3. Kapitel
Erkenntnis der Amtspflichten / Dschï Fen

[351] Männer von sittlicher Klarheit kennen die Pflichttreue bis zum Tod. Wer die Pflichttreue bis zum Tod kennt, der wird nicht mehr verwirrt werden von Gewinn und Schaden, Leben oder Untergang. So war Yän Dsï von Tsui Schu durch einen Eid gebunden und hat seine Pflicht doch nicht versäumt3. Gi Dsï von Yän Ling wollten die Leute von Wu zum König machen, aber er wollte es nicht. Sun Schu Au wurde dreimal zum Kanzler ernannt und zeigte keine Freude darüber. Dreimal verlor er das Amt des Kanzlers und war darüber nicht traurig. Sie alle besaßen sittliche Klarheit. Wenn man sittliche Klarheit besitzt, so können einen die Außendinge nicht verwirren.

In Tschu lebte ein Mann4 namens Tsï Fe, der ein kostbares Schwert in Gan Sui erlangte. Bei der Rückkehr mußte er über den Giang. Als sie in die Mitte gekommen, kamen zwei Flußdrachen5 und nahmen das Schiff zwischen sich. Tsï Fe sprach zu den Schiffsleuten: »Habt Ihr schon gesehen, daß man mit dem Leben davonkommt, wenn zwei Drachen das Schiff umgeben?« Die Schiffsleute sprachen: »Das haben wir noch nicht gesehen.« Tsï Fe schwang die Arme und zog sich aus, nahm sein Schwert und sprach: »Das sind zwei Stücke faulen Fleisches und verweste Knochen im Fluß. Wie sollte ich so an meinem Leben hängen, daß ich ihnen mein Schwert preisgebe, um mich zu retten?« Damit stürzte er sich in den Fluß und tötete die Drachen. Nachdem er sie getötet hatte, stieg er wieder ins Schiff und alle Leute im Schiff hatten ihm ihr Leben zu verdanken.

Der König von Tschu hörte es und gab ihm ein Amt und Adelstitel. Meister Kung sprach: »Gut wahrlich! Die Meinung des Tsï Fe war es, nicht um der beiden Stücke faulen Fleisches und verwester Knochen willen sein Schwert zu opfern.«

Als Yü einst nach Süden ging auf eine Besichtigungsreise, kam er über den Giang. Da kam ein gelber Drache und nahm das Schiff auf den Rücken. Die Leute im Schiffe wechselten die Farbe und waren fassungslos. Yü blickte auf zum Himmel und sprach seufzend:[352] »Ich habe meinen Beruf vom Himmel bekommen. Ich tue, was in meiner Kraft steht, um mein Volk zu ernähren. Leben und Tod stehen in Gottes Hand, was sollte ich mich vor einem Drachen fürchten!« Da ließ der Drache die Ohren hängen, senkte den Schwanz und entfernte sich. So verstand Yü die Pflichten bis zum Tod und die Wege zu Nutzen und Schaden. Alle Menschen entwickeln sich aus den Kräften des Lichten und Dunkeln. Das Lichte und Dunkle ist vom Himmel geschaffen. In der Natur gibt es freilich Niedergang, Mangel, Verlust und Rückgang, aber es gibt auch Blüte, Fülle, Gewinn und Fortschritt. So gibt es im Menschenleben Verlegenheit, Ratlosigkeit, Demütigung und Mangel, aber es gibt auch Fülle, Völligkeit, Erfolg und Vollendung. Das alles ist das Gesetz, nach dem der Himmel alle Wesen umfaßt. Diesem Gesetz kann man nicht entgehen. Darum haben die Heiligen des Altertums nicht aus Besorgnis um ihr Leben ihr höheres Leben geopfert, sondern sie waren fröhlich auf alles gefaßt.

Yän Dsï mußte dem Tsui Schu einen Eid schwören. Tsui Schu verlangte, daß er schwören sollte: »Wenn ich nicht zu Tsui halte, sondern zu der herzoglichen Familie, so soll Unheil mich dafür treffen.« Yän Dsï bückte sich und trank vom Opferblut, dann blickte er auf und rief zum Himmel: »Wenn ich nicht zu der herzoglichen Familie, sondern zu Tsui halte, so soll Unheil mich dafür treffen.« Tsui Schu war unzufrieden. Er richtete seine Waffe nach jenes Brust und erfaßte mit dem Haken seiner Hellebarde Yän Dsï's Hals und sprach zu ihm; »Wenn du die Worte deines Schwures änderst, so werde ich den Staat Tsi mit dir teilen. Wenn du deine Worte nicht änderst, so ist's um dich geschehen!«

Yän Dsï sprach: »Herr Tsui, kennst du denn nicht das Lied:


Üppig rankt der Schlingen Ranke,

Rankt an Baum und Zweigen hoch,

Gütiger und milder Herrscher

Sucht das Glück ohn falsche Mittel6.


Denkst du etwa, ich solle schlechte Mittel gebrauchen, um das Glück zu finden?«

Da sprach Tsui Schu: »Du bist ein Meister, dich darf ich nicht[353] töten.« Darauf zog er die Waffe zurück und ging weg. Yän Dsï ergriff die Wagenschnur und stieg auf. Sein Wagenlenker wollte eilig fliehen. Yän Dsï faßte ihn bei der Hand und sprach: »Sachte, du mußt die Regeln nicht außer acht lassen! Fährst du rasch, so rettet das uns nicht unter allen Umständen das Leben. Fährst du sachte, so sind wir nicht unter allen Umständen verloren. Der Hirsch lebt auf dem Berg, aber sein Schicksal hängt in der Küche. So hängt auch mein Schicksal irgendwo.«

Von Yän Dsï kann man sagen, daß er das Schicksal verstand. Schicksal ist das, was so ist, wie es ist, ohne daß man sagen könnte, warum, und das woran alle Klugheit und Überlegung menschlicher Handlungen nichts ändern kann. Darum ist das Schicksal etwas, das man nicht dadurch gewinnt, daß man ihm nachläuft, das man aber auch nicht dadurch vermeiden kann, daß man ihm davon geht. Wirkliche Staatsmänner wissen, daß es sich so verhält, darum entscheiden sie sich in ihren Handlungen der Pflicht gemäß und beruhigen sich dabei.

Bo Gui fragte den Prinzen Hia Hou Ki von Dsou7: »Schnurgerade sich ans Rechte halten, in seiner Gesinnung sich durch nichts beirren lassen, darin tun die drei8 hohen Würdenträger von Dsin es allen zuvor. Nun habe ich mich deshalb in Dsin aufgehalten und wiederholt die drei hohen Würdenträger von Dsin gefragt, aber ich habe noch nie gehört, was es heißt, schnurgerade sich ans Rechte halten und sich durch nichts beirren lassen. Ich möchte es nun von Euch hören.«

Hia Hou Ki sprach: »Ich bin zu gering, daß Ihr mich danach fragt.«

Bo Gui sprach: »Ich bitte Eure Hoheit nicht allzu bescheiden zu sein.«

Hia Hou Ki sprach: »Wenn man etwas für recht hält, soll man es tun. Und wenn man es tut, kann einen nichts auf Erden daran hindern. Wenn man etwas für unrecht hält, soll man es lassen, und wenn man es läßt, kann einen nichts auf Erden dazu zwingen.«

Bo Gui sprach: »Kann man einen denn nicht durch Aussicht auf Gewinn zwingen und durch Einschüchterung hindern?«[354]

Hia Hou Ki sprach: »Wer sich nicht um des Lebens willen zwingen läßt, wie sollte den Gewinn zwingen, wer sich nicht durch den Tod abschrecken läßt, wie sollte den Schaden abschrecken können?«

Bo Gui wußte nichts zu erwidern. Darauf verabschiedete sich Hia Hou Ki und ging hinaus.

Es ist ein Unterschied, was einen Weisen und was einen unbedeutenden Menschen zum Handeln bringt. Ein unbedeutender Mensch wird durch Lohn und Strafe zum Handeln getrieben, ein Weiser durch die Pflicht. Darum besinnt sich ein guter Herrscher, wo er durch Pflicht und wo er durch Lohn und Strafe wirken kann. Dann vermag er Weise und Unbedeutende alle zu gebrauchen.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 351-355.
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