7. Kapitel
Übermut / Giau Dsï

[366] Der Fürst eines untergehenden Staates ist stets hochmütig, auf sein Wissen eingebildet und verachtet die andern. Wer hochmütig ist, vernachlässigt die Staatsmänner. Wer eingebildet ist, will alles selber machen. Wer andere verachtet, der sieht sich nicht vor. Mangel an Vorsicht zieht das Unheil an. Wer alles selber machen will, bringt seinen Thron in Gefahr. Wer seine Staatsmänner vernachlässigt, der verliert die Fühlung mit dem Volk. Wer die Fühlung mit dem Volk nicht verlieren will, muß den Staatsmännern mit Hochachtung begegnen. Wer seinen Thron nicht gefährden will, muß die Herzen der Menge gewinnen. Wer sich kein Unheil zuziehen will, der muß für alles gerüstet sein. Diese drei Dinge sind die großen Pfade der Herrscher.

Der Herzog Li von Dsin war verschwenderisch und ausschweifend. Er hörte gerne auf Verleumdungen. Er wollte alle seine Räte abschaffen und die Leute seiner persönlichen Umgebung in Stellung bringen. Sü Dschung sprach zu Herzog Li: »Zuerst muß man die drei Hi töten, denn ihr Stamm ist groß, und sie haben sich viel Abneigung zugezogen. Wenn man einen großen Stamm austilgt, so wird man seine Bedrängungen los.« Der Herzog sprach: »Es sei!« und ließ durch Tschang Yü Giau den Hi Tschou, Hi I und Hi Dschï bei Hofe töten und ihre Leichen auf dem Markt ausstellen.

Darauf besuchte Herzog Li das Haus der Familie Dsiang Li, da kamen Luan Schu und Dschung Hang Yän, bedrohten ihn mit Waffengewalt und nahmen ihn gefangen. Von den Fürsten kam ihm keiner zu Hilfe. Im Volk hatte niemand Mitleid mit ihm. So töteten sie ihn nach drei Monaten.

Das Leid des Fürsten besteht darin, daß er sich darauf versteht andern zu schaden, ohne daß er weiß, daß, wenn man einen andern[366] ungerecht zu Schaden bringt, das Unglück einen selbst ereilt. Warum? Weil sein Wissen zu kurz ist. Ist das Wissen zu kurz, so weiß man sich nicht zu ändern. Wer sich nicht zu ändern vermag, der bringt sich durch alle seine Handlungen selbst in Gefahr.

Fürst Wu von Liang We hielt einen Rat und traf das Rechte. Da fuchtelte er mit den Armen und redete mit lauter Stimme in der Halle: »Ihr alle, meine Räte, seid nicht so klug wie ich.« So stand er eine Weile da, dann wiederholte er seine Worte zwei- und dreimal. Da nahte sich ihm Li Hui mit ehrerbietigen Schritten und sprach: »Als einst König Dschuang von Tschu bei einer Beratung das Rechte traf, so daß ein großer Erfolg dadurch erzielt wurde, da zog er sich von der Sitzung zurück und sah bekümmert aus. Seine Umgebung fragte ihn: ›Eure Majestät hatten großen Erfolg erzielt, Ihr zogt Euch vom Hof zurück und seht bekümmert aus, dürfen wir um eine Erklärung bitten?‹ Der König sprach: ›Dschung Hui15 hat ein Wort gesprochen, mit dem ich einverstanden bin. Wenn ein Fürst so viel Geisteskraft besitzt, daß er einen Lehrer für sich gewinnt, der wird König; wer einen Freund für sich gewinnt, bleibt erhalten, wer aber Leute wählt, die weniger wert sind als er selbst, der wird zugrunde gehen. Nun bin ich gewiß untüchtig, aber die Ratschläge aller meiner Diener waren noch nicht einmal so brauchbar wie die meinigen, darum fürchte ich, daß mir der Untergang droht.‹ Solche Sorgen machen sich Könige, die für die Hegemonie im Reich geeignet sind, und Eure Hoheit weiß sich nur selbst zu rühmen. Geht das wohl an?«

Fürst Wu sprach: »Gut!«

Das Unglück der Fürsten ist nicht, daß sie zu wenig von sich halten, sondern daß sie zu viel von sich halten. Wenn sie zu viel von sich halten, so lassen sie sich nichts sagen. Wenn sie sich nichts sagen lassen, so versiegt die Quelle des Rates. Von Li Hui kann man sagen, daß er es verstand, seinen Fürsten zurecht zu weisen. Durch Anführung eines einzigen Beispiels brachte er den Fürsten Wu dazu, daß er den Weg der Fürsten verstand.

König Süan von Tsi baute einen großen Palast, so groß, daß er hundert Morgen bedeckte und im Saal dreihundert Familien[367] hätten wohnen können. Die ganzen Hilfskräfte des Großstaates Tsi wurden herbeigezogen und schon war er drei Jahre im Bau und noch immer nicht fertig. Die Beamten alle wagten dem König nicht zu widersprechen. Da fragte Tschun Gü den König Süan und sprach: »Der König von Tschu wählte unter den Ordnungen und musikalischen Überlieferungen des verewigten Fürsten aus und nahm die Musik unwichtig. Darf ich fragen, ob man unter diesen Umständen sagen kann, daß Tschu wirklich einen Herrn hat?« Der König sprach: »Es hat keinen Herrn.« Jener fuhr fort: »Es gab Tausende von tüchtigen Beamten und keiner wagte Einsprache zu erheben. Darf ich fragen, ob man da sagen kann, daß es in Tschu wirklich Beamte gab?« Der König sprach: »Es gibt dort keine Beamte!« Jener fuhr fort: »Nun bauen Eure Majestät einen großen Palast, so groß, daß er hundert Morgen bedeckt und im Saal 300 Familien wohnen könnten. Alle Hilfsmittel des Großstaates Tsi werden aufgeboten, drei Jahre wird schon daran gearbeitet und noch immer ist er nicht fertig. Und unter den Beamten ist keiner der Einsprache zu erheben wagt, darf ich fragen: Haben Eure Majestät Beamte?« Der König sprach: »Ich habe keine Beamte.«

Tschun Gü sprach: »Ich bitte Euch verlassen zu dürfen«, damit eilte er hinaus. Der König sprach: »Meister Tschun, Meister Tschun, komm doch zurück! Warum hast du so spät erst Einsprache erhoben. Ich verspreche dir von heute ab es einzustellen.« Darauf rief er schleunigst seinen Schreiber und sprach16: »Schreibe es auf. Ich war untüchtig und baute einen großen Palast, da hat Meister Tschun mich davon abgebracht.«

In der Beurteilung und Warnung der Fürsten muß man genau sein. Alle andern Beamten wagten nicht zu warnen, nicht daß sie es nicht wünschten. Tschun Gü war in seinem Wunsch mit den andern einig, er zeichnete sich nur dadurch aus, daß er seine Warnung erfolgreich anbringen konnte. Ohne Tschun Gü wäre König Süan beinahe zum Gelächter der ganzen Welt geworden.

Von hier aus betrachtet zeigt sich, daß die Herrscher, die ihr Reich verlieren, meist dem König Süan gleichen. Ihr Unglück ist nur, daß sie keinen Tschun Gü haben. So muß ein treuer Beamter,[368] der seinen Herrn warnen will, besonders vorsichtig sein wie er seine Warnung anbringt. Das ist die Wurzel von Erfolg und Mißerfolg.

Dschau Giän Dsï ertränkte seinen Diener Luan Giau im Gelben Fluß, indem er sprach: »Ich liebte schöne Frauen, und Luan Giau verschaffte sie mir. Ich liebte Paläste, Säle, Terrassen und hängende Gärten, und Luan Giau besorgte sie für mich. Ich liebte gute Pferde und schöne Wagen, und Luan Giau wußte sie zu verschaffen. Nun liebe ich seit sechs Jahren tüchtige Staatsmänner, und Luan Giau hat mir noch nicht einen einzigen empfohlen. So hat er meine Fehler gefördert und mein Gutes gehemmt17

So verstand es dieser Giän Dsï unter Anwendung höchster Vernunft, seine Beamten verantwortlich zu machen. Wer auf vernünftige Weise seine Diener verantwortlich macht, ist ein Herr, dem man im Guten helfen kann, den man aber nicht in Ungerechtigkeit hineinziehen darf, dem man zum Graden verhelfen kann, aber nicht zu Verdrehtheiten verlocken darf. Darauf beruhte die hohe Kultur der drei ersten Dynastien.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 366-369.
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