Kapitel X.

Von unserer Erkenntnis des Daseins Gottes

[472] § 1. Philalethes. Gott, welcher unserer Seele die Vermögen gegeben hat, mit denen sie ausgerüstet ist, hat sich nicht unbezeugt gelassen, denn die Sinne, der Verstand und die Vernunft liefern uns offenbare Proben seines Daseins.

Theophilus. Gott hat nicht allein der Seele, ihn zu erkennen, geeignete Vermögen gegeben, sondern ihr auch Charakterzüge eingeprägt, welche auf ihn hinweisen, obgleich sie dieser Züge sich bewußt zu werden, Vermögen nötig hat. Ich will aber nicht wiederholen, was unter uns über die angeborenen Vorstellungen und Wahrheiten, unter die ich die Vorstellung von Gott und die Wahrheit seines Daseins zähle, verhandelt worden ist; kommen wir lieber zur Sache.

Philalethes. Mag nun auch das Dasein Gottes die durch die Vernunft am leichtesten zu erweisende Wahrheit sein, und deren Evidenz, wenn ich mich nicht täusche, der der mathematischen Beweise gleichkommen, so fordert sie doch Aufmerksamkeit. Es ist zunächst nötig, auf uns selbst und auf unser eigenes unzweifelhaftes Dasein zu reflektieren. § 2. Somit setze ich voraus, daß jeder[472] erkennt, es gebe etwas wirklich Daseiendes und also ein wirkliches Wesen. Wenn es jemand gibt, der an seinem eigenen Dasein zweifeln kann, so erkläre ich, mit ihm nicht zu verhandeln. § 3. Wir wissen ferner durch eine Erkenntnis einfacher Art, daß das bloße Nichts kein wirkliches Wesen hervorbringen kann. Daraus folgt mit mathematischer Evidenz, daß von aller Ewigkeit her etwas dagewesen ist, weil alles, was einen Anfang hat, durch irgend etwas anderes erzeugt worden sein muß. § 4. Nun empfängt jedes Wesen, das sein Dasein von einem anderen erhält, von diesem auch alles das, was es hat, und alle seine Vermögen. Darum ist die ewige Quelle aller Wesen auch das Prinzip aller ihrer Kräfte, dergestalt, daß dies ewige Wesen auch allmächtig sein muß. § 5. Weiter findet der Mensch in sich Erkenntnis. Also gibt es ein mit Verstand begabtes Wesen. Nun ist unmöglich, daß ein der Erkenntnis und Wahrnehmung gänzlich entbehrendes Ding ein mit Verstand begabtes Wesen hervorbringe, und der Vorstellung des der Empfindung baren Stoffes ist es zuwider, in sich selbst Empfindung hervorzubringen. Darum ist die Quelle der Dinge mit Verstand begabt, und es hat ein mit Verstand begabtes Wesen von aller Ewigkeit her gegeben. § 6. Ein ewiges, höchst mächtiges und verständiges Wesen ist das, was man Gott nennt. Sollte sich jemand finden, der unvernünftig genug wäre, vorauszusetzen, daß der Mensch das einzige Wesen ist, das Erkenntnis und Weisheit besitzt, trotzdem aber durch den bloßen Zufall gebildet worden sei, und daß dies nämliche blinde und erkenntnislose Prinzip es sei, welches das ganze übrige Weltall leite, so fordere ich ihn auf, den durchaus begründeten und nachdrücklichen Tadel Ciceros (über die Gesetze, Buch II) mit Muße zu prüfen. Sicherlich, so sagt dieser, darf niemand von so törichtem Stolze sein, sich einzubilden, daß es in ihm einen Verstand und eine Vernunft gibt, und es doch keinen Verstand gebe, der dies ganze weite Weltall regiere. Aus dem eben Bemerkten folgt klar, daß wir von Gott eine sicherere Erkenntnis als von irgend einem anderen Dinge außer uns haben.

Theophilus. Wie ich mit vollkommener Aufrichtigkeit versichere, tut es mir außerordentlich leid, etwas gegen[473] diese Beweisführung sagen zu müssen, ich tue es aber nur, um Ihnen Gelegenheit zu geben, eine Lücke darin auszufüllen. Und zwar besonders an der Stelle, wo Sie schließen, daß etwas von aller Ewigkeit her dagewesen ist. Ich finde darin etwas Zweideutiges, wenn es sagen will, daß es niemals eine Zeit gegeben hat, wo nichts da war. Das gestehe ich zu, und es folgt in Wahrheit aus den vorausgehenden Sätzen mittels einer ganz mathematischen Konsequenz. Denn wenn es jemals nichts gegeben hätte, so würde es immer nichts gegeben haben, da das Nichts kein Seiendes hervorbringen kann; wir würden also nicht sein, was gegen die erste Erfahrungswahrheit streitet. Aber die Folge zeigt sofort, daß wenn Sie sagen, es sei etwas von aller Ewigkeit her dagewesen, Sie darunter ein ewiges Etwas verstehen. Das folgt indessen nicht auf Grund dessen, was Sie bis dahin vorgebracht haben, daß, wenn es immer etwas gegeben hat, dies ein gewisses Etwas d.h. ein ewiges Wesen gewesen ist. Denn gewisse Gegner werden sagen, daß das Ich durch andere Dinge hervorgebracht worden sei, und diese Dinge wieder durch andere. Wenn ferner einige die Annahme ewiger Wesen machen, (wie die Epikureer die ihrer Atome), so werden sie sich deswegen noch nicht für verbunden halten, ein ewiges Wesen zuzugestehen, welches allein die Quelle aller übrigen ist. Denn wenn sie auch anerkennen würden, daß das, was das Dasein verleiht, auch die anderen Eigenschaften und Kräfte der Sache verleiht, so können sie doch leugnen, daß ein einziges Ding den übrigen das Dasein gibt, und sogar behaupten, daß zu jedem Dinge mehrere andere beitragen müssen. So werden wir dadurch allein niemals zu einer Quelle aller Kräfte gelangen. Gleichwohl ist es sehr vernünftig, anzunehmen, daß es nur eine und dieselbe gibt und das Weltall mit Weisheit regiert wird. Wenn man aber den Stoff für der Empfindung fähig hält, so wird man auch geneigt sein, es nicht für unmöglich zu halten, daß er dieselbe hervorbringen könne. Wenigstens wird es schwer sein, einen Beweis beizubringen, welcher zugleich zeigt, daß sie dazu gänzlich unfähig ist; und gesetzt, daß unser Denken von einem denkenden Wesen ausgebt, kann man, ohne Nachteil des Beweises, als zugestanden annehmen, daß dies Gott sein muß?[474]

§ 7. Philalethes. Ich zweifle nicht, daß der ausgezeichnete Mann, von dem ich diesen Beweis entlehnt habe, imstande ist, ihn zu vervollkommnen, und ich will versuchen, ihn dazu zu veranlassen, weil er der Welt keinen größeren Dienst leisten könnte. Sie selbst wünschen es. Dies macht mich glauben, daß Sie nicht annehmen, man müsse, um den Atheisten den Mund zu schließen, alles auf das Dasein der Vorstellung Gottes in uns begründen, wie einige tun, die sich an diese ihre Lieblingsentdeckung allzu stark halten und soweit gehen, alle die übrigen Beweise des Daseins Gottes zu verwerfen oder wenigstens sie abzuschwächen zu versuchen und deren Anwendung zu verbieten, als wenn sie schwach oder falsch wären. Und doch sind im Grunde genommen dies die Beweise, welche uns so klar und auf eine so überzeugende Weise das Dasein dieses höchsten Wesens durch die Erwägung unseres eigenen Daseins und der sinnlich wahrnehmbaren Teile des Universums zeigen, daß meiner Meinung nach kein weiser Mann ihnen widerstehen kann.

Theophilus. Obschon ich für die angeborenen Vorstellungen und besonders die Gottes, eingenommen bin, so glaube ich doch nicht, daß die aus der Vorstellung von Gott hergenommenen Beweise der Kartesianer vollkommen sind. Ich habe hinlänglich anderswo gezeigt (in den Acta Lipsiensia und in den Memoiren von Trevoux), daß derjenige, welchen Descartes dem Anselm, Erzbischof von Canterbury, entlehnt hat, in Wahrheit sehr schön und geistreich ist, daß es darin aber noch eine Lücke auszufüllen gibt. Jener berühmte Erzbischof, der ohne Zweifel einer der fähigsten Männer seiner Zeit gewesen ist, wünscht sich nicht ohne Grund Glück, ein Mittel gefunden zu haben, das Dasein Gottes a priori, durch seinen eigenen Begriff, gefunden zu haben, ohne auf die Wirkungen zurückzugehen. Folgendes etwa ist der Gang seines Beweises: Gott ist das größte oder, wie Descartes es ausdrückt: das vollkommenste der Wesen oder auch ein Wesen von äußerster Größe und Vollkommenheit, das alle Grade derselben in sich schließt. Dies also ist der Begriff Gottes. Sehen wir nun, wie aus diesem Begriffe das Dasein folgt. Es ist etwas mehr, da zu sein, als nicht da zu sein, oder auch das Dasein[475] fügt der Größe oder der Vollkommenheit einen Grad hinzu, und wie Descartes es ausspricht, das Dasein ist selbst eine Vollkommenheit. Darum ist dieser Grad von Größe und Vollkommenheit oder auch diese Vollkommenheit, welche im Dasein besteht, in diesem höchsten, durchaus großen, ganz vollkommenen Wesen, denn sonst würde ihm ein Grad fehlen, was gegen seine Definition wäre. Und folglich ist dies höchste Wesen da. Die Scholastiker, ohne selbst ihren doctor angelicus auszunehmen, haben diesen. Beweis verachtet und ihn als einen Paralogismus betrachtet, worin sie sehr unrecht gehabt haben; und Descartes, welcher die scholastische Philosophie im Kolleg der Jesuiten zu La Flèche lange genug studiert hatte, hat sehr recht gehabt, ihn wieder zu Ehren zu bringen. Es ist nicht ein Paralogismus, sondern ein unvollständiger Beweis, der etwas voraussetzt, was man noch hätte beweisen sollen, um ihm mathematische Evidenz zu verleihen – nämlich, daß man dabei stillschweigend voraussetzt, diese Vorstellung des durchaus großen oder durchaus vollkommenen Wesens sei möglich und enthalte keinen Widerspruch. Und es ist schon etwas, daß man durch, diese Bemerkung beweist: gesetzt, daß Gott möglich ist, so ist er, was das Privilegium der Gottheit allein ist. Man hat recht, die Möglichkeit eines jeden Wesens anzunehmen und vor allem die Gottes, bis ein anderer das Gegenteil beweist. Somit gibt dieser metaphysische Beweis schon einen moralischen zwingenden Schluß ab, wonach wir dem gegenwärtigen Stande unserer Erkenntnisse zufolge urteilen müssen, daß Gott da sei, und demgemäß handeln. Es wäre aber doch zu wünschen, daß gescheite Männer den Beweis mit der Strenge einer mathematischen Evidenz vollendeten; ich glaube anderswo etwas ausgesprochen zu haben, was dazu dienen könnte. Der andere Beweis Descartes', welcher das Dasein Gottes darzutun unternimmt, weil dessen Vorstellung in unserer Seele ist, und sie von ihrem Urbild herstammen muß, ist noch weniger bündig. Denn erstlich hat dieser Beweis den mit dem vorhergehenden gemeinsamen Fehler, vorauszusetzen, daß sich eine solche Vorstellung in uns findet, d.h. daß Gott möglich ist. Denn was Descartes dafür anführt, daß wir, wenn wir von Gott sprechen, wissen, was wir sagen, und folglich[476] die Vorstellung davon in uns haben, ist ein trügerisches Kennzeichen, weil wir, wenn wir z.B. von der immerwährenden mechanischen Bewegung sprechen, auch wissen, was wir sagen, und diese immerwährende Bewegung doch etwas Unmögliches ist, wovon man folglich nur scheinbar eine Vorstellung haben kann. Und zweitens zeigt dieser nämliche Beweis gar nicht, daß die Vorstellung von Gott, wenn wir sie haben, von ihrem Urbilde herkommt. Ich will mich jedoch jetzt nicht damit aufhalten. Sie werden mir sagen, daß wenn wir in uns die angeborene Vorstellung Gottes anerkennen, ich nicht sagen dürfe, es könne zweifelhaft sein, ob es eine solche gibt. Ich lasse aber diesen Zweifel nur zu hinsichtlich einer strikten Beweisführung, die ganz allein auf die Vorstellung begründet ist. Denn man ist auch sonst der Vorstellung und des Daseins Gottes hinlänglich versichert. Auch werden Sie sich erinnern, daß ich gezeigt habe, wie die Vorstellungen in uns sind – nicht immer auf die Art, daß man derselben sich bewußt ist, aber immer so, daß man sie aus seinem eigenen Innern hervorziehen und ins Bewußtsein erheben kann. Und dies glaube ich auch von der Vorstellung Gottes, dessen Möglichkeit und Dasein ich auf mehr als eine Art für bewiesen halte. Und die vorherbestimmte Harmonie liefert dazu ein neues unbestreitbares Mittel. Übrigens glaube ich, daß fast alle zum Beweise des Daseins Gottes angewandten Mittel gut sind und dienen mögen, wenn man sie vervollkommnete, und bin keineswegs der Meinung, daß man den aus der Ordnung der Dinge zu gewinnenden Beweis vernachlässigen dürfe.

§ 9. Philalethes. Es wird vielleicht angemessen sein, ein wenig bei der Frage stehen zu bleiben, ob ein denkendes Wesen von einem nicht denkenden und aller Empfindung und Erkenntnis baren Wesen, einem solchen, wie die Materie sein könnte, herstammen kann. § 10. Nun ist selbst das klar, daß ein Teil der Materie unfähig ist, aus sich etwas hervorzubringen und sich Bewegung zu verleihen. Also muß seine Bewegung entweder ewig oder ihm durch ein mächtigeres Wesen eingeprägt sein. Wenn nun diese Bewegung ewig wäre, so würde sie doch immer unfähig sein, Erkenntnis hervorzubringen. Man teile sie in so viel kleine Teile, als man[477] will, gleichsam um sie zu spiritualisieren, man gebe ihr alle Gestalten und alle Bewegungen, die man ihr geben kann, man mache daraus eine Kugel, einen Würfel, ein Prisma, einen Zylinder usw., deren Durchmesser nur den millionsten Teil eines Gry beträgt, welches der zehnte Teil einer Linie, des zehnten Teiles eines Zolls, des Zehntels eines Fußes ist, der das Drittel eines Pendels ausmacht, von dem jede Schwingung unter dem 45. Breitengrade eine Sekunde dauert. Mag dieses Stoffteilchen noch so klein sein, so wird es auf Körper von einer ihm proportionalen Größe nicht anders wirken, als die Körper von einem Zoll oder Fuß Durchmesser aufeinander wirken. Und man darf mit ebensoviel Grund hoffen, Empfindung, Gedanken und Erkenntnis dadurch hervorzubringen, daß man die groben Stoffteile von gewisser Gestalt und Bewegung zusammenfügt, als mittels der kleinsten Stoffteilchen, die es auf der Welt gibt. Diese letzteren hemmen, stoßen und widerstehen einander gerade wie die groben, und das ist alles, was sie vermögen. Wenn aber die Materie aus ihrem Innern die Empfindung, die Wahrnehmung und die Erkenntnis unmittelbar und ohne Hilfsmittel oder ohne Hilfe der Gestalten und der Bewegungen hervorrufen könnte, so müßte in diesem Falle, sie zu besitzen, eine von der Materie und allen ihren Teilen untrennbare Eigenschaft sein. Dem könnte man hinzufügen, daß auch die allgemeine und besondere Vorstellung, welche wir von der Materie haben, uns von ihr zu reden veranlaßt, als wenn sie ein der Zahl nach Einziges wäre, während die gesamte Materie eigentlich kein individuelles Ding ist, das wie ein materielles Wesen da ist, oder als ein besonderer Körper, den wir kennen oder uns denken können. Ware daher die Materie das erste, ewige denkende Wesen, so würde es nicht ein einziges ewiges, unendliches und denkendes Wesen geben, sondern eine unendliche Zahl ewiger, unendlicher denkender Wesen, die voneinander unabhängig wären, deren Kräfte beschränkt und deren Gedanken voneinander verschieden sein würden, und die folglich niemals diejenige Ordnung, Harmonie und Schönheit hervorrufen könnten, welche man in der Natur bemerkt. Daraus folgt notwendig, daß das erste ewige Wesen nicht die Materie sein kann. Hoffentlich werden[478] Sie von dieser, dem berühmten Urheber der vorhergehenden Beweisführung entnommenen Darstellung mehr befriedigt sein, als Sie von seiner Beweisführung gewesen zu sein schienen.

Theophilus. Ich finde die jetzige Darstellung durchaus triftig und nicht allein scharf, sondern auch tief und ihres Verfassers würdig. Ich bin durchaus seiner Meinung, daß es keine Kombination und Modifikation der Teile der Materie gibt, mögen sie noch so klein sein, die Wahrnehmung hervorbringen könnte, während die großen Teile, wie man offenbar erkennt, sie nicht verleihen können, und daß alles in den kleinen Teilen dem, was in den großen vorgehen kann, proportional ist. Auch ist die vom Verfasser hierbei gemachte Bemerkung über die Materie wichtig, daß man sie nicht für ein der Zahl nach einziges Ding nehmen darf oder wie ich zu sagen pflege, für eine wahre und vollkommene Monade oder Einheit, weil sie nur eine Anhäufung einer unendlichen Zahl von Wesen ist. Hier hätte es für diesen vortrefflichen Schriftsteller nur noch eines Schrittes bedurft, um bei meinem System anzulangen. Denn ich messe in der Tat allen diesen unendlichen Wesen Wahrnehmung bei, von denen ein jedes gleichsam ein Organismus ist, begabt mit einer Seele (oder einem analogen Tätigkeitsprinzip, welches seine wahre Einheit ausmacht) nebst dem, was solch ein Wesen bedarf, um leidentlich und mit einem organischen Körper begabt zu sein. Nun haben diese Wesen ihre teils tätige, teils leidende Natur (d.h. das, was sie Immaterielles und Materielles haben) von einer allgemeinen und obersten Ursache empfangen, weil sie sonst, wie der Verfasser sehr richtig bemerkt, da sie voneinander unabhängig sind, niemals diejenige Ordnung, diejenige Harmonie, die jenige Schönheit hätten hervorbringen können, welche man in der Natur bemerkt. Dieser Beweis aber, welcher uns von moralischer Gewißheit zu sein scheint, wird durch die von mir eingeführte neue Art von Harmonie, welche die vorherbestimmte Übereinstimmung ist, zu einer durchaus metaphysischen Notwendigkeit gesteigert. Denn da jede dieser Seelen das, was außer ihr vorgeht, auf ihre Art ausdrückt, und diese nicht durch irgend welchen Einfluß der anderen besonderen Wesen erhalten haben kann, vielmehr diesen[479] Ausdruck aus dem eigenen Innern ihrer Natur hervorbringen muß, so maß eine jegliche notwendig diese Natur (oder diesen inneren Grund, das für sie Äußere auszudrücken) von einer allgemeinen Ursache empfangen haben, von der diese Wesen alle abhangen und welche das eine mit dem anderen vollkommen in Übereinstimmung und Korrespondenz setzt. Dies kann nicht ohne unendliche Erkenntnis und Macht und nur durch eine so große Kunst – vor allem hinsichtlich der spontanen Mitwirkung des mechanischen Teils mit den Handlungen der vernünftigen Seele – geschehen, daß ein berühmter Schriftsteller, welcher in seinem bewundernswürdigen Wörterbuch dagegen Einwendungen machte, fast zweifelte, ob es nicht über alle mögliche Weisheit hinausginge, indem er sagte, daß die Weisheit Gottes ihm für eine solche Veranstaltung nicht zu groß erschiene, und so wenigstens anerkannte, daß man von den schwachen Begriffen, die wir von der göttlichen Vollkommenheit haben können, noch niemals einen so erhabenen Ausdruck gegeben habe.

§ 12. Philalethes. Wie erfreuen Sie mich durch ihre Übereinstimmung Ihrer Gedanken mit denen meines Autors! Hoffentlich werden Sie mir nicht übel nehmen, daß ich Ihnen noch seine fernere Betrachtung über diesen Gegenstand mitteile. Zuerst prüft er, ob das denkende Wesen, von dem alle übrigen verstandesbegabten Wesen abhangen (und also um so mehr noch alle die übrigen Wesen), materiell ist oder nicht? § 13. Er macht sich den Einwurf, daß ein denkendes Wesen materiell sein könne. Aber er antwortet auch, daß wenn dies auch der Fall wäre, es genug sei, daß dies ein ewiges Wesen ist, welches eine unendliche Wissenschaft und Macht hat. Wein ferner das Denken und die Materie getrennt werden können, so würde das ewige Dasein der Materie nicht die Folge des ewigen Daseins eines denkenden Wesens sein. § 14. Man kann noch diejenigen, welche Gott in einem materiellen Wesen machen, fragen, ob sie glauben, daß jeder Teil der Materie denkt. In diesem Fall würde daraus folgen, daß es so viel Götter gäbe, als Teile der Materie. Wenn aber nicht jeder Teil der Materie denkt, so bekommen wir wieder ein denkendes aus nicht denkenden Teilen zusammengesetztes Wesen,[480] das schon widerlegt worden ist. Sagen, daß nur irgend ein Atom der Materie denkt und die anderen obwohl in gleicher Weise ewigen Teile derselben nicht denken, heißt ohne Grund behaupten, daß ein Teil der Materie unendlich über den anderen erhaben ist und denkende, nicht ewige Wesen hervorbringt. § 16. Will man, daß das denkende, ewige und materielle Wesen eine bestimmte, besondere Zusammenhäufung von Materie ist, deren Teile nicht denkende sind, so fällt man in das schon widerlegte zurück: denn die Teile der Materie mögen immerhin verbunden sein, sie können dadurch doch nur eine neue örtliche Beziehung gewinnen, die ihnen die Erkenntnis nicht mitteilen kann. § 17. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Anhäufung in Buhe oder in Bewegung ist. Wenn sie in Buhe ist, so ist sie nur ein untätiger Haufen, welcher kein Vorrecht vor einem einzelnen Atom hat; wenn sie in Bewegung ist, so müssen, da diese vor anderen Teilen sich auszeichnende Bewegung das Denken hervorbringen soll, alle diese Gedanken zufällig und beschränkt sein, denn jeder Teil für sich ist ohne Gedanken und besitzt nichts, was seine Bewegungen regelt. So würde es also dabei weder Freiheit noch Wahl noch Weisheit geben, ebensowenig als in der einfachen vernunftlosen Materie.

§ 18. Andere mögen glauben, daß die Materie mit Gott wenigstens gleich ewig sei. Aber sie sagen nicht warum; auch ist die Erzeugung eines denkenden Wesens, die sie zugeben, noch weit schwieriger als die der weniger vollkommenen Materie. Und wenn wir uns, sagt der Verfasser, vielleicht ein wenig von den gewöhnlichen Vorstellungen entfernen, unserem Geiste Schwung geben und uns auf eine tiefere Untersuchung, die wir über die Natur der Dinge anstellen könnten, einlassen wollten, so würden wir so weit kommen, auf eine wenn auch unvollkommene Art zu begreifen, wie die Materie anfänglich geschaffen worden sei, und wie sie durch die Macht dieses ersten ewigen Wesens dazusein angefangen hat. Aber zugleich würde man sehen, daß, einem Geiste das Sein zu verleihen, eine viel schwerer zu begreifende Wirkung dieser ewigen und unendlichen Macht ist. Aber weil mich dies, (fügt er hinzu), vielleicht zu weit von den Begriffen entfernen würde, [481] auf welche die Philosophie gegenwärtig in der Welt gegründet ist, so würde es unverzeihlich sein, mich so viel davon zu entfernen und zu untersuchen, so viel als die Grammatik es verstatten mag, ob im Grunde die gewöhnlich angenommene Meinung jener besonderen Ansicht zuwiderläuft; ich würde unrecht haben, sage ich, mich auf diese Untersuchung einzulassen, besonders auf diesem Fleck der Erde, wo die angenommene Lehre für meinen Zweck gut genug ist, weil sie als etwas Unzweifelhaftes hinstellt, daß, wenn man einmal die Schöpfung oder das Anfangen irgend einer aus dem Nichts hervorgetretenen Substanz setzt, man mit derselben Leichtigkeit die Schöpfung jeder anderen Substanz, den Schöpfer selbst ausgenommen, annehmen kann.

Theophilus. Sie haben mir ein wahres Vergnügen damit bereitet, mir von einem tiefen Gedanken Ihres gelehrten Autors etwas berichtet zu haben, den ganz und gar vorzubringen seine nur zu peinliche Vorsicht ihn verhindert hat. Es wäre sehr schade, wenn er ihn unterdrückte und uns da stehen ließe, nachdem er uns das Verlangen danach so heftig erregt. Ich versichere Sie meiner Überzeugung, daß unter dieser Art von Rätsel etwas Schönes und Bedeutendes verborgen ist. Das groß gedruckte »Substanz« läßt mich argwöhnen, daß er die Hervorbringung der Materie sich so wie die der Akzidenzien denkt, welche aus dem Nichts zu ziehen keine Schwierigkeit hat; und wenn er sein besonderes Denken von der gegenwärtig in der Welt oder auf diesem Fleck der Erde begründeten Philosophie unterscheidet, so hat er vielleicht die Platoniker im Auge, welche die Materie für etwas nach der Art der Akzidenzien Flüchtiges und Vorübergehendes nahmen und von den Geistern und Seelen eine ganz andere Vorstellung hatten.

§ 19. Philalethes. Wenn endlich einige die Schöpfung, durch welche die Dinge aus nichts gemacht sind, weil sie sie nicht begreifen können, leugnen, so hält unser Autor, der eher geschrieben hat, als er von Ihrer Entdeckung hinsichts der Ursache der Einheit von Seele und Leib wußte, ihnen entgegen, daß sie auch nicht begreifen, wie die willkürlichen Bewegungen in den Körpern durch den Willen der Seele hervorgebracht werden,[482] an welche sie, durch die Erfahrung überzeugt, zu glauben nicht umhin können; und mit Recht erwidert er denen, welche antworten, daß die Seele, da sie keine neue Bewegung hervorbringen kann, nur eine neue Bestimmung der Lebensgeister hervorbringt, er erwidert ihnen, sage ich, daß das eine so unbegreiflich ist, als das andere. Und nichts kann besser gesagt sein, als was er bei dieser Gelegenheit hinzufügt, daß Gott in dem, was er tun kann, auf das für uns Begreifliche beschränken wollen, unserer Fassungskraft eine unendliche Ausdehnung geben oder Gott selbst endlich machen heißt.

Theophilus. Wiewohl gegenwärtig die Schwierigkeit hinsichts der Einheit von Leib und Seele meiner Ansicht nachgehoben ist, so bleiben doch noch andere übrig. Ich habe a posteriori durch die vorherbestimmte Harmonie gezeigt, daß alle Monaden ihren Ursprung aus Gott gewonnen haben und von ihm abhangen. Indessen kann man das Wie im einzelnen nicht begreifen, und ihre Erhaltung ist im Grunde nichts anderes als eine fortwährende Schöpfung, wie die Scholastiker ganz richtig anerkannt haben.

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 472-483.
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