1. Kann das Dao Dao sein, wenn es nicht das immerwährende Dao ist? Können Namen bezeichnen, wenn sie nicht die immerwährend-richtigen Namen sind? »Nichts« ist der Name für den Anfang von Himmel und Erde. »Sein« ist der Name für die Mutter aller Dinge. Darum will ich über das immerwährende Nichts aus diesem (Anfang) her sein Geheimnis erkunden, und ich will über das beständige Sein aus diesem (Muttersein) her seine Grenzen erkunden. Jetzt treten sie gepaart zusammen auf, aber unter verschiedenen Benennungen. Gemeinsam heißen sie »Ursprung«. Das Ursprüngliche hat aber wiederum einen Ursprung. Das aber ist das Tor zu allem Geheimnisvollen.
2. Wenn in der Welt das, was alle als schön kennen, zur Schönheit wird, dann verselbständigt sich das Hässliche. Wenn das, was alle als gut kennen, zum Guten wird, dann verselbständigt sich das Ungute. Darum entstehen auch Sein und Nichts miteinander, Schwieriges und Leichtes vollbringen sich zusammen, Lang und Kurz schneiden einander, Hoch und Niedrig bemessen einander, Ton und Stimme vereinigen sich miteinander, Vorher und Nachher folgen ein ander. Bei alledem kümmert sich der Heilige um die Angelegenheiten des Nichts und seines Wirkens. Er tut es, indem er ohne Worte lehrt. Alle Dinge sind tätig, aber sie lassen nicht voneinander ab. Sie bringen Früchte hervor, aber nicht seinsbeständige. Sie schaffen, aber nicht Haltbares. Sie vollbringen, aber nicht Bleibendes. Und gerade von diesem nicht Bleibenden wendet er sich nicht ab.
3. Rühmt man die Weisen nicht, so bewirkt das, daß das Volk nicht streitet. Schätzt man schwer zu erlangende Güter nicht, so bewirkt das, daß das Volk nicht stiehlt. Schaut man nicht nach Wünschbarem aus, so bewirkt das, daß der Sinn des Volkes nicht verwirrt wird. Deswegen regiert der Heilige, indem er ihre Gemüter beruhigt, ihren Bauch füllt, ihren Willen schwächt, ihre Knochen stärkt. Immer macht er, daß das Volk das Nichts kennt und das Nichts erstrebt. Er macht, daß die Wissenden nicht übermütig handeln. Er bewirkt, daß das Nichts wirkt, und dann herrscht nicht das Nichts.
4. Setzt sich das Dao durch, dann gibt es bei seinem Gebrauch nirgends Überfluß. Es ist abgründig gleich einem Urahn aller Dinge. Es glättet ihre Kanten, entwirrt ihre Knoten, dämpft ihren Glanz, bindet ihren Staub. Ruhig erbt sich alles Bestehende von ihm fort. Ich weiß nicht, wessen Sohn es ist. Es ist schon (lange) vor den Kaisern erschienen.
5. Wie Himmel und Erde in unmenschlicher Weise von den zehntausend Dingen zum Strohhund-Opfer gemacht werden, so wird der Heilige in unmenschlicher Weise von den Leuten zum Strohhund-Opfer gemacht. Zwischen Himmel und Erde ist er für sie wie ein Blasebalg. Schon leer bis zum Geht-nicht-mehr, walken sie ihn, daß er noch mehr herauslasse. Mit vielen Worten tadeln sie dann seine Armut, als ob sie ihn nicht in ihrer Mitte duldeten.
6. Die Talfee erstirbt nicht. Ich nenne sie Ur-Weibliches. Die Pforte des Ur-Weiblichen nenne ich Wurzel von Himmel und Erde. Ununterbrochen, solange sie da ist, dient sie unaufgeregt.
7. Der Himmel ist weit und die Erde dauerhaft. Aber in dem, was vom Himmel und von der Erde weit und dauerhaft sein kann, in diesem lebt man nicht für sich. Darum kann man das Leben ausweiten. Deswegen hat der Heilige ein Nachleben, wenn sein Körper vergangen ist, und er ist außerhalb seines Körpers, wenn sein Körper noch da ist, sofern nicht in ihm das Nichts das Selbst beschädigt hat. Darum kann er sein Selbst vervollkommnen.
8. Das Beste ist wie das Wasser. Das Gute am Wasser nützt allen Dingen und bekriegt sie nicht. Es bleibt dort, wovor alle Menschen zurückschrecken. Dadurch hilft es dem Dao. Bewohnbarkeit ist das Gute an der Erde, Tiefe ist das Gute am Herzen, Helfen ist das Gute an der Menschlichkeit, sich Aussprechen ist das Gute am Vertrauen, es richtig machen ist das Gute am Regieren, etwas zu unternehmen ist das Gute am Können, sich rühren ist das Gute an der Zeit. Nur wo überhaupt kein Streit ist, da tritt das Nichts hervor.
9. Was man ergreift und anhäuft, wird dadurch nicht wie etwas Eigenes. Was man scharf macht und anspitzt, das kann man nicht lange so erhalten. Gold und Edelsteine im Haus gehortet kann keiner beschützen. Sich mit Reichtum und Wertsachen großtun, das muß man sich selbst als Fehler anrechnen. Etwas leisten und sich dann zurückziehen, das ist Himmelsdao.
10. Hält man seine inneren Seelenkräfte zusammen, so kann man das Nichts davon fernhalten. Man muß nur seine Lebenskraft geschmeidig halten, so kann man wie ein neugeborenes Kind sein. Mit reiner und unbefleckter ursprünglicher Klarsicht kann man das Nichts als Flecken sehen. Mit Liebe für sein Volk den Staat regierend, kann man um das Nichts wissen. Die Himmelspforte öffnend und verschließend, kann man das Nichts schwächen. Mit Klugheit nach allen vier Himmelsrichtungen ausgreifend, kann man das Nichts wirken lassen. Was hervorbringt und nährt, lebt, aber es verweilt nicht. Es wirkt, aber es profitiert nicht. Es weitet sich aus, aber es dirigiert nicht. Das nenne ich vollkommene Tugend.
11. Dreißig Speichen vereinigen sich im Rad. Paßt ihr Nichts, dann ist das Sein des Rades zu gebrauchen. Man höhlt den Ton, um ein Gefäss zu gestalten. Paßt sein Nichts, so ist das Sein des Gefässes zu gebrauchen. Man meiselt Türen und Fenster (bei den Felshöhlen), um Wohnungen herzustellen. Paßt ihr Nichts, so ist das Sein der Wohnung zu gebrauchen. Daher schafft das Sein den Nutzen, das Nichts schafft die Brauchbarkeit.
12. Die fünf Farben bringen den Menschen so weit, daß sein Auge erblindet. Die fünf Töne bringen den Menschen dahin, daß sein Ohr taub wird. Die fünf Geschmäcker bringen den Menschen dahin, daß sein Mund unempfindlich wird. Jagd und Waidwerk bringen den Menschen dahin, daß er den Verstand verliert. Schwer erhältliche Dinge bringen den Menschen dahin, daß er Verbrechen begeht. Deshalb lässt der Heilige den Magen arbeiten und beschäftigt nicht das Auge. Daher hält er sich von dem einen fern und wählt das andere.
13. Gunst ist ebenso schrecklich wie Unglück. Aber man achtet nur auf großes Leiden, das den Körper betrifft. Was heißt denn: Gunst und Unglück seien gleicherweise schrecklich? Nun, Gunst erniedrigt einen. Sie zu erhalten ist schrecklich, und sie zu verlieren ist auch schrecklich. Deshalb heißt es, Gunst und Unglück sind gleichermaßen schrecklich. Was heißt es dann: Man überschätzt das Übel, das den Körper betrifft? Nun, wenn ich ein großes Leiden habe, so brauche ich mich nur umzubringen. Was habe ich dann für ein Leiden? Darum ziehe ich es vor, selbst auf die Dinge in der Welt zu wirken, solange ich in der Welt verbleiben kann, und ich liebe es, selbst auf die Dinge in der Welt zu wirken, solange ich mich auf sie verlassen kann.
14. Wenn man späht und doch nicht sieht, so heißt das »merkwürdig«. Wenn man lauscht und doch nicht hört, so heißt das »seltsam«. Wenn man nach etwas greift und es nicht faßt, so heißt das »winzig«. Diese drei kann man nicht auf die Reihe bringen. Daher nimmt man sie zusammen und macht Eines daraus. Von oben ist es nicht hell, von unten nicht dunkel. Durch noch so vieles Erforschen kann es nicht auf den Begriff gebracht werden. Denn man kommt dabei auf das Nichts der Dinge zurück. Deshalb nennt man es Abbild der Gestalt des Nichts. Es ist die Erscheinung des Nichts der Dinge. Deshalb nennt man es auch verworren und verrückt. Davorstehend sieht man nicht seinen Kopf, ihm nachfolgend sieht man nicht seinen Hintern. Man erfaßt damit das Dao der Alten und dadurch das verborgene Sein von heute. Man kann damit den Anfang des Alten kennen. Deshalb nenne ich es die Erinnerung des Dao.
15. Die Wohltäter des Altertums verstanden das Winzig-Geheimnisvolle des Ursprungs. Aber seine Tiefe konnten sie nicht erkennen. Sie konnten sie noch nicht erkennen. Daher der kräftige Ausdruck ihrer Handlungen. Zunächst, wie der Winter über einen Fluß kommt, waren sie vorsichtig nach allen vier Himmelsrichtungen, aber fest in ihrer Haltung. Unregelmässig, wie das Eis zu schmelzen beginnt, betrieben sie ihre rohen Geschäfte, weitläufig wie ihre Täler, anschwellend wie der Schlamm. Wie vermochten sie den Schlamm in Ruhe sich reinigen zu lassen? Wie vermochten sie friedlich durch dauernde Bemühung Lebendiges wachsen zu lassen! Indem sie dieses Dao bewahrten und keinen Überfluß begehrten, denn es gab noch keinen Überfluß. So konnten sie unbewußt ohne Neuerungen etwas zustande bringen.
16. Um zur höchsten Leere zu kommen, muß man auf dasjenige achten, was die Ruhe bewahrt. Alle Dinge reihen sich aneinander. Ich erkunde darin das Wiederkehren. Mögen die Dinge wachsen und wuchern, so kehrt doch jedes zu seiner Wurzel zurück. Das Zurückgehen in die Wurzel heißt Ruhe. Das nenne ich Wiederkehr des Lebens. Die Wiederkehr des Lebens heißt Beständigkeit. Die Beständigkeit zu kennen heißt Klugheit. Die Beständigkeit nicht zu kennen ist ein verhängnisvoller Leichtsinn. Die Beständigkeit zu kennen führt zu einer geduldig-gelassenen Einstellung. Diese Haltung wird dann zur Noblesse, die Noblesse zu königlicher Art und die königliche zu himmlischer Art. Das Himmlische führt dann zum Dao. Dao aber währt dann immer. Körperliches Sterben ist keine Bedrohung (mehr).
17. Die höchste Herrschaft ist die, von der die Untergebenen nur ihr Dasein kennen. Die nächste ist die, welche sich bei ihnen anbiedert, so daß sie sie loben. Die nächste ist die, die sie fürchten. Die nächste ist die, die sie verhöhnen. Da gibt es nicht mehr genug Vertrauen. Man glaubt nicht einmal mehr, daß es sie gibt, selbst wenn weit und breit ihre Verlautbarungen noch ernst genommen werden. Von Erfolgen, die aus den Geschäften folgen, sagt jedermann im Volk: das ist meine eigene Angelegenheit.
18. Ist das große Dao weg, so gibt es Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Schlauheit und Weisheit treten hervor, und es gibt große Falschheit. Die sechs Verwandtschaftsbeziehungen binden nicht mehr, und es gibt Pietät und Barmherzigkeit. Das Staatsvolk wird dumm und aufrührerisch, und es gibt loyale Beamte.
19. Schafft die Heiligkeit ab und laßt die Weisheit fahren, und es verhundertfacht sich der Nutzen für das Volk. Schafft die Menschlichkeit ab und laßt die Gerechtigkeit fahren, und das Volk kehrt zur (wahren) Pietät und Barmherzigkeit zurück. Schafft Erfolg ab und laßt Gewinn fahren, und es gibt keinen Diebstahl und keine Verbrechen mehr. Mit diesen Dreien gesittete Verhältnisse zu schaffen, das geht nicht. Laßt daher dem Sein das Seine. Seht auf das Schlichte und bewahrt das Einfache. Macht euch selbst gering und begehrt wenig.
20. Schafft das gelehrte Studium ab, und Nichts mehr von Sorgen. Dies und Das, wievieles kommt miteinander. Gutes und Schlechtes, wie kommt es miteinander aus? Die Angst der Menschen, die muß man fürchten, denn sie ist eine Not, weit verbreitet wie sonst nichts. Sind die Menschenmengen freudig erregt wie beim Opfern eines riesigen Opfertiers und wie wenn der Frühling über die Höhen steigt, so bleibe ich allein und lege mich nicht fest, wie ein Säugling, der noch kein Junge ist. Müde und schlapp, wie wenn das Nichts in mich einkehrt. In der Menschenmenge hat jeder seinen Überfluß. Aber ich allein bin wie verlassen. Bin ich ein Verrückter, ganz verwirrt, wo doch die Menschen sich so klug verhalten? Ich allein bin ganz betäubt, wo doch die Menschen sich so umsichtig verhalten. Ich allein bin ganz schwermütig, beschaulich in ihrem Meer schwimmend, im Wirbelsturm das ruhende Nichts. In den Menschenmengen hat ein jeder zu tun, aber ich allein bin unnütz wie ein Geizhals. Ich allein bin anders als die Menschen, aber ich halte darauf, meine Mutter zu ernähren.
21. Der Ausdruck hehrer Tugend ist nur die Folge des Dao. Wenn das Dao die Dinge gestaltet, dann (zuerst) nur verwirrt und nur unsicher, tatsächlich verwirrt und unsicher. Aber darin erscheint das Sein, tatsächlich, verwirrt und unsicher. Darin wird das Sein Ding. (Zuerst) zurückhaltend und geheimnisvoll. Aber darin wird das Sein zum Urstoff. Sein Urstoff ist wirklich und echt. Aber darin gewinnt das Sein Bestand. Vom Altertum bis heute ist kein Name dafür aufgekommen. Durch diese Pforte tritt alles hervor. Wieso kenne ich dies Bild des Hervorganges von allem? Weil es so ist!
22. Erst bruchstückhaft, dann ganz. Erst krumm, dann gerade. Erst gesenkt, dann überfließend. Erst dürr, dann frisch. Erst dürftig, dann reichlich. Erst vielfältig, dann verwirrend. Damit umfaßt der Heilige die Formgestaltungen in der Welt. Er schaut nicht auf sich selbst, darum ist er klarsichtig. Es geht ihm nicht um ihn selbst, darum stellt er etwas vor. Er rühmt sich nicht, darum hat er Erfolg. Er kümmert sich nicht um sich selbst, darum setzt er sich durch. Und nur weil er nicht streitet, kann nichts in der Welt mit ihm streiten. Wenn man schon im Altertum sagte »Erst bruchstückhaft, dann ganz«, wie sollten das hohle Worte sein? Auf das wahrhaft Ganze muß man zurückkommen!
23. Sparsam drückt sich die Natur aus. Darum bläst kein Sturm einen ganzen Morgen lang und kein Platzregen dauert einen Tag lang. Was bewirkt das? Himmel und Erde. Himmel und Erde fügen es, daß sie nicht immer dauern können. Aber umso mehr gilt dies für den Menschen. Darum lässt er seine Geschäfte vom Dao abhängen. Was gemäss dem Dao geschieht, ist daohaft. Was gemäss der Tugend geschieht, ist tugendhaft. Was falsch gemacht wird, ist fehlerhaft. Was aber daohaft ist, erhält man auch freigibig vom Dao. Was tugendhaft ist, erhält man auch freigibig von der Tugend. Was fehlerhaft ist, erhält man auch freigiebig aus Fehlern. Man vertraut nicht genügend darauf! Wie sollte aber das Sein nicht darauf vertrauen.
24. Wer auf Zehenspitzen steht, steht nicht fest. Wer aufsitzt, reitet nicht. Wer auf sich selbst schaut, sieht nicht klar. Wem es um ihn selbst zu tun ist, der stellt nichts vor. Wer sich selbst rühmt, hat Nichts an Erfolgen. Wer sich um sich selbst kümmert, setzt sich nicht durch. Auch darin gibt es ein Dao. Man nennt es: Sich überfressen und schmarotzen. Solche Sachen sind schlecht. Daher hält sich der Daohafte nicht daran.
25. Das Sein der Dinge bildet sich im Chaos. Es entsteht vor Himmel und Erde, ganz ruhig und still. Allein steht es und ändert sich nicht. Es gründet Bewegung, doch ohne Bedrohung. Man kann es für die Mutter der Dinge unter dem Himmel halten. Ich kenne seinen Namen nicht. Das Schriftzeichen dafür heißt »Dao«. Der Name für seine Gestaltungskraft heißt »das Große«. Das Große wird das »Vergehende« genannt. Das Vergehende wird das »Sich-Entfernende« genannt. Das Sich-Entfernende wird das »Umkehrende« genannt. Daher ist das Dao groß. Der Himmel ist groß. Die Erde ist groß. Auch Könige sind groß. In diesem Umkreis gibt es vierfaches Großes. Und die Könige behaupten sich als eines von diesen. Der Mensch reguliert die Erde. Die Erde reguliert den Himmel. Der Himmel reguliert das Dao. Dao reguliert sich selbst.
26. Im Wichtignehmen wurzelt die Leichtigkeit, und ruhige Gelassenheit dominiert über das Heftige. Deshalb verhält sich der Heilige am Tagesende so, daß er nicht die Wichtigkeit seiner Bürde aus dem Auge verliert, auch wenn er in großem Ansehen steht und Tafel und Wohnung prächtig sind. Und wieviel mehr, wenn er zehntausend Wagen besässe und ihm in Person alle Dinge leicht wären. Nähme er sie leicht, dann verlöre er seine Wurzel. Würde er sich aufregen, dann verlöre er seine Autorität.
27. Man geht gut, wo Nichts von Wagen- und Fußspuren ist. Man spricht gut, wenn man Nichts an Tadel und Kritik sagt. Man rechnet gut, wo man kein Maß braucht. Man birgt gut, wo kein Riegel verschließt, und es doch nicht geöffnet werden kann. Man bindet gut, wo keine Bindschnur bindet, und es doch nicht gelöst werden kann. Weil der Heilige darin beständig die Menschen gut unterstützt, darum gibt es keinerlei verworfene Menschen. Weil er beständig die Dinge gut unterstützt, darum gibt es keinerlei wertlose Dinge. Darüber gilt es meines Erachtens Klarheit zu gewinnen. Darum sind gute Menschen Lehrer für ungute Menschen. Ungute Menschen sind ihrerseits lehrreich für gute Menschen. Sie nicht als Lehrer schätzen und ihr Beispiel nicht lieben, und doch Einsicht in ihre großen Verfehlungen haben, das nenne ich »höchst wunderbar«.
28. Kennt man seine männliche Stärke und bewahrt man seine weibliche Empfindlichkeit, so wird man für alles unter dem Himmel zum Kanal, für alles zum Ableiter. Die beständige Tugend verlässt einen nicht und man wird wieder kindlich. Kennt man das Weiße und bewahrt man das Schwarze, so wird man für alles unter dem Himmel zum Vorbild, für alles zum Muster. Die beständige Tugend weicht nicht, und man kehrt wieder zum höchsten Nichts zurück. Kennt man seinen Glanz und bewahrt seine Niedrigkeit, so wird man für alle Dinge zum Abgrund, für alles zur Schlucht. Die beständige Tugend genügt dann, um wieder ganz einfach zu werden. Zerteilt sich das Einfache, so wird es dienlich. Wenn der Heilige es gebraucht, dann macht er es zu einem ausdauernden Gehilfen. Darum richten seine großen Maßregeln keinen Schaden an.
29. Befehlshaber möchten die Welt in Besitz nehmen und sie gestalten. Ich sehe, daß ihnen das nicht gelingt. Alles unter dem Himmel ist beseeltes Werkzeug. Man kann es nicht gestalten. Wer es gestaltet, der zerstört es. Wer es ergreift, der verliert es. Darum, weil einige Dinge vorausgehen, andere nachfolgen, einige stöhnen, andere pfeifen, einige stark sind, andere schwach, einige drängen, andere zerstören. Eben deswegen meidet der Heilige das Erstarrte, das Überschwängliche, das Großartige .
30. Wer mit dem Dao den Herrschern über Menschen hilft, der zwingt die Welt nicht mit Waffen. Deren Anwendung pflegt Rückwirkungen zu haben. Wo ein Herr lagerte, wächst nur noch dorniges Gestrüpp. Nach einem großen Feldzug muß es Hungerjahre geben. Das Gute hat seine Früchte, und das war es! Es traut sich nicht, dazu Gewalt zu gebrauchen. Es fruchtet, prahlt aber nicht. Es fruchtet, rühmt sich aber nicht. Es fruchtet, tut aber nicht groß damit. Es fruchtet und lässt es dabei. Es fruchtet, zwingt aber nicht. Wenn Dinge kräftig sind, aber alsbald vergreisen, so nennt man das »nicht daohaft«. Nicht Daohaftes vergeht frühzeitig.
31. Wohlbewaffnete Männer sind kein glückverheißendes Instrument, sondern etwas, vor dem alle zurückschrecken. Darum wird derjenige, das das Dao hat, nicht darauf setzen. Ein Fürst muß ihnen gleichwohl den ersten Rang einräumen. Benutzt er aber Waffen, dann gibt er ihnen den zweiten Rang. Denn der Soldat ist kein glückverheißendes Instrument, schon gar nicht als Instrument des Fürsten. Muß er es aber doch benutzen, dann unerschütterlich und zurückhaltend, um die Oberhand zu behalten. Den Sieg aber hält er nicht für etwas Vortreffliches. Wer nämlich diesen für etwas Vortreffliches hält, ist einer, der Gefallen daran hat, Menschen zu töten. Wer aber Gefallen daran findet, Menschen zu töten, dem kann es nicht gelingen, in der Welt seinen Willen durchzusetzen. Glückliche Unternehmungen bewertet man als Erstrangiges. Elendbringende Unternehmungen bewertet man als Zweitrangiges. So ungleich steht auch ein erstklassiger Heerführer über einem zweitklassigen Heerführer. Das drückt sich auch bei Gelegenheit von Trauerriten aus. Werden Menschen in Scharen getötet, dann werden sie mit Trauer und Mitleid beweint. Nach einem Sieg in der Schlacht aber finden (nur) Trauerzeremonien statt.
32. »Dao« ist ein Name für das beständige Nichts. Obwohl es als Elementares winzig ist, kann die Welt es nicht in Dienst nehmen. Wenn der Adel und die Könige es aber bewahren können, dann ist es bei der Selbstgestaltung aller Dinge mit dabei. Wenn Himmel und Erde sich vereinigen und dann süsser Tau herabfällt, wenn das Volk ohne Führung von selbst mit sich auskommt, dann nennt man die anfängliche Ordnung »Sein«, und man nennt es bis zum Ende Sein. Die Leute werden auch dazu gebracht, ihr Wissen dabei stehen zu lassen. Wenn nämlich das Wissen (beim Sein) stehen bleibt, kann dieses nicht mehr bedrohlich sein. Vergleicht man das Daohafte mit etwas in der Welt, dann ist es wie das Flußtalhafte im Verhältnis zu den Strömen und dem Meer.
33. Wer die Menschen kennt, ist ein Weiser. Wer sich selbst kennt, ist klug. Wer Menschen überwindet, hat Kraft. Wer sich selbst überwindet, ist stark. Wer weiß, wann er genug hat, ist reich. Wer kräftig handelt, hat Willenskraft. Wer sein Obdach nicht verliert, ist ausdauernd. Wer nach seinem Tode nicht vergessen wird, der hat ein Nachleben.
34. Das große Dao ist überall. Man kann es zu Hilfe nehmen. Alle Dinge stützen sich darauf, sowohl wenn sie entstehen als auch solange sie nicht vergehen. Seine Wirkungen werden nicht »Sein« genannt. Es kleidet und nährt alle Dinge, ohne sie gestaltend zu beherrschen. Das beständige Nichts strebt nur. Man kann es nach dem »Winzigen« benennen. Alle Dinge kehren immer wieder zu ihm zurück, ohne daß es sie gestaltend beherrscht. Man kann es auch dasjenige nennen, welches »Großes« bewirkt, denn schließlich bewirkt keines derselben von sich aus Großes. Eben darum kann es sie vollkommen groß machen.
35. Man halte sich an die Erscheinungen des Großen! Alles in der Welt kommt und geht, und in diesem Wandeln kommt nichts zu Schaden. Ruhe und Frieden ist das Höchste. Wenn der reisende Gast bei Musik und Leckereien halt macht, dann ist er am weitesten entfernt vom Dao. Fade nämlich schmeckt sein Nichts dem Geschmack. Sein Anblick bietet nicht genug zum Sehen, sein Geräusch nicht genug zum Hören, sein Gebrauch nicht genug, um damit auszulangen.
36. Bevor etwas sich zusammenziehen will, muß es erst einmal ausgedehnt sein. Bevor etwas schwach werden will, muß es erst einmal stark sein. Bevor etwas sich vermindern will, muß es sich erst einmal vermehrt haben. Bevor etwas nehmen will, muß es erst einmal geben. Das nenne ich »Aufklärung über das Feinste«. Das Feine und Schwache geht über das Harte und Starke. Fische kann man nicht in der Tiefsee fangen. Die schärfste Bewehrung des Staates kann man den Menschen nicht vorzeigen.
37. Das Dao ist beständig Nichts, das gestaltet, aber auch Nichts, das nicht gestaltet. Wenn die Adligen und Könige es bewahren können, dann werden die Dinge dahin geführt, sich von selbst zu verändern. Durch die Veränderung wollen sie schaffen. Ich leite und schütze sie durch das Einfache, das Nichts heißt. Das »Nichts« genannte Einfache bringt sie auch dahin, Nichts zu erstreben, (d. h.) nicht zu streben in stiller Ruhe. Die Dinge unter dem Himmel werden dazu gebracht, sich selbst Gestalt zu geben.
Ausgewählte Ausgaben von
Dao De Jing
|
Buchempfehlung
1587 erscheint anonym im Verlag des Frankfurter Druckers Johann Spies die Geschichte von Johann Georg Faust, die die Hauptquelle der späteren Faustdichtung werden wird.
94 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro