Hermeneutische Vorbemerkungen

Den bisher in westlichen Sprachen vorliegenden etwa 250 Übersetzungen des Dao De Jing noch eine weitere hinzuzufügen, erscheint überflüssig und etwas verwegen. Das Unternehmen, das wohl meistübersetzte Klassikerwerk Chinas noch einmal in philosophischer Perspektive zu überprüfen, muß sich durch seine Ergebnisse und Vorschläge rechtfertigen.

Sie verdanken sich dem in langen Jahren des Studiums fernöstlicher philosophischer Literatur gewonnenen Verdacht, daß »fernöstlicher Geist« und insbesondere der sog. Lao Zi keineswegs so mystisch und dialektisch-spekulativ, ja irrational sind, wie man das im Westen gerne hätte. Und dieser Verdacht hat sich dem Verfasser ebenso auch bei den ältesten abendländischen Denkern bestätigt, etwa bei Heraklit und Demokrit, die man – nach Hegels Wort – nur vernünftig anschauen muß, um auch bei ihnen Vernunft zu finden. Wenn etwa Demokrit über zwei »Archai«, nämlich das »Volle der Atome« (das Sein) und das »Leere« des Raumes (das Nichts) als ersten Ursachen aller Wirklichkeit nachdenken konnte und daraus Folgerungen für ein (bis heute in der Naturwissenschaft exhauriertes) Weltbild ziehen konnte, dann sollte man etwas Vergleichbares auch einem chinesischen Denker zutrauen. Von solchem Zutrauen ist die vorliegende Übersetzung ausgegangen.

Das Dao De Jing ist nun allerdings eine »heilige Schrift« nicht nur der Daoisten, sondern Chinas schlechthin, ebenso wie die Bibel im Abendland. Die Heilige Schrift des christlichen Abendlandes hat viele Entmythologisierungen überstanden, und sie ist daher den Gläubigen noch immer die Offenbarung Gottes, den Ungläubigen aber ein wertvolles historisches Dokument über den Bewußtseinszustand einer alten Kultur.

Das Dao De Jing ist dagegen niemals »entmythologisiert« worden, weder in China noch im Westen. Dazu war der Respekt, den die chinesischen Gelehrten dem alten Werk und seinen ältesten Auslegern entgegenbrachten, zu hoch. Bei vielen westlichen Sinologen ist das Vertrauen darauf, daß die Chinesen selbst am besten wissen könnten, was der Sinn der alten Schrift sein müsste und könnte, ebenfalls zu hoch. Und so folgen sie gewöhnlich bei allen schwierigen und dunklen Stellen noch immer den Spekulationen des Wang Bi und des Zhuang Zi und den selbst in deren Nachfolge stehenden chinesischen Kollegen. Das westliche Bild vom Dao De Jing – und von chinesischer ältester Weisheit insgesamt – ist daher bis jetzt »mythologisch« geblieben. Dunkelheit und Tiefe, Paradoxien und Schwierigkeiten, meist in poesiehafter Verbrämung dargeboten, sollen das Wesen des so »fremden östlichen Denkens« und seiner in Metaphern schwelgenden Spekulation kennzeichnen.

Von alledem ist, wie man sich überzeugen wird, in der vorliegenden Übersetzung nichts geblieben. Das beruht auf der strikten Befolgung bewährter hermeneutischer Maximen.


1. Der Textus receptus wird als verbindlich angesehen. Und zwar aus der Kenntnis chinesischer Sorgfalt konstanter Schriftenbewahrung durch Steininschriften seit den ältesten Zeiten und des professionellen Respekts der Gelehrten den Texten gegenüber. Selbst die 1974 in Mawangdui aufgefundenen Seidentexte mit ihren geringfügigen Abweichungen (wovon die Umstellung des 1. und 2. Teils noch die auffälligste ist) und die Funde von 1993 in Guodian in der Provinz Hubei von Textteilen auf Bambusstreifen zwingen nicht dazu anzunehmen, daß solche »Privatabschriften« in irgend einer Weise originärer seien als der Textus receptus.


2. Der ganze Text wird als einheitliches philosophischen Gedankengebäude angesehen. Dafür spricht neben dem Wortmaterial die durchgehaltene Thematik. Diese ist, wie sich zeigt, keineswegs von der Art, daß sie in der Weise einer Zusammenstellung von Spruchweisheiten vieler anonymer Köpfe entstanden sein könnte. In der so vorsichtig-tastenden und doch zugleich selbstgewissen Vorstellung dieser Dao-Lehre und ihrer konsequenten Anwendung auf Alltags- und Lebensprobleme, auf Regierungs- und Strategiefragen und vor allem ihrer kritischen Kontrastierung zu den Dao-Lehren der Konfuzianer (und vielleicht aller anderen Bai Jia, der »hundert Schulen«) zeigt sich ein starker und origineller philosophischer Denker, der auf der Höhe einer intimen Kenntnis seiner Zeit und Welt gestanden haben muß und dem daher nichts Menschliches fremd gewesen sein kann.


3. Die einzelnen Kapitel erscheinen in diesem Kontext als Ausarbeitungen bestimmter Einzelthemen. Und das heißt in erster Linie, daß in der Regel ein leitender Gedanke expliziert wird, nicht aber unzusammenhängende (zufällig nebeneinander geratene) Fragmente mit disparaten Sinngehalten vorliegen. So schätzenswert hierbei der Vergleich einzelner Sätze mit Belegstellen der älteren oder zeitgenössischen Literatur Chinas sein mag, leidet das Verfahren, daraus eine verbindliche Interpretation zu gewinnen, an dem Mangel, daß das Vorurteil des Mythologischen (oder Primitiven) gegenüber frühen Stadien der Kulturentwicklung auch in deren Deutung einzugehen pflegt. Und so führt es in krassen Fällen nur dahin, Unsinn durch Unsinn, Dunkles durch Dunkles und gestanzte Redensarten durch gestanzte Redensarten zu erklären.


4. Daher wurde der Kontext der einzelnen Kapitel durchweg für den Sinn des ganzen Kapitels in Anspruch genommen. Erst so konnte die bekanntlich oft vielfältige und zuweilen gegensätzliche Bedeutung einzelner Wörter und Ausdrücke eingeschränkt oder festgelegt oder in jedem Falle ein plausibler hypothetischer Vorschlag für eine passende Bedeutungsfestlegung vorgelegt werden. Die Bedeutungsskala einzelner Wörter und Ausdrücke, wie sie in einschlägigen Wörterbüchern festgehalten wird, deutet in manchen Fällen auf eine Bedeutungseinheit hin, die gewissermaßen zwischen den Extremen oder zwischen Bedeutungsnuancen liegt, und für die daher kein Standardübersetzungswort zur Verfügung steht. In diesen Fällen wurde auf geeignete Umschreibungen zurückgegriffen.


5. Die empfindlichste Einschränkung der Interpretationsmöglichkeiten bisheriger Übersetzungen (und chinesischer Interpretationen) ergibt sich aus dem dogmatischen Festhalten derselben an einer Satzeinteilung und Satztrennung (also an einer Interpunktion), die doch selber nur den Vorschlägen späterer Ausleger wie Wang Bi, Zhuang Zi und Han Fei Zi entstammen kann. Die ältesten Texte aber wurden bekanntlich überhaupt nicht interpunktiert. Und das erlaubte auch schon den frühesten Interpreten, Satzteile zusammenzuziehen oder zu trennen. Diese Freiheit hat auch schon den alten Autoren und ihren Schülern erlaubt, einzelne Sätze oder Satzteile in einer Weise aus dem Kontext herauszunehmen, daß sie als Aussagen über die Kaiser oder den mit überirdischen Kräften ausgestatteten Heiligen verstanden werden konnten. Und das war opportun, wenn man die Schrift dem Kaiserhaus als direkt an es gerichtet empfehlen wollte, wie es ja in langen Perioden erfolgreich betrieben worden war. Auch war dies das Mittel, um das, was man sagen wollte, feinsinnig zu dissimulieren und den zu beratenden Herrschern und Machthabern auch unwillkommene Wahrheiten beizubringen. Auch in der vorliegenden Übersetzung wurde eben von dieser Freiheit gelegentlich Gebrauch gemacht. Das führte dazu, daß bisher angenommene Widersprüche und Paradoxien schlicht verschwinden, ja daß bisher für unübersetzbar gehaltene Ausdrücke (die man dann gerne als Einschübe unverständiger Abschreiber deutet) einen überzeugenden Kontextsinn erhalten.


6. Ein weiterer Spielraum ergibt sich aus der Satzform. Es macht einen Unterschied, ob ein Satz als Behauptung oder als Frage gemeint ist. Oft kehrt sich dadurch der Satzsinn um, und je nachdem erhält man eine klare Aussage oder ein »tiefsinniges« Paradox. Grammatische Partikel, die eine Frageform annoncieren, sind selten. Schon im ersten Satz des ersten Kapitels erscheint »Fei« als negatives Fragepartikel, aber es scheint niemals ernst genommen worden zu sein. Und so imponierte schon der erste Satz in den traditionellen Übersetzungen und auch in den chinesischen Interpretationen als paradigmatisches Paradox.


7. Die Erfahrung, die bei der Übersetzung gemacht wurde, deutet auf einen scharfsinnigen Denker hin. Zu betonen ist: einen Denker. Ob er Lao Zi hieß oder so genannt wurde, dürfte gleichgültig sein. Jedenfalls erscheint das Ganze des Dao De Jing in solchem Maß aus einem Guß, daß dies gegen die heute übliche Meinung spricht, es handele sich um ein Konglomerat disparater Gedankenfetzen aus verschiedenen Zeiten und aus dem Pinsel verschiedener Autoren, oder es bestehe gar aus anonymen Volksweisheiten. Daher wurde der Name Lao Zi auch im Titel beibehalten.

Quelle:
Lao Zi Dao De Jing. Eine philosophische Übersetzung von Lutz Geldsetzer. © März 2000 Lutz Geldsetzer, http://www.phil- fak.uni-duesseldorf.de/philo/geldsetzer/laozidao.html..
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