2. Kapitel
Aufrichtige Mahnung / Dschï Giän

[405] Wenn die Worte alles erwähnen, so erregen sie leicht Zorn, wird Zorn erregt, so droht dem Sprecher Gefahr. Wer außer einem Weisen sollte es wagen, sich der Gefahr auszusetzen? Denn wer nicht ein Weiser ist, dem ist es nur um den Vorteil zu tun. Aber was könnte es einem, der nur auf Vorteil aus ist, nützen, sich der Gefahr auszusetzen? Darum hat ein schlechter Herrscher keine Weisen. Wenn einer keine Weisen hat, so bekommt er die Wahrheit nicht gründlich zu hören. Wenn er aber die Wahrheit nicht gründlich zu hören bekommt, so scharen sich die Schranzen um ihn, und alle möglichen Schlechtigkeiten kommen auf. So bleibt keine Möglichkeit des Bestehens mehr übrig. Des Reiches Bestand schafft dem Herrscher Ruhe. Er hat aber stets seine Gründe. Wer[405] die Gründe nicht kennt, geht zugrunde, ob er gleich bestünde, der kommt in Gefahr, ob er gleich lebte. Darum darf man das nicht unüberlegt lassen.

Herzog Huan von Tsi und Guan Dschung, Bau Schu und Ning Tsi tranken einst zusammen Wein und wurden heiter. Da sprach Herzog Huan zu Bau Schu: »Wollt Ihr nicht auf unser Wohl trinken?« Da nahm Bau Schu den Becher, trank ihn aus und sprach: »Möge der Herzog nie der Zeit vergessen, da er nach Gü sich hatte flüchten müssen, möge Guan Dschung nie vergessen, wie er gefesselt in Lu war, möge Ning Tsi nie vergessen, wie er die Rinder fütterte und unter dem Wagen saß.«

Der Herzog Huan stand auf, verneigte sich zweimal und sprach: »Ja, wenn ich und die beiden deine Worte nie vergessen, so droht den Erdaltären hoffentlich niemals Gefahr.« Zu jener Zeit konnte man dem Herzog Huan gründlich die Wahrheit sagen. Darum war er imstande, die Hegemonie zu erlangen.

König Wen von Tschu erhielt Hunde von Yü Huang und einen Dolch von Wan Lu. Da ging er auf die Jagd in Yin Mong und kam drei Monate nicht heim. Er bekam ein schönes Mädchen aus Dan, da verliebte er sich in sie, so daß er ein ganzes Jahr nicht mehr bei Hofe erschien. Der Prinzenerzieher Schen sprach: »Der verewigte König hat das Orakel gefragt, und weil es günstig lautete, hat er mich zum Prinzenerzieher gemacht. Nun habt Ihr Hunde von Yü Huang und einen Dolch aus Wan Lu bekommen, da gingt Ihr auf die Jagd und kamt drei Monate nicht heim, und als Ihr ein schönes Weib aus Dan bekamt, bliebt Ihr ein ganzes Jahr vom Hofe fern. Dafür verdient Ihr Schläge.« Da sprach der König: »Ich habe die Kinderkleider abgelegt und zähle unter die Fürsten, darum bitte ich, mir eine andere Strafe zudiktieren zu wollen und mich nicht zu schlagen.«

Der Prinzenerzieher Schen sprach: »Ich habe vom verewigten König mein Amt erhalten und wage nicht es zu vernachlässigen. Wenn Ihr keine Schläge Euch geben laßt, so macht Ihr das Gebot des verewigten Königs zunichte. Ich will lieber Euch beleidigen als den verstorbenen König.« Der König sprach: »Gut!« Man brachte[406] eine Matte herbei, und der König kauerte darauf nieder. Der Prinzenerzieher machte aus 50 Gerten eine Rute, kniete nieder und legte sie dem König auf den Rücken. So tat er zweimal, dann sprach er zum König, er könne jetzt aufstehen. Aber der König sprach: »Die Schande der Schläge ist dieselbe, da kannst du mich auch vollends richtig schlagen.« Schen sprach: »Ich habe gehört, einen Edlen kann man durch das Ehrgefühl packen, einem Gemeinen muß man's zu fühlen geben. Wenn Ihr Euch nicht aus Ehrgefühl bessert, was nützt es dann Euch zu prügeln?« Darauf ging Schen schnell hinaus. Er lief ins tiefe Wasser hinein und sagte, er habe den Tod verdient. König Wen sprach: »Ich bin an allem schuld, der Prinzenerzieher Schen hat nichts Unrechtes getan!« Darauf besserte sich der König. Er berief den Prinzenerzieher Schen wieder in seine Umgebung, tötete die Hunde von Yü Huang, zerbrach den Dolch von Wan Lu und verbannte die Frau von Dan. Darauf annektierte Tschu 39 Staaten. Daß Tschu so mächtig wurde, das hat der Prinzenerzieher Schen fertig gebracht, indem er dem König gründlich die Wahrheit sagte.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 405-407.
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