5. Kapitel
Befreiung aus Hemmungen / Da Yü

[358] Die Menschen haben 360 Gelenke, neun Öffnungen, neun innere Organe, sechs Eingeweide: die Haut soll dicht sein, die Adern sollen durchlässig sein, die Sehnen und Knochen sollen fest sein, das Herz und der Sinn sollen in Harmonie sein, die Lebenskraft (Prana) soll in Bewegung sein: dann hat die Krankheit keinen Anknüpfungspunkt und das Übel hat keine Möglichkeit des Entstehens. Die Festsetzung von Krankheiten und Entstehen von Übeln kommt von der Hemmung der Lebenskraft. Wenn das Wasser stockt, so wird es schlammig. Wenn die Bäume Saftstockung haben, wachsen Würmer darin, wenn das Gras stockt, so fault es. Die Staaten haben auch Hemmungen: wenn die Tugend des Herrschers nicht durchgreift und die Wünsche des Volkes nicht vor den Thron gelangen: das sind die Hemmungen im Staatsleben. Wenn die Hemmungen im Staatsleben lange dauern, so entstehen alle Übel gleichzeitig, und unzählige Unglücksfälle drängen sich herbei. Daß die Oberen und Unteren kaltherzig gegeneinander werden, kommt[358] daher. Darum schätzen die Heiligen die großen Staatsmänner und treuen Beamten, weil sie es wagen durch offenherzige Worte die Hemmungen zu beseitigen.

König Li von Dschou war grausam gegen sein Volk. Die Leute im Staate murrten alle. Herzog Schau sagte es ihm: die Leute halten es nicht mehr aus. Der König ließ durch einen Zauberer aus We die Leute ausfindig machen, die murrten. Wenn er einen gefunden hatte, wurde er getötet. So wagte niemand im Volk mehr etwas zu sagen, sondern sie sahen sich nur noch auf den Straßen an. Der König freute sich darüber und sprach zum Herzog Schau: »Ich kann das Murren beseitigen.« Herzog Schau sprach: »Es ist nur verstopft, nicht beseitigt. Wenn man die Reden der Leute verstopft, so ist das noch gefährlicher, als wenn man einen Fluß aufstaut. Wenn der Fluß eingedämmt wird, so zerreißt er die Dämme und er richtet um so größeren Schaden an.

Mit dem Volke ist es ebenso. Darum wer sich auf Flußregulierung versteht, der reinigt sein Bett, daß das Wasser abfließen kann. Wer sich auf die Regierung des Volkes versteht, der bringt es durch Bekanntmachungen zum Reden. Deshalb wenn der Himmelssohn Hof hält, so läßt er durch seine Herzöge, hohen Räte und Staatsmänner aufrichtige Warnungen aussprechen und liebt es, die dargebrachten Lieder erfahrener Männer zu lernen, die Blinden schlagen den Takt und der Sänger singt sie vor, die Leute aus dem Volk geben so ihre Überlieferungen weiter, die nahe stehenden Beamten geben ihre Ratschläge, die Verwandten machen seine Fehler gut und prüfen alles. Auf Grund davon faßt der König dann wohlüberlegt seine Beschlüsse. Deshalb gibt es dann unter dem Volk nichts Gutes, das übersehen worden wäre, und auf seiten der Regierung kein unrichtiges Betragen. Nun habt Ihr den Leuten aus dem Volk den Mund verstopft und fördert die Fehler der Großen, da ist Gefahr, daß das den Grundlagen des Staates Unheil bringt.«

Der König hörte nicht darauf. Nach drei Jahren verbannten die Bürger den König nach Dschï. So sind die üblen Folgen der Stockung. Stockung ist Heimlichkeit. Auf den Dreifüßen von Dschou[359] war eine Maus dargestellt, die von einem Pferd zertreten wurde, weil sie die Heimlichkeit liebt. Heimlichkeiten sind Sitten, die zum Untergange der Staaten führen.

Guan Dschung bewirtete einst den Herzog Huan. Schon war es Abend geworden. Da aber der Fürst guter Laune war, so forderte er Fackeln. Guan Dschung sprach: »Ich habe mich für ein Fest bei Tage vorbereitet, aber nicht auf ein nächtliches Fest. Eure Hoheit wollen die Tafel aufheben.« Der Fürst war mißvergnügt darüber und sprach: »Ihr seid schon alt, Vater Dschung, wie oft wird es sein, daß wir fröhlich zusammen feiern können. Wir wollen die Nacht zu Hilfe nehmen.« Guan Dschung sprach: »Ihr seid im Irrtum, Fürst; wer reichliche Genüsse liebt, wird mager an der Tugend; wer in die Freuden der Tafel sich versenkt, den werden Sorgen treffen; wer träge ist zur Zeit der Manneskraft, der verliert seine Zeit; wer lässig ist in seinem Alter, der geht ruhmlos zu Grabe. Ich habe mir heute um Euch Mühe gegeben, warum wollt Ihr jetzt noch im Weine schwelgen?«

Dem Guan Dschung muß man es zugestehen, daß er sich auf den rechten Wandel verstand. Gewöhnlich sind es die Vergnügungen, in denen die guten Sitten zu Fall kommen. Aber er wurde im Vergnügen nur immer tadelloser. Oder es ist die Ehre, die die Sitten verderbt; aber er genoß der Ehre, daß sein Fürst bei ihm bleiben wollte, und er ließ es ihm nicht zu. Fest entschlossen handelte er nach den Grundsätzen der Vernunft, ohne sich durch Ehre und Vergnügungen beirren zu lassen. So diente er seinem Fürsten. Und das war der Grund, warum Herzog Huan die Führerschaft im Reich erlangte.

Liä Dsing Dsï Gau hatte großen Einfluß bei dem König Min von Tsi. Er liebte violette Kleider, einen weißen Seidenhut und Schnabelschuhe zu tragen besonders wenn er zu Hofe ging. Eines Tages regnete es, und als er von Hofe kam, hielt er sein Kleid auf und kam so vom Audienzsaal herab. Er sprach zu seiner Umgebung: »Wie sehe ich denn aus?« Seine Leute sagten: »Ganz schön und gut.« Da ging Liä Dsing Dsï Gau nach einem Brunnen und besah sich darin, da sah er ganz schlecht und schmutzig aus wie[360] ein Landstreicher. Da sprach er seufzend: »Meine Leute schmeicheln mir, weil ich Einfluß habe bei dem König von Tsi. Wieviel mehr wird erst dem geschmeichelt werden, bei dem ich Einfluß habe.«

Dem Fürsten eines Großstaates schmeicheln die Menschen nicht wenig, und wenn er niemand hat, in dem er sich spiegeln kann, dann steht ihm das Verderben vor der Tür. Aber wen kann man als Spiegel brauchen? Doch niemand anders als die Staatsmänner! Jedermann hat es gern, wenn der Spiegel sein Bild deutlich zeigt und haßt es doch, wenn die Staatsmänner sein Bild deutlich zeigen. Und doch ist der Dienst, den uns der Spiegel leistet, indem er uns unser Bild zeigt, nur gering im Vergleich mit dem Dienst, den uns die Staatsmänner leisten, indem sie uns unser Bild zeigen. Wer aber das Geringe sucht und das Große versäumt, der weiß nicht, worauf es ankommt.

Dschau Giän Dsï sprach: »Küo liebt mich, aber Do liebt mich nicht. Wenn Küo mir Vorhaltungen macht, tut er es immer, wenn niemand dabei ist. Wenn aber Do mir Vorhaltungen zu machen hat, so macht es ihm Spaß, mich mitten unter den Leuten zu tadeln. Er will mich durchaus in Verlegenheit bringen.«

Da erwiderte Yün Do: »Küo will Euch Verlegenheiten ersparen, aber er will Euch keine Fehler ersparen. Ich möchte Euch Fehler ersparen, aber ich habe nicht die Absicht, Euch vor jeder Verlegenheit zu hüten. ich habe einmal einen Chieromanten sagen hören: Wer eine dicke Haut im Gesicht hat und von erdgelber Hautfarbe ist, dem machen Verlegenheiten nichts aus. Wenn ich Euch nicht stelle inmitten der Menschen, so fürchte ich, daß Ihr Euch nicht bessert.«

Das war eine tüchtige Seite an Dschau Giän Dsï. Wenn ein Fürst tüchtig ist, so wagen seine Minister gerade zu reden. Giän Dsï erkannte aber die Tüchtigkeit des Do nicht an: das war der Grund, warum er endlich aus Dschau fliehen mußte, und wieviel mehr geht es Leuten so, die noch weniger sind, als ein Dschau Giän Dsï.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 358-361.
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