1. Kapitel
Betrachtung über die Wahrung der Herrschaft /Schi Gün

[346] Es liegt in der Natur des Menschen, daß er sich mit seinen Nägeln und Zähnen nicht genug verteidigen kann, daß er durch seine Haut nicht genügend gegen Hitze und Kälte geschützt ist, daß seine Sehnen und Knochen nicht stark genug sind, damit er den Nutzen sich zueigne und den Schaden meide, daß sein Wagemut nicht groß genug ist, alle Angriffe der Wildheit und Rohheit zurückzuweisen. Und doch ist er imstande, alle Dinge sich untertan zu machen, die Tiere und Vögel zu beherrschen und selbst die listigen Schlangen zum Gehorsam zu bringen und zu bewirken, daß Kälte und Hitze, Dürre und Nässe ihm nicht schaden können: kommt das alles nicht allein davon her, daß er Vorbereitungen treffen kann und gesellschaftlich zusammenlebt? Die Gesellschaft kann sich zusammentun, weil das zum gegenseitigen Vorteil dient. Daß aus der Vergesellschaftung sich dieser Vorteil er gibt, kommt von der Einrichtung des Herrschers her. Ist ein Herrscher vorhanden, so bringt die Vergesellschaftung Vorteil und die menschlichen Vorbereitungen können vollständig gemacht werden.

In der Urzeit gab es wohl keine Fürsten. Die Menschen lebten in Haufen zusammen und vereinigten sich zu Herden. Jeder kannte seine Mutter, aber nicht seinen Vater. Die Trennung der Verwandtschaft, der Brüder, der Eheleute, der Geschlechter waren noch nicht vorhanden, noch keine Unterscheidung des Standes und Alters war da, keine Sitten des Tuns und Lassens, der Nachgiebigkeit und Geduld kannte man, keine Annehmlichkeiten der Kleider, Schuhe, Gürtel, Wohnung und Nahrungsvorsorge gab es, keine Vorkehrungen an Geräten, Schiffen, Wagen, Mauern und Dämmen waren bekannt. Diese Übel kamen davon her, daß es noch keine Fürsten[346] gab. Darum darf man die Pflicht zwischen Fürsten und Untertanen nicht unbeachtet lassen.

Seit uralter Zeit gab es viele Staaten, die zugrunde gingen. Aber doch wurden die Fürsten nicht abgeschafft, weil sie für die ganze Welt von Vorteil waren; darum setzte man solche ab, die keine rechten Fürsten waren, und setzte solche ein, die die Herrschaft ausüben konnten. Was bringt die Herrschaft? Sie bringt Vorteil und zeigt diesen Vorteil den Menschen.

Östlich von Fe Bin, im Gebiet der mongolischen Barbaren, in Da Giä, Ling Yü, dort wo in Lu Yä, Yau Schan und Yang Dau die Riesen wohnen, gibt es viele Völker ohne Fürsten. Im Süden des Yang- und Han-Flusses, im Gebiet der 100 Yüo-Staaten, in Bi Kai, in Fu Fong, Yü Mi, in den Staaten der Bo Lou, Yang Yü, Huan Dou gibt es viele Völker ohne Fürsten. Im Westen im Gebiet der Di, Giang, Hu Tang, Li Schui, unter den Leuten von Pu, von Yä, am Fluß der Leute von Piän und Dso, im Gebiet der Dschou Jen, Sung Lung, Tu Jen gibt es viele Gebiete ohne Fürsten. Im Norden des Passes der Wildgänse, wo die Adler und Geier hausen, im Lande der Hü Kui, im Lande der Tau Tiä und Kiung Ki, im Gebiet von Schu Ni und Dan Örl sind viele Stämme ohne Fürsten. Diese Stämme in allen Himmelsgegenden, die keine Fürsten haben, sind wie die Hirsche und Tiere, die Jungen lassen sich von den Alten bedienen, die Alten fürchten die Starken, die Kräftigen gelten für tüchtig, die Stolzen und Hochmütigen sind geehrt, Tag und Nacht schädigen sie einander, unauflöslich geht der Kampf ohne Pause fort, bis sie sich gegenseitig aufgerieben haben.

Die Heiligen haben dieses Elend tief durchschaut, darum haben sie für die Welt lange nachgedacht und als bestes fanden sie, einen Himmelssohn einzusetzen. Indem sie sich lange über die beste Form der Regierung eines Volkes besannen, fanden sie als beste Auskunft die Einsetzung eines Fürsten. Sie setzten Fürsten ein: nicht aus Begünstigung der Fürsten, sie setzten den Himmelssohn ein: nicht aus Begünstigung des Himmelssohnes, sie setzten Beamte ein: nicht aus Begünstigung der Beamten. Erst als die Tugend verfiel und die Welt in Unordnung kam, bediente sich der[347] Himmelssohn der Welt zu seinem Vorteil, die Fürsten ihrer Staaten zu ihrem Vorteil, die Beamten ihrer Ämter zu ihrem Vorteil. Das war der Grund für das wechselnde Blühen und Untergehen der Staaten, und für den beständigen Ausbruch von Aufruhr und Unruhen. Darum machen treue Beamte und unbestechliche Staatsmänner es sich zur Aufgabe, nach innen die Fehler ihres Fürsten aufzudecken und nach außenhin bereit zu sein auf ihrem Posten zu sterben.

Yü Yang wollte den Dschau Siang Dsï töten, deshalb schnitt er sich Bart und Augenbrauen ab und verstümmelte sich selbst, um sein Äußeres unkenntlich zu machen. Er verkleidete sich in einen Bettler und kam zu seiner Frau um zu betteln. Seine Frau sprach als sie ihn sah: »Er gleicht meinem Manne ganz und gar nicht in Gestalt und Aussehen, aber seine Stimme gleicht meinem Manne aufs Haar.« Da schluckte er Kohlen, um seine Stimme zu verändern. Sein Freund, als er ihn sah, sprach: »Was du beabsichtigst ist schwer und du wirst es nicht vollbringen. Was deine Absicht betrifft, so ist sie zu loben, aber deine Klugheit ist nicht weit her. Wenn du mit deinen Fähigkeiten dich bei Dschau Siang Dsï zum Dienste melden würdest, würde Dschau Siang Dsï sicher dir nahe kommen und wenn du ihm erst nahe kommen kannst, so ist deine Absicht leicht auszuführen und dein Werk läßt sich sicher vollbringen.« Yü Yang lachte und erwiderte: »Das heißt um des alten Vertrauten willen den neuen Vertrauten verraten, wegen des alten Herrn dem neuen Herrn Unrecht tun. Es gibt keine schlimmere Verwirrung der Pflichten zwischen Herrn und Knecht als das, und so würde ich den Sinn meines Tuns verlieren. Warum ich das tue, was ich tue, ist die Pflicht zwischen Herrn und Knecht ans Licht zu bringen, nicht mir meine Tat zu erleichtern.«

Dschu Li Schu diente dem Herzog Au von Gü1. Er war der Meinung, daß er verkannt werde und verließ ihn. Er wohnte am Meeresstrand. Im Sommer lebte er von Wassernüssen, im Winter lebte er von Eicheln. Einst geriet der Herzog Au von Gü in Not. Da verabschiedete sich Dschu Li Schu von seinem Freund um hinzugehen und für jenen zu sterben. Sein Freund sprach: »Du hieltest[348] dich für verkannt, darum gingst du weg, nun willst du doch wieder hin, um für ihn zu sterben, da wäre ja kein Unterschied zwischen denen, die ihre Diener kennen, und denen, die sie verkennen.« Dschu Li Schu sprach: »Nein! Ich hielt mich für verkannt, darum verließ ich ihn. Wenn er nun sterben muß und ich gehe nicht mit ihm in den Tod, dann hätte er mich ja seinerzeit richtig erkannt. Ich werde für ihn sterben, um die Fürsten späterer Zeiten zu beschämen, die ihre Diener verkennen.« Auf diese Weise wollte er den Wandel der Fürsten anfeuern und das Gewissen der Herren schärfen. Wenn ihr Wandel angefeuert und ihr Gewissen geschärft wird, so werden sie vielleicht imstande sein, ihre treuen Diener zu erkennen. Wenn die treuen Diener erkannt werden, so ist die Herrschaft gefestigt.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 346-349.
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