehren, so wird es schließlich gar niemanden mehr geben, der nicht um Rat bittet. Ein Fürst mag noch so klug und weise sein, so ist er doch nicht allwissend. Wenn einer[277] aber ohne allwissend zu sein, die unendlichen Fragen seiner Umgebung beantworten soll, so müßte er schließlich einmal ans Ende seiner Weisheit kom men. Wenn aber ein Herrscher häufig seinen Untergebenen gegenüber sich Blößen gibt und seine Blößen nicht einmal bemerkt, so steigert sich das Übel bis zur Selbstverblendung. Ein solcher Herrscher ist doppelt umnachtet und unfähig sein Reich zu erhalten19. Darum richtet sich ein vernünftiger Herrscher nach den vorhandenen Gepflogenheiten und sucht nichts selber zu machen. Er beauftragt, aber gibt keine Einzelanweisungen. Er meidet das viele Sinnen und die vielen Ideen, er ist still und bescheiden und wartet auf Worte, die nicht großsprecherisch sind, auf Handlungen, die nicht anmaßend sind. Er prüft die Benennungen und achtet auf die ihnen entsprechenden Tatsachen und kümmert sich um die Berichte von den zuständigen Beamten. Seine Art ist es, nichts zu wissen, sein Schatz besteht darin, immer zu fragen: Was nun?

Yau sprach: »Was muß ich tun, um alles Land, wohin die Sonne und der Mond scheinen, unserem Einfluß zugänglich zu machen?«

Schun sprach: »Was muß ich tun, um alles Land noch jenseits der vier Steppen zu unterwerfen?«

Yü sprach: »Was muß ich tun, um das ferne Land Tsing Be zu ordnen und das Land Giu Yang zu bekehren und jene Gegenden, wo alles Seltsame sich findet!«

Zur Zeit des Freiherrn Dschau Siang Dsï20 war Jen Dong Kommandant von Dschung Mou. Er gab dem Dschau Siang Dsï folgenden Rat: »In Dschung Mou gibt es einen Mann, namens Dschan Sü Gi, ich bitte, ihn empfangen zu wollen.«

Siang Dsï empfing ihn und machte ihn zum hohen Rat zweiter Klasse. Der Kanzler sprach: »Der Genannte ist Euch doch erst vom Hörensagen bekannt und Ihr habt ihn noch nicht persönlich nachgeprüft. Ist es denn eine so geringe Sache, Rat zweiter Klasse zu werden? Das ist nicht der Brauch in unserem Staate Dsin.«

Siang Dsï sprach: »Als ich den Jen Dong anstellte, habe ich ihn mir persönlich angesehen und ihn geprüft, wenn ich nun die Leute, die Jen Dong mir empfiehlt, alle auch noch persönlich nachprüfen wollte, so würde ich mit solchen Nachprüfungen nicht mehr fertig[278] werden. Darum hab ich ihn zum Rat zweiter Klasse gemacht, ohne weiter nachzuprüfen.«

Siang Dsï stellte seine Leute an nach dem Grundsatz »Was muß ich tun?« Darum gaben sich die besten Männer für ihn alle Mühe. Das Leidwesen der Fürsten besteht darin, daß sie zwar Leute beauftragen, aber ihre Ratschläge nicht annehmen, oder daß sie zwar ihre Ratschläge annehmen, aber mit Leuten, die nichts davon verstehen, sich darüber in Überlegungen einlassen. Wer über einen Fluß will, muß sich einem Schiff anvertrauen, wer in die Ferne will, muß sich einem guten Pferde anvertrauen, wer die Herrschaft auf Erden will, muß sich weisen Ratgebern anvertrauen. Männer wie I Yin, Bai Li Hi, Lü Schang und Guan I Wu21, das waren die Schiffe und Pferde derer, die die Herrschaft auf Erden in die Hände bekamen. Daß diese Herrscher ihre nächsten Verwandten nicht angestellt, war keine Rücksichtslosigkeit. Daß sie andrerseits einen Koch, einen Angler, einen Feind und einen Gefangenen betraut, war keine Voreingenommenheit, sondern es war der notwendige Weg, Staat und Gesellschaft zu festigen und große Werke zu vollbringen. Es ist genau so wie ein erfahrener Baumeister, wenn er ein Haus baut, die Größe ausrechnet und danach das Holz auszusuchen versteht, und nach der Abschätzung der Arbeit die Zahl der Arbeiter zu bemessen weiß.

So waren Siau Tschen22 und Lü Schang kaum in einflußreicher Stellung, als die Welt auch schon die Herren von Yin und Dschou als Weltherrscher anerkannte; kaum war ein Guan I Wu und Bai Li Hi in maßgebender Stellung, als auch schon die Welt die Fürsten von Tsi und Tsin als Oberherrn anerkannte. Es geht da nicht anders als mit dem Schiff und dem Pferd.

Aber nicht nur die Herrscher, die es zum König oder Oberherrn brachten, hatten ihre Leute, die ihnen halfen, auch die Herrscher, die ihren Staat zugrunde richteten, hatten ebenfalls ihre Leute dazu. Ein Giä hatte den Yang Sin23, ein Dschou Sin hatte den O Lai, ein Fürst von Sung hatte den Tang Yang, der Fürst von Tsi hatte den Su Tsin und die Welt wußte, das jene Staaten zugrunde gehen würden. Wenn man ohne den entsprechenden Mann das[279] entsprechende Werk zustande bringen will, das ist, wie wenn man um die Sommersonnenwende die Nacht lang haben wollte oder wenn man einen Fisch schießen wollte und dabei nach dem Himmel zielte und dann doch hoffte, ihn zu treffen. Selbst einem Schun und Yü wäre dieser Versuch wohl mißlungen, wieviel mehr einem gewöhnlichen Könige.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 276-280.
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