Kapitel V.

Von der Wahrheit im allgemeinen

[423] § 1. Philalethes. Viele Jahrhunderte hat man schon gefragt, was die Wahrheit ist. Die Unsrigen glauben, daß es die Verbindung oder Trennung der Zeichen gemäß der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der[423] Dinge unter sich ist. Unter der Verbindung oder Trennung der Zeichen muß verstanden werden, was man sonst einen Satz (Urteil) nennt.

Theophilus. Aber ein Beiwort macht noch keinen Satz, z.B. der weise Mensch, obgleich dabei eine Verbindung zweier Ausdrücke stattfindet. Auch ist Negation etwas ganz anderes als Trennung, denn wenn ich sage; Mensch und nach einem kleinen Zwischenraume ausspreche: weise, so negiere ich nicht. Die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ist auch nicht eigentlich das, was man durch den Satz ausdrückt. Zwei Eier stehen in Übereinstimmung, zwei Feinde in Nichtübereinstimmung. Es handelt sich hier um eine ganz besondere Art des Übereinkommens oder Nichtübereinkommens. Ich glaube also, daß jene Definition den Punkt, um welchen es sich handelt, nicht erklärt. Aber was mir an Ihrer Definition der Wahrheit am wenigsten gefällt, ist, daß man dabei die Wahrheit in den Worten sucht. Also würde derselbe Sinn, in Latein, Deutsch, Englisch, Französisch ausgedrückt, nicht dieselbe Wahrheit sein, und man würde mit Hobbes sagen müssen, daß die Wahrheit vom menschlichen Belieben abhängt, was doch auf eine sehr sonderbare Art sprechen wäre. Man schreibt die Wahrheit sogar Gott zu, welcher, wie Sie mir, glaube ich, zugeben werden, keine Zeichen nötig hat. Endlich habe ich mich schon mehr als einmal über die Grille Ihrer Freunde gewundert, daß sie sich darin gefallen, die Wesenheiten, Arten und Wahrheiten zu etwas Nominellem zu machen.

Philalethes. Übereilen Sie sich nicht! Unter den Zeichen verstehen sie die Vorstellungen. Also werden die Wahrheiten entweder Gedanken– oder nominelle Wahrheiten sein, je nach den Arten der Zeichen.

Theophilus. Wir werden also auch noch Buchstabenwahrheiten bekommen, die man wieder in Papier-oder Pergamentwahrheiten, in Wahrheiten gewöhnlicher Schreibtinte oder Druckerschwärze unterscheiden könnte, wenn man die Wahrheiten nach den Zeichen unterscheiden muß. Es ist also vorzuziehen, die Wahrheiten in die Beziehung, welche unter den Gegenständen der Vorstellungen stattfindet, zu setzen, wonach die eine in der anderen enthalten oder nicht enthalten ist. Dies hängt von den Sprachen nicht ab und ist uns mit Gott und den Engeln gemein; und[424] wenn Gott uns eine Wahrheit offenbart, so erlangen wir diejenige, welche seinem Verstande innewohnt, denn obgleich zwischen seinen und unseren Vorstellungen ein unendlicher Unterschied stattfindet, sowohl was Vollendung als was Umfang anbetrifft, so bleibt doch immer wahr, daß wir in derselben Beziehung mit ihm übereinstimmen. Also muß man die Wahrheit in diese Beziehung setzen, und wir können zwischen den von unserem Belieben unabhängigen Wahrheiten und zwischen den Ausdrücken unterscheiden, welche wir, wie es uns gut scheint, erfinden.

§ 3. Philalethes. Es ist nur zu wahr, daß die Menschen selbst in ihrem Innern die Worte an die Stelle der Dinge setzen, besonders wenn die Vorstellungen zusammengesetzt und unbestimmt sind. Aber wie Sie bemerkt haben, ist es auch ebenso wahr, daß der Geist sich alsdann begnügt, nur die Wahrheit zu bezeichnen, ohne sie für den Augenblick zu verstehen, weil er überzeugt ist, daß es, sie zu verstehen, von ihm abhängt, wenn er will. Übrigens ist die Handlung, welche man beim Bejahen oder Verneinen ausübt, leichter zu begreifen, indem man das, was in uns vorgeht, überdenkt, als es leicht ist, es in Worten klar zu machen. Wollen Sie es darum nicht übel finden, wenn man in Ermangelung eines Besseren von Zusammenfügen oder Trennen gesprochen hat. § 8. Auch werden Sie zugeben, daß die Sätze wenigstens als Wortsätze bezeichnet werden können, und daß, wenn sie wahr sind, sie zugleich Wortsätze und Realsätze sind, denn (§ 9) die Falschheit besteht darin, die Worte anders zu verbinden, als die Begriffe davon miteinander übereinkommen oder nicht übereinkommen. Wenigstens (§ 10) sind die Worte wichtige Förderungsmittel der Wahrheit. § 11. Auch gibt es eine moralische Wahrheit, die darin besteht, von den Dingen unserer Überzeugung gemäß zureden; endlich eine metaphysische Wahrheit, welche das reale Dasein der Dinge ist, wie es unseren Vorstellungen davon entspricht.

Theophilus. Die moralische Wahrheit wird von einigen Wahrhaftigkeit genannt; und die metaphysische Wahrheit pflegen die Metaphysiker gewöhnlich als ein Attribut des Seins zu betrachten, aber es ist ein sehr unnützes und fast sinnloses Attribut. Begnügen wir uns,[425] die Wahrheit in der Übereinstimmung der in unserem Geiste vorhandenen Vorstellungen mit den Dingen, um die es sich handelt, zu suchen. Allerdings habe ich auch die Wahrheit den Vorstellungen beigelegt, indem ich sagte, daß die Vorstellungen wahr oder falsch sind; aber dann verstehe ich das in der Tat von der Wahrheit der Sätze, welche die Möglichkeit des Gegenstandes der Vorstellung bejahen. Und in diesem selbigen Sinne kann man auch sagen, daß ein Wesen wahr ist d.h. der Satz, der sein wirkliches oder wenigstens mögliches Dasein bejaht.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 423-426.
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