Vorrede

[3] Da die von einem berühmten Engländer veröffentlichte Abhandlung über den menschlichen Verstand eines der schönsten und geschätztesten Werke unserer Zeit ist, so habe ich mich entschlossen, Bemerkungen dazu zu machen, weil ich, nach langem Nachdenken über denselben Gegenstand und den größten Teil der davon berührten Materien, dies für eine gute Gelegenheit halte, darüber etwas unter dem Titel »Neue Abhandlungen über den Verstand« erscheinen zu lassen und meinen Gedanken eine günstige Aufnahme zu verschaffen, indem ich sie in so gute Gesellschaft bringe. Auch glaubte ich die Arbeit eines anderen dazu gebrauchen zu dürfen, um nicht nur die meinige zu verringern (weil es in der Tat weniger Mühe macht, dem Wege eines guten Schriftstellers zu folgen, als in allen Stücken auf eigene Kosten zu arbeiten), sondern um auch dem, was er uns gegeben hat, etwas hinzuzufügen, was immer leichter ist, als von vorn anzufangen. Denn ich glaube, einige von ihm übrig gelassene Schwierigkeiten gehoben zu haben. So gereicht mir sein Ruf zum Vorteil, übrigens gern geneigte Gerechtigkeit zu üben und weit entfernt, die Achtung, welche man für jenes Werk hegt, herabzusetzen, würde ich sie vielmehr vergrößern, wenn mein Beifall von Gewicht wäre.

Allerdings bin ich oft ganz anderer Ansicht als er; aber weit entfernt, das Verdienst jenes berühmten Schriftstellers darum in Abrede zu stellen, lasse ich ihm vielmehr Gerechtigkeit widerfahren, indem ich angebe, worin und warum ich mich von seiner Meinung entferne, wann ich es zu verhüten für notwendig halte, daß sein Ansehen in einigen wesentlichen Punkten der Sache selbst Abbruch tue. Indem man ausgezeichneten Männern Genugtuung[3] widerfahren läßt, macht man die Wahrheit nur um so willkommener, denn für sie, wie man anzunehmen hat, haben sie ja besonders sich bemüht. Obgleich der Verfasser der Abhandlung außerordentlich viel Gutes beibringt, dem ich beistimme, so sind doch in der Tat unsere Systeme bedeutend voneinander verschieden. Das seinige hat mehr Verwandtschaft mit Aristoteles, und das meinige mit Plato, obwohl wir uns in vielen Stücken alle beide von der Lehre dieser zwei Alten entfernen. Er ist allgemein verständlicher, und ich für meinen Teil bin mitunter gezwungen, ein wenig mehr akroamatisch und abstrakt zu sein, was für mich, zumal ich in einer lebenden Sprache schreibe, kein Vorteil ist. Indessen glaube ich dadurch, daß ich zwei Personen redend einführe, wovon die eine die aus der Abhandlung unseres Verfassers gezogenen Ansichten vorträgt, die andere meine Bemerkungen hinzufügt, die Parallele dem Leser zugänglicher zu machen, als es ganz trockene Bemerkungen tun würden, deren Lektüre in jedem Augenblick durch die Notwendigkeit unterbrochen würde, auf sein Buch zurückzugehen, um das meinige zu verstehen. Es wird jedoch gut sein, mitunter unsere Schriften noch zu vergleichen und seine Ansichten nur aus seinem eigenen Werke zu beurteilen, obgleich ich in der Regel dessen Ausdrücke beibehalten habe. Allerdings hat der durch den fremden Vortrag auferlegte Zwang, daß man mit seinen Bemerkungen dem Faden jenes folgen muß, bewirkt, daß ich das Anmutige des dialogischen Vertrags zu treffen nicht erwarten durfte, aber ich hoffe, daß der Inhalt selbst das Mangelhafte der Form gut machen wird.

Die Verschiedenheit unserer Ansichten betrifft gar wichtige Gegenstände. Es handelt sich darum, zu wissen, ob nach Aristoteles und dem Verfasser der Abhandlung die Seele an und für sich ganz leer ist, wie eine noch unbeschriebene Schreibtafel (tabula rasa), und ob alles, was darauf verzeichnet ist, einzig von den Sinnen und der Erfahrung herrührt, oder ob die Seele ursprünglich die Prinzipien mehrerer Begriffe und Lehren, welche die äußeren Gegenstände nur gelegentlich in ihr wieder erwecken, in sich erhält, wie ich es mit Plato und selbst mit der Schulphilosophie und mit allen denen glaube, welche in dieser Bedeutung die Stelle des h. Paulus[4] (Br. a. d. Röm. K. 2 V. 15) nehmen, worin er bemerkt, daß das Gesetz Gottes in die Herzen geschrieben sei. Die Stoiker, nannten diese Prinzipien Gemeinbegriffe (Notiones communes, prolêpseis) d.h. Grundannahmen oder das, was man von vornherein als zugestanden setzt. Die Mathematiker nennen sie auch Gemeinbegriffe (notiones communes, koinas ennoias). Die neueren Philosophen geben ihnen andere schöne Namen, und Julius Scaliger insbesondere nannte sie semina aeternitates (Samenkörner der Ewigkeit), ebenso Zopyra, als ob er sagen wollte: lebendiges Feuer, leuchtende, in unserem Innern verborgene Züge, welche die Begegnung der Sinne mit den äußeren Gegenständen gleich den aus einem Gewehr durch das Losdrücken springenden Funken hervorbringt und nicht ohne Grund glaubt man, daß diese Geistesblitze etwas Göttliches und Ewiges zu bedeuten haben, welches vor allem in den notwendigen Wahrheiten erscheint. Daraus entsteht eine andere Frage, ob nämlich alle Wahrheiten von der Erfahrung, d.h. von der Induktion und den Beispielen abhängen, oder ob es deren gibt, welche noch einen anderen Grund haben. Denn wenn manche Ereignisse ohne jede damit gemachte Probe vorher gesehen werden können, so ist offenbar, daß wir etwas von unserer Seite dazu beitragen. Die Sinne mögen zwar für alle unsere tatsächlichen Erkenntnisse not wendig sein, sind aber doch nicht ausreichend, um sie uns alle zu gewähren, weil sie, die Sinne, stets nur Beispiele, d.h. besondere oder individuelle Wahrheiten geben. Nun genügen aber alle Beispiele, die eine allgemeine Wahrheit bestätigen, mögen sie noch so zahlreich sein, nicht, um die allgemeine Notwendigkeit eben dieser Wahrheit darzutun, denn es folgt nicht, daß das, was geschehen ist, immer ebenso geschehen werde. Die Griechen und Römer und alle übrigen Völker haben z.B. von jeher bemerkt, daß vor Ablauf von 24 Stunden der Tag sich in Nacht und die Nacht in Tag wandle. Man würde sich aber sehr geirrt haben, wenn man geglaubt hätte, daß dieselbe Regel überall zutrifft da beim Besuch von Nova Zembla das Gegenteil bemerkt worden ist. Und auch derjenige würde sich sehr täuschen, der da glauben wollte, daß dies wenigstens in unserer Zone eine notwendige und ewige Wahrheit sei, weil man annehmen[5] muß, daß die Erde und selbst die Sonne nicht notwendig existieren, und vielleicht einmal eine Zeit kommt, wo dies schöne Gestirn mit seinem ganzen System, wenigstens in seiner gegenwärtigen Gestalt, nicht mehr sein wird. Daraus erhellt, daß die notwendigen Wahrheiten, wie man solche in der reinen Mathematik, besonders in der Arithmetik und in der Geometrie findet, auf Grundsätzen ruhen müssen, deren Beweis nicht von den Beispielen und folglich auch nicht vom Zeugnis der Sinne abhängt, obgleich man ohne die Sinne niemals darauf gekommen sein würde, daran zu denken. Dies muß man also sorgfältig unterscheiden und das hat denn auch Euclid sehr wohl begriffen, indem er das, was man durch die Erfahrung und die sinnlichen Bilder hinlänglich erkennen kann, aus der Vernunft beweist. Auch die Logik nebst der Metaphysik und der Moral wovon die erstere die natürliche Theologie die andere die natürliche Rechtswissenschaft bildet, sind voll solcher Wahrheiten, und folglich kann deren Beweis nur aus inneren Grundsätzen, welche man angeboren nennt, stammen. Allerdings darf man sich nicht einbilden, daß man diese ewigen Vernunftgesetze in der Seele wie in einem offenen Buche lesen könne so wie das Edikt des Prätors sich ohne Mühe und Untersuchung aus seinem Album lesen läßt, aber es reicht hin, daß man sie mittels der Aufmerksamkeit in uns entdecken kann, wozu die Sinne die Gelegenheiten bieten. Das Resultat der Erfahrungen dient der Vernunft zur Bestätigung, ungefähr so, wie die Proben in der Arithmetik dazu dienen, Rechnungsfehler besser zu vermeiden, wenn die Berechnung lang ist.

Eben hierin unterscheiden sich denn auch die Erkenntnisse der Menschen von denen der Tiere. Die Tiere sind bloß auf die Erfahrung angewiesen und richten sich nur nach Beispielen denn soviel sich urteilen läßt, kommen sie niemals dahin, notwendige Sätze zu bilden, während die Menschen zu demonstrativen Wissenschaften fähig sind. Das Vermögen der Tiere, Folgerungen zu ziehen, ist daher etwas der den Menschen innewohnenden Vernunft nicht Ebenbürtiges. Die Folgerungen, welche die Tiere machen, sind gleichsam nur die einfacher Empiriker welche behaupten, daß das, was einige Male geschehen ist, noch einmal geschehen werde, wo das ihnen Auffällige wiederkehrt,[6] ohne daß sie dabei beurteilen können, ob wieder dieselben Ursachen obwalten. Das ist der Grund, warum es den Menschen so leicht ist, Tiere zu fangen, und warum es den einfachen Empirikern so leicht ist, Fehler zu machen. Selbst durch Alter und Erfahrung gewiegte Leute sind davon nicht frei, wenn sie sich zu sehr auf ihre Erfahrung verlassen, wie dies manchen in bürgerlichen und kriegerischen Dingen vorgekommen ist. Man zieht alsdann nicht genug in Erwägung, daß die Welt sich ändert und die Menschen geschickter werden, indem sie tausend neue Kunstgriffe erfinden, während die Hirsche und Hasen der Gegenwart nicht schlauer sind, als die der Vergangenheit. Die Folgerungen der Tiere sind nur ein Schatten von Vernunftschlüssen, nämlich nur eine Verknüpfung in der Phantasie und der Übergang von einem Bilde zum anderen, indem sie bei einem neuen Falle, der dem vorhergehenden ähnlich scheint, wieder das erwarten, was sie früher damit verbunden gefunden haben, gleich als ob die Dinge in der Wirklichkeit miteinander verbunden wären, weil ihre Phantasiebilder es im Gedächtnis sind. Allerdings läßt uns die Vernunft erwarten daß das, was einer langen Erfahrung der Vergangenheit entspricht, in der Regel zukünftig wieder geschehen aber dies ist darum doch keine notwendige und untrügliche Wahrheit, und das Resultat kann ausbleiben, wo man es am wenigsten erwartet, wenn nämlich die Ursachen, welche es hervorgebracht haben, wechseln. Aus diesem Grunde verlassen sich die klügsten Leute nicht allzusehr darauf und suchen vielmehr womöglich zur Ursache der Tatsache vorzudringen, um zu beurteilen, wann man Ausnahmen machen muß. Denn die Vernunft allein ist imstande, sichere Regeln aufzustellen und, was den als unsicher erfundenen fehlt, durch Beobachtung der Ausnahmen zu ergänzen, sowie endlich, gewisse Gedankenverbindungen von der Stärke notwendiger Folgerungen zu finden, wodurch man häufig das Mittel erhält, ein Ereignis vorherzusehen, ohne über die sinnlichen Zusammenhänge der Bilder Versuche anstellen zu müssen, worauf die Tiere angewiesen sind. Dergestalt dient das, was die inneren Grundsätze der notwendigen Wahrheiten rechtfertigt, auch zur Unterscheidung des Menschen vom Tiere.[7]

Vielleicht möchte sich unser gelehrter Verfasser von meines Ansicht nicht ganz entfernen. Denn nach dem er sein ganzes erstes Buch darauf verwendet hat, die angeborenen Erkenntnisse, sofern man sie in einem gewissen Sinne nimmt, zu verwerfen, gesteht er gleichwohl zu Anfang des zweiten und in der Folge, daß diejenigen Vorstellungen, welche nicht in der sinnlichen Empfindung ihren Ursprung haben, aus der Reflexion stammen. Nun ist aber die Reflexion nichts anderes als die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist; die Sinne aber gewähren uns das nicht, was wir schon bei uns haben. Ist dies so, kann man dann leugnen, daß es in unserem Geiste viel Angeborenes gebe, da wir sozusagen uns selbst angeboren sind? Und daß es in uns gibt: Sein, Einheit, Substanz, Dauer, Veränderung, Tätigkeit, Wahrnehmung, Vergnügen und tausend andere Gegenstände unserer intellektuellen Vorstellungen? Da eben diese Gegenstände unmittelbare und unserem Verstande stets gegenwärtige sind (obgleich wir uns wegen unserer Zerstreuungen und Bedürfnisse ihrer nicht immer bewußt sind), so kann man sich nicht wundern, wenn wir sagten, daß diese Vorstellungen mit allem, was davon abhängt, uns angeboren sind. Ich habe mich auch der Vergleichung mit einem Stücke Marmor, das Adern hat, lieber bedient, als der mit einem ganz einartigen Marmorstücke oder einer leeren Tafel, nämlich einer solchen, welche bei den Philosophen tabula rasa heißt; denn wenn die Seele dieser leeren Tafel gliche, so würden die Wahrheiten in uns enthalten sein, wie die Figur des Herkules im Marmor, wenn der Marmor vollständig gleichgültig dagegen ist, diese oder irgend eine andere Gestalt zu erhalten. Gäbe es aber in dem Stein Adern, welche die Gestalt des Herkules eher als andere Gestalten anzeigten, so würde dieser Stein dazu mehr angelegt sein, und Herkules wäre ihm in gewissem Sinne wie angeboren, wenn auch Arbeit nötig wäre, um diese Adern zu entdecken und sie durch die Politur zu säubern, indem man alles entfernt, was sie zu erscheinen hindert. In dieser Weise sind uns die Vorstellungen und Wahrheiten als Neigungen, Anlagen, Fertigkeiten oder natürliche Kräfte angeboren, nicht aber als Tätigkeiten, obgleich diese Kräfte immer von gewissen, oft unmerklichen Tätigkeiten, welche ihnen entsprechen, begleitet sind. –[8]

Unser gelehrter Verfasser scheint zu behaupten, daß es in uns nichts Potentielles gebe und sogar nichts, dessen wir uns nicht immer tatsächlich bewußt seien. Aber er kann dies nicht ganz streng nehmen, sonst würde seine Ansicht zu paradox sein, da wir auch die erworbenen Wertigkeiten und Gedächtnisvorräte, obgleich wir uns ihrer nicht immer bewußt sind, und sie uns nicht einmal immer nach Bedürfnis zu Hilfe kommen, häufig doch mit leichter Mühe bei irgend einer kleinen Gelegenheit, die uns dann erinnert, in den Geist zurückrufen, wie man z.B. nur den Anfang eines Liedes, um sich des übrigen wieder zu erinnern, nötig hat. Auch schränkt er an anderen Stellen seinen Satz durch die Bemerkung ein, es gebe in uns nichts, dessen wir uns zum wenigsten nicht früher bewußt gewesen wären. Außerdem aber, daß niemand durch die bloße Vernunft bestimmen kann, bis wie weit unsere ehemaligen Bewußtseinsakte, die wir möglicherweise vergessen haben, sich erstreckt haben mögen, – zumal wenn man der Wiedererinnerungstheorie der Platoniker folgt, welche, so fabelhaft sie auch sein mag, mit der Vernunft, rein für sich genommen, nicht im Widerspruch steht, – außerdem, sage ich, warum müssen wir denn alles durch die Auffassung äußerer Dinge erworben und warum können wir nichts in uns selbst innerlich entdeckt haben? Ist denn unsere Seele allein so leer, daß sie ohne die von außen entlehnten Bilder nichts ist? Das ist doch sicherlich eine Ansicht, welche unser scharfsinniger Verfasser nicht billigen kann. Und wo kann man eine Tafel finden, die nicht in sich irgend eine Unebenheit bietet? Kann man jemals eine vollkommen einartige und gleichmäßige Fläche sehen? Warum sollten wir uns also nicht auch einige Gegenstände des Denkens aus unserem eigenen Grunde verschaffen können, wenn wir darin nachsuchen wollten. Im Grunde genommen ist also, wie ich zu glauben geneigt bin, seine Ansicht über diesen Punkt von der meinigen oder vielmehr von der allgemeinen Ansicht nicht verschieden, sofern er zwei Quellen unserer Erkenntnisse annimmt, die Sinne und die Reflexion.

Ich weiß nicht, ob es so leicht sein wird, jenen Autor mit uns und mit den Kartesianern in Übereinstimmung zu bringen, wenn er annimmt, daß der Geist[9] nicht immer denke, und besonders, daß er ohne sinnliche Empfindung sei, wenn man ohne Träume zu haben schläft. Er sagt, da die Körper ohne Bewegung sein können, könnten die Seelen ebensogut ohne Denken sein. Aber da antworte ich ein wenig anders, als gewöhnlich geschieht. Ich nehme nämlich an, daß eine Substanz von Natur nicht ohne Tätigkeit sein kann, und daß es selbst niemals einen Körper ohne Bewegung gibt. Schon die Erfahrung unterstützt mich, und man braucht nur das Buch des berühmten Herrn Boyle gegen die absolute Ruhe zu Rate zu ziehen, um sich davon zu überzeugen. Aber ich glaube auch, daß die Vernunft dafür ist. Und dies ist einer der Gründe, warum ich die Atome verwerfe. Übrigens gibt es gar viele Anzeichen, aus denen wir schließen müssen, daß es in jedem Augenblicke in unseres Innern eine unendliche Menge von Wahrnehmungen, jedoch ohne Bewußtsein und Reflexion, d.h. Veränderungen in der Seele selbst gibt, deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach und zu zahlreich oder zu vereint sind, so daß sie nichts besonderes Unterscheidendes an sich haben, jedoch mit anderen verbunden darum ihre Wirkung dennoch nicht verfehlen und in ihrer Gesamtheit wenigstens auf verworrene Weise empfunden werden. So bewirkt die Gewohnheit, daß wir auf die Bewegung einer Mühle oder eines Wasserfalles nicht achtgeben, wenn wir einige Zeit lang ganz nahe dabei gewohnt haben. Dies geschieht nicht, weil jene Bewegung nicht immer unsere Sinnes Werkzeuge träfe und sich nicht auch in der Seele etwa zutrüge, das vermöge der Harmonie der Seele und des Körpers dem entspricht, sondern die auf die Seele und den Körper geschehenden Eindrücke, wenn sie den Reiz der Neuheit verloren haben, sind nicht stark genug, um unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis die sich nur mit fesselnderen Gegenständen befassen, auf sich zu ziehen. Jedwede Aufmerksamkeit verlangt Gedächtnis und wenn wir, sozusagen, nicht darauf hingewiesen werden, auf einige unserer eigenen Wahrnehmungen als uns gegenwärtig zu achten, so lassen wir sie ohne Reflexion und selbst ohne sie zu bemerken, vorübergehen; wenn uns jedoch jemand sofort darauf hinweist und uns z.B. auf irgend einen Lärm aufmerksam macht, der sich gerade[10] hören ließ, so erinnern wir uns daran und werden uns bewußt, davon soeben eine Empfindung gehabt zu haben. Also waren es Wahrnehmungen, deren wir uns nur nicht gleich bewußt waren, indem das Bewußtsein davon nur in diesem Falle des Hingewiesenwerdens, nach einer sei es auch noch so winzigen Zwischenzeit, uns kommt. Um die geringfügigen Wahrnehmungen, die wir in der Menge nicht unterscheiden können, noch besser zu fassen, bediene ich mich gewöhnlich des Beispiels vom Getöse oder Geräusch des leeres, welches man vom Ufer aus vernimmt. Um dieses Geräusch, wie tatsächlich geschieht, zu hören, muß man sicherlich die dieses Ganze bildenden Teile, d.h. das Geräusch einer jeden Welle hören, obgleich jedes dieser geringen Geräusche nur in der verworrenen Gemeinschaft mit allen übrigen zusammen erkannt werden kann, und man es nicht bemerken würde, wenn die es verursachende Welle die einzige wäre. Denn man muß von der Bewegung dieser Welle ein wenig affiziert worden sein und von jedem dieser Geräusche, mögen sie auch noch so gering sein, einige Wahrnehmung haben, sonst würde man nicht die von hunderttausend Wellen haben, da hunderttausend Nichtse auch nichts wirken können. Übrigens schläft man niemals so fest, daß man nicht irgend eine schwache und verworrene Empfindung hätte, und würde niemals durch das stärkste Geräusch der Welt erweckt werden, wenn man nicht eine gewisse Wahrnehmung seines Anfangs hätte, der freilich geringfügig ist; wie man auch niemals durch die größtmögliche Anstrengung eine Schnur zerreißen würde, wenn man sie nicht durch geringere Anstrengungen ein wenig gespannt und verlängert hätte, mag auch diese kleine ins Werk gesetzte Spannung unmerklich sein.

Solche geringe Wahrnehmungen sind also von mehr Wirksamkeit, als man denken mag. Sie sind es, welche dies wunderbare Etwas, diese Geschmacksempfindungen, diese Bilder der sinnlichen Qualitäten erzeugen, die in ihrem Zusammensein klar, jedoch ihren einzelnen Teilen nach verworren sind, diese Eindrücke, welche die uns umgebenden Körper auf uns machen und die Unendliches in sich schließen, diese Verknüpfung, welche jedes Wesen mit dem ganzen übrigen Universum hat. Man kann sogar sagen, daß infolge dieser geringen Wahrnehmungen die[11] Gegenwart der Zukunft voll und mit der Vergangenheit erfüllt, daß alles miteinander zusammenstimmend ist (sympnoia panta – wie Hippokrates sagte), und daß so durchdringende Augen, wie die Gottes, in der geringsten Substanz die ganze Reihenfolge der Begebenheiten des Universums: was ist, was war, und was die Zukunft bringt, lesen können. Diese unmerklichen Vorstellungen bezeichnen auch und bilden das nämliche durch diejenigen Spuren charakterisierte Individuum, die sie von den vergangenen Zuständen desselben Individuums aufbewahren, indem sie die Verbindung mit seinem gegenwärtigen Zustand herstellen; sie können auch durch einen höheren Geist erkannt werden, selbst wenn dies Individuum sie nicht bemerkte, nämlich wenn die ausdrückliche Erinnerung an sie nicht mehr da wäre. Sie geben sogar das Mittel ab, durch periodische Entwicklungen, die einmal eintreten können, im Notfall das Andenken wieder zu finden. Dies ist der Grund, weshalb der Tod ein bloßer Schlaf sein kann und nicht einmal ein solcher bleiben wird, indem die Wahrnehmungen nur hinlänglich deutlich zu sein aufhören und in einen Zustand der Verworrenheit bei den Lebewesen geraten, der das Bewußtsein zwar für eine Weile aufhebt, aber nicht immer dauern kann um hier nicht vom Menschen zu reden, welcher darin, um seine Persönlichkeit aufrecht zu erhalten, großen Vorzug genießt.

Durch die unmerklichen Wahrnehmungen erläutere ich auch jene wunderbare vorherbestimmte Harmonie der Seele und des Körpers und selbst aller Monaden oder einfachen Substanzen, die an die Stelle des unhaltbaren gegenseitigen Eingusses tritt, und die nach dem Urteil des Verfassers des trefflichsten Wörterbuches die Größe der göttlichen Vollkommenheit weit über das hinaus erhöht, was man je davon begriffen hat. Ich muß dem noch hinzufügen, daß diese schwachen Wahrnehmungen es sind, die uns bei vielen Vorfällen, ohne daß man daran denkt, bestimmen und den großen Haufen durch den Schein einer Gleichgewichtsindifferenz täuschen, wie wenn es uns beispielsweise gleichgültig wäre, ob wir uns zur Rechten oder zur Linken wenden. Es ist nicht nötig, hier noch bemerklich zu machen, wie in dem Buch selbst geschehen ist, daß sie jene Unruhe verursachen,[12] die, wie ich zeige, doch in etwas besteht, vom Schmerz sich nur wie das Kleine vom Großen unterscheidet und gleichwohl oft unser Verlangen und selbst unser Vergnügen ausmacht, indem sie ihm gleichsam ein Salz als Reizmittel gibt. Eben diese unmerklichen Teile unserer sinnlichen Wahrnehmungen sind es, welche die Vorstellungen der Farben, Wärmegrade und anderer sinnlichen Eigenschaften mit den entsprechenden Bewegungen in den Körpern in Verbindung setzen, während die Kartesianer mit unserem Autor, so scharfsinnig er auch ist, die Wahrnehmungen, welche wir von diesen Eigenschaften haben, als willkürliche betrachten, d.h. als ob Gott sie deshalb nach seinem Belieben ohne Rücksicht auf irgend eine wesentliche Beziehung zwischen den Wahrnehmungen und deren Gegenständen der Seele gegeben hätten eine mich befremdende Ansicht, die mir der Weisheit des Urhebers der Dinge, welcher nichts ohne Zusammenhang und vernünftige Absicht tut wenig würdig erscheint.

Die unmerklichen Wahrnehmungen sind mit einem Worte in der Pneumatik (Lehre vom Geister) von ebenso großem Gewicht, wie die kleinsten Körper in der Physik; und es ist ebenso unvernünftig, die einen wie die anderen unter dem Verwände, daß sie außerhalb des Bereiches unserer Sinne fallen, zu verwerfen. Nichts geschieht auf einen Schlage und es ist einer meiner wichtigen und entschiedensten Grundsätze, daß die Natur niemals Sprünge macht. Ich habe dies das Kontinuitätsgesetz genannt, als ich einmal in den neuen Nachrichten aus der Gelehrtenrepublik davon sprach; und der Nutzen dieses Gesetzes in der Physik ist sehr bedeutend. Ihm zufolge geht man immer durch einen mittleren Zustand vom Kleinen zum Großen und umgekehrt, sowohl den Graden wie den Teilen nach und entsteht eine Bewegung niemals unmittelbar aus der Ruhe noch geht sie dazu anders über, als durch eine noch kleinere Bewegung, wie man niemals eine Linie oder Länge zu Ende läuft, ehe man eine kleinere Linie zurückgelegt hat. Diejenigen freilich, welche die Gesetze der Bewegung aufgestellt haben, haben dies Gesetz nicht bemerkt, indem sie glauben, daß ein Körper in einem Augenblick eine der vorausgegangenen entgegengesetzte Bewegung annehmen kann. Alles dies berechtigt zu dem[13] Schluß, daß die bemerkbaren Wahrnehmungen stufenweise aus denjenigen entstehen, welche zu schwach sind, um bemerkt zu werden. Urteilt man anders, so zeugt dies von geringer Erkenntnis der unendlichen Feinheit der Dinge, die stets und überall eine wirkliche Unendlichkeit in sich schließt.

Ich habe ferner bemerkt, daß infolge der unmerklichen Verschiedenheiten zwei Individuen nicht vollkommen gleiche sein können und sich durch mehr als die bloße Zahl unterscheiden müssen. Dieser Satz hebt die leere Tafel der Seele, eine Seele ohne Gedanken, eine Substanz ohne Tätigkeit, den leeren Raum, die Atome und selbst die nicht wirklich geschiedenen Teilchen in der Materie, die völlige Einförmigkeit in einem Zeit-, Orts- oder Stoffteile, die aus ursprünglichen vollkommenen Würfeln gewordenen, vollkommenen Kugeln des zweiten Elements und tausend andere Phantasiegebilde der Philosophen auf, die aus ihren unvollständigen Begriffen stammen. Davon will die Natur der Dinge nichts wissen, und nur unsere Unwissenheit und unsere geringe Aufmerksamkeit auf das Unmerkliche läßt dergleichen zu; man kann es nur erträglich machen indem man es auf bloße Abstraktionen des Geistes beschränkt, der ausdrücklich erklärt, nicht zu leugnen, was er beiseite legt und in irgend eine augenblickliche Erwägung eintreten zu lassen nicht für nötig erachtet. Sonst, wenn man es ganz als bare Münze annähme, daß nämlich alles, dessen man sich nicht bewußt ist, auch nicht in der Seele oder im Körper sei, würde man in der Philosophie wie in der Politik einen Fehler begehen, indem man to mikron die unmerklichen Fortschritte, überginge, während es als bloße Abstraktion kein Irrtum ist, wenn man nur weiß, daß das doch wirklich da ist, was man verleugnet. Es verhält sich damit so, wie wenn die Mathematiker davon Gebrauch machen, daß sie von den anzunehmenden vollkommenen Linien, gleichmäßigen Bewegungen und anderen regelrechten Wirkungen reden, obschon die Materie, d.h. die Mischung der Wirkungen des uns umgebenden Unendlichen, immer eine gewisse Ausnahme macht. Man verfährt aber so, um die einzelnen Beobachtungen voneinander zu unterscheiden, um so viel als uns möglich ist, die Wirkungen auf die Ursachen zurückzuführen und um[14] gewisse zukünftige Folgerungen daraus herzuleiten: denn je sorgfältiger man sich hütet bei den Beobachtungen, welche methodisch angestellt werden können, nichts zu versäumen, desto mehr entspricht die Praxis der Theorie. Aber nur der höchsten Vernunft, welcher nichts entgeht, kommt es zu, die ganze Unendlichkeit, alle Ursachen und alle Folgen, deutlich zu begreifen. Alles, was wir über das Unendlichviele vermögen, ist, es verworren zu erkennen und das wenigstens bestimmt zu wissen, daß es da ist; sonst würden wir über die Schönheit und Größe des Weltalls sehr falsch urteilen und auch keine gute Physik, um die Natur der Dinge im Allgemeinen zu erklären, und noch weniger eine gute Lehre vom Geist besitzen, welche die Erkenntnis Gottes, der Seelen und der ein fachen Substanzen überhaupt umfassen soll.

Eine solche Erkenntnis der unmerklichen Wahrnehmungen dient ferner zu erklären, warum und wie zwei Menschenseelen oder zwei Dinge derselben Gattung nie vollständig gleich aus den Händen des Schöpfers hervorgehen, und eine jede stets ihre ursprüngliche Beziehung zu ihrem künftigen Stand im Weltall habe. Dies folgt aber schon aus dem, was ich von den zwei Individuen bemerkt habe, daß nämlich ihr Unterschied stets mehr als eins bloß numerischer ist. Dabei ist noch ein anderer Punkt aufzufassen, in dem ich mich nicht allein von den Ansichten unseres Autors, sondern auch der meisten Neuern zu entfernen gezwungen bin: ich glaube nämlich mit den meisten Alten, daß alle Geister, alle Seelen, alle einfachen geschaffenen Substanzen stets mit einem Körper verbunden sind, und daß es niemals Seelen gibt, die gänzlich davon los sind. Ich habe dafür Gründe a priori. Aber man wird auch bei dieser Lehre den Vorteil finden, daß sie alle philosophischen Schwierigkeiten über den Zustand der Seelen, deren immerwährende Erhaltung, über deren Unsterblichkeit und Wirksamkeit auflöst, indem der Unterschied von dem einen ihrer Zustände gegen den anderen immer nur der Unterschied eines mehr oder weniger sinnlichen oder mehr oder weniger vollkommenen oder umgekehrt ist oder gewesen ist, was ihren vergangenen oder zukünftigen Zustand ebenso erklärlich als ihren gegenwärtigen macht. Auch bei einer noch so geringen Überlegung merkt man[15] hinlänglich, daß dies vernunftgemäß ist, und ein Sprung von dem einen Zustand zu einem anderen unendlich davon verschiedenen nicht natürlich sein kann. Ich bin erstaunt, daß die Schulphilosophie ohne Grund die Natur verlassen hat, um sich recht mutwillig in gewaltige Schwierigkeiten zu stürzen und dem Scheinsiege der starken Geister vorzuarbeiten, deren sämtliche Gründe durch diese Erklärung der Dinge mit einem Male zusammenfallen, indem es so nicht mehr Schwierigkeit macht, die Erhaltung der Seelen (oder vielmehr nach meinem System des lebendigen Wesens) zu begreifen, als die der Verwandlung der Raupe in den Schmetterling und die Erhaltung des Denkens im Schlafe, mit dem Jesus Christus den Tod göttlich schön verglichen hat. Auch habe ich schon gesagt, daß kein Schlaf immerfort dauern kann, und er wird kürzer oder fast gar nicht für die vernunftbegabten Seelen dauern, die stets dazu bestimmt sind, ihre Persönlichkeit und ihre Erinnerung, welche ihnen im Reiche Gottes verliehen ist, zu erhalten, um eben dadurch für die Belohnungen und Strafen empfänglicher zu sein. Ich füge noch hinzu, daß überhaupt keine Unordnung in den sichtbaren Organen imstande ist, eine gänzliche Verwirrung in einem lebenden Wesen hervorzurufen, oder alle Organe zu zerstören und die Seele ihres ganzen organischen Körpers und der unauslöschbaren Rest aller früheren Spuren zu berauben. Die Leichtigkeit aber, mit der man die alte Lehre von den mit den Engeln verbundenen feinen Körpern verlassen hat (welche man mit der Körperlichkeit der Engel selbst verwechselte), und das Einführen angeblicher unkörperlicher Geister unter den Kreaturen (wozu diejenigen, welche die Himmelssphären des Aristoteles sich bewegen lassen, viel beigetragen haben) und endlich die übel verstandene Meinung, daß man die Seelen der Tiere nicht erhalten lassen werden dürfe, ohne in die Seelenwanderung zu verfallen, haben meiner Ansicht nach bewirkt, daß man die naturgemäße Art, die Erhaltung der Seele zu erklären, vernachlässigt hat. Man ist damit auch der natürlichen Religion sehr zu nahe getreten und hat mehrere Leute glauben gemacht, daß unsere Unsterblichkeit, von der auch unser berühmter Autor, wie ich bald erwähnen werde, mit einigem Zweifel geredet hat, nur[16] eine Gnade göttlichen Wunders sei. Aber es wäre zu wünschen, daß alle diejenigen, welche dieser Ansicht sind, sich ebenso vorsichtig und aufrichtig wie er ausgedrückt hätten, denn es ist zu fürchten, daß mehrere, die von der Unsterblichkeit durch Gnade sprechen, es nur tun, um den Schein zu retten und sich im Grunde jenen Averroïsten und einigen schlechtgesinnten Quietisten annähern, die sich eine Auflösung und Wiedervereinigung der Seele mit dem Ozean der Gottheit einbilden, eine Vorstellung, deren Unmöglichkeit mein System vielleicht allein klar zeigt.

Auch in Ansicht der Materie scheinen wir verschiedener Ansicht zu sein, indem der Verfasser urteilt, daß der leere Raum für die Bewegung nötig ist, weil er die kleinen Teile der Materie für unnachgiebig hält. Ich gebe zu, daß wenn die Materie aus solchen Teilen bestände, die Bewegung in vollem Raume unmöglich sein würde, wie wenn ein Zimmer mit einer Masse kleiner Kieselsteine erfüllt wäre, ohne daß der geringste leere Platz darin bleibt. Aber man gebe doch nicht jene Voraussetzung zu, wozu es meiner Meinung nach auch gar keinen Grund gibt. Freilich versteigt sich unser gelehrter Autor bis zu dem Glauben, daß die Unnachgiebigkeit oder die Kohäsion der keinen Teile das Wesen des Körpers ausmacht. Man muß sich den Raum vielmehr als von einer ursprünglich flüssigen, jeder Teilung fähigen und in Wirklichkeit bis ins Unendliche der Teilungen und Unterteilungen unterworfenen Materie erfüllt vorstellen, jedoch mit diesem Unterschiede, daß sie infolge der darin schon vorhandenen mehr oder weniger harmonischen Bewegungen an verschiedenen Punkten ungleich teilbar und geteilt ist, was ihr überall einen gewissen Grad sowohl von Unnachgiebigkeit als von Flüssigkeit gibt und macht, daß kein Körper im höchsten Grade hart oder flüssig ist, nämlich, daß man kein Atom von unüberwindlicher Härte darin findet, noch irgend eine gegen die Teilung vollkommen gleichgültige Masse. Auch hebt die Ordnung der Natur und besonders das Kontinuitätsgesetz in gleicher Weise das eine wie das andere auf.

Ich habe ferner gezeigt, daß die Kohäsion, wenn sie nicht selbst die Wirkung des Anstoßes oder der Bewegung wäre, eine Anziehung, dieselbe ganz im eigentlichen[17] Sinne genommen, verursachen würde. Denn wenn es einen ursprünglich unnachgiebigen Körper gäbe, z.B. ein Atom des Epikur, der einen hervorstehenden Teil in Gestalt eines Lakens hätte (da man sich Atome von allen Arten Gestalt denken kann), so würde dieser Haken, wenn er angestoßen würde, den übrigen Teil des Atoms nach sich ziehen, nämlich den Teil, der nicht angestoßen wird und nicht in die Anstoßlinie fällt. Indessen erklärt sich unser gelehrter Autor selbst gegen diese von der Philosophie angenommenen Anziehungen der Art, wie man sie sonst der Furcht vor dem leeren Raum zuschrieb, er bringt sie auf Anstöße zurück, indem er mit den Neueren daran festhält, daß ein Teil der Materie auf den anderen unmittelbar nur dadurch wirkt, daß er ihn von nahe her anstößt. Ich gebe ihnen darin recht, weil sich sonst bei der Wirkung nichts Verständliches denken laßt.

Gleichwohl darf ich nicht verhehlen, daß ich bei unserem trefflichen Autor eine Art von Widerruf in bezug auf diesen Gegenstand bemerkt habe, und kann mich nicht enthalten, seine bescheidene Offenheit dabei zu preisen, ebenso wie ich bei anderen Gelegenheiten seinen durchdringenden Geist bewundert habe. In der Antwort auf den zweiten Brief des verstorbenen Bischofs von Worcester, der im Juli 1699 gedruckt worden ist, sagt er, um die gegen diesen gelehrten Prälaten von ihm behauptete Meinung, nämlich daß die Materie denken könne, aufrechtzuerhalten, unter anderem folgendes: »Ich gebe zu, behauptet zu haben (Buch II der Abhandlung über den Verstand Kap. 8 § 11), daß der Körper durch Anstoß und anders nicht wirke. Auch war dies meine Ansicht, als ich schrieb, und jetzt noch kann ich keine andere Art der Tätigkeit mir vorstellen. Aber ich bin seitdem durch das unvergleichliche Buch des scharfsinnigen Newton überzeugt worden, daß es zu viel Anmaßung wäre, die Macht Gottes durch unsere beschränkten Begriffe einengen zu wollen. Die Gravitation der einen Materie gegen die andere auf mir unbegreifliche Weise ist nicht allein ein Beweis, daß Gott, wenn es ihm gut scheint, in die Körper Kräfte und Wirkungsarten legen kann, die[18] über das, was vielleicht aus unserer Vorstellung des Körpers abgeleitet oder durch unsere Kenntnis der Materie erklärt werden kann, hinausgehen, sondern es gibt auch noch einen unbestreitbaren Umstand, daß er es wirklich getan hat. Darum werde ich dafür sorgen daß in der nächsten Ausgabe meines Buches jene Stelle verbessert werde.« Ich finde denn auch, daß man sie in der französischen Übersetzung dieses Buches, die zweifelsohne nach der letzten Ausgabe gemacht worden ist, im erwähnten § 11 folgendermaßen geändert hat: »Wenigstens ist, soviel wir es begreifen können, ersichtlich, daß die Körper durch den Anstoß und nicht auf andere Weise aufeinander wirken, denn es ist uns unmöglich zu begreifen, daß ein Körper auf das, was er nicht berührt, wirken könne, was so viel ist, als sich einbilden, er könne wirken, wo er nicht ist.«

Ich kann nicht umhin, diese bescheidene Frömmigkeit unseres berühmten Schriftstellers zu loben, der da anerkennt, daß Gott über das hinaus, was wir verstehen können, wirken und es also in den Glaubensartikeln unbegreifliche Geheimnisse geben kann; aber ich möchte nicht, daß man im gewöhnlichen Lauf der Natur zu Wundern seine Zuflucht zu nehmen und schlechthin unerklärliche Kräfte und Wirkungsarten zuzulassen gezwungen wäre. Sonst würde man zugunsten dessen, das Gott tun kann, den schlechten Philosophen zu viel Spielraum geben, und wenn man diese zentripetalen Kräfte oder diese unmittelbaren Anziehungen aus der Ferne, ohne sie begreiflich ma chen zu können, zulassen wollte, so sehe ich nicht ein, wie man untere Schulphilosophen verhindern will zu behaupten, daß alles ganz einfach durch die Vermögen geschieht, und ihre »intentionellen Spezies« aufrechtzuerhalten, die von den Gegenständen her auf uns loskommen und bis in unsere Seelen einzudringen Mittel finden. Wenn das angeht, so wird geschehen, was alles mir unmöglich schien. Dergestalt scheint es mir, daß unser Verfasser, so scharfsinnig er sein mag, hier von einem Extrem ein wenig zu weit ins andere geht. Bei den Wirkungen der Seele macht[19] er Schwierigkeiten, wo es sich bloß darum handelt, das, was nicht sinnlich ist, zuzulassen, und hier legt er den Körpern, was nicht einmal denkbar ist, bei, indem er ihnen Kräfte und Tätigkeiten einräumt, die meiner Meinung nach über alles was ein erschaffener Geist tun und verstehen kann, hinausgehen. Denn er räumt ihnen Anziehungskraft und zwar selbst auf große Entfernungen ein, ohne sich auf irgend eine Sphäre der Tätigkeit zu beschränken, und zwar, um eine um nichts weniger erklärbare Ansicht aufrechtzuerhalten, nämlich die Möglichkeit, daß die Materie der Naturordnung gemäß denke. Die Streitfrage, welche er mit dem berühmten Prälaten, der ihn angegriffen hatte, verhandelt, ist, ob die Materie denken kann und da es ein auch für das vorliegende Werk wichtiger Punkt ist, kann ich mich nicht enthalten, ein wenig darauf einzugehen und von ihrem Streit Notiz zu nehmen. Ich werde das Wesentliche über diesen Gegenstand darlegen und was ich davon halte, mir zu sagen die Freiheit nehmen. In der Befürchtung, daß unseres Autors Lehre von den Vorstellungen manchem dem christlichen Glauben schädlichen Mißbrauche ausgesetzt sei, – wozu aber meiner Meinung nach kein besonderer Grund vorliegt – unternahm der verstorbene Bischof von Worcester, einige Stellen desselben in seiner Rechtfertigung der Dreieinigkeitslehre zu prüfen. Nachdem er diesem ausgezeichneten Schriftsteller für das Anerkenntnis, daß er das Dasein des Geistes für ebenso sicher als das des Körpers hält, obgleich die eine dieser Substanzen ebensowenig erkannt sei wie die andere, hat Gerechtigkeit widerfahren lassen, fragt er (pag. 241 u. ff.), wie die Region uns vom Dasein des Geistes überzeugen kann, wenn Gott nach der Ansicht unseres Verfassers (Buch IV, Kap. 8) der Materie das Vermögen zu denken verleihen kann, weil auf diese Weise der Gedankengang, welcher zur Erwägung dessen dient, was der Seele und was dem Körper zukommt, unnütz würde statt daß, wie er im 2. Buch der Abhandlung über den Verstand Kap. 23, § 15. 27. 28 gesagt hatte, die Verrichtungen der Seele uns die Vorstellung des Geistes geben, und Verstand nebst Wille uns die Vorstellung des Geistes ebenso verständlich macht, wie das Wesen des Körpers uns durch Dichtigkeit und Anstoß verständlich[20] gemacht wird. Darauf antwortet unser Verfasser in seinem ersten Brief (p. 65 ff.) in dieser Weise: »Ich glaube bewiesen zu haben, daß wir eine geistige Substanz in uns haben, denn wir erfahren in uns das Denken; nun kann diese Verrichtung oder dieser Modus nicht der Gegenstand der Vorstellung eines für sich bestehenden Dinges sein, und folglich bedarf dieser Modus eines Trägers oder Subjekts der Inhärenz, und die Vorstellung eines solchen Trägers führt auf das, was wir Substanz nennen. Denn da die allgemeine Vorstellung der Substanz durchweg dieselbe ist, so folgt, daß, wenn die Denken oder Denkvermögen genannte Modifikation sich damit verbindet, dies einen Geist ausmacht, ohne daß man dabei noch irgendwelche andere Modifikation in Betracht zu ziehen braucht, ob nämlich Dichtigkeit oder nicht damit verbunden ist, und auf der anderen Seite wird die Substanz, welche die Dichtigkeit genannte Modifikation hat, Materie sein, mag damit das Denken verbunden sein oder nicht. Verstehen Sie aber unter einer geistigen Substanz eine immaterielle Substanz, so gebe ich zu, nicht bewiesen zu haben, daß sich eine solche in uns findet, und daß man sie nach meinen Grundsätzen nicht auf bündige Art erweisen kann, obgleich das, was ich über die Systeme der Materie gesagt habe (Buch IV, Kap. 10, § 16), indem ich die Immaterialität Gottes dartat, es im höchsten Grade wahrscheinlich macht, daß die in uns denkende Substanz immateriell ist.... indessen habe ich gezeigt (fügt der Verfasser p. 68 hinzu), daß die großen Zwecke der Religion und der Moral durch die Unsterblichkeit der Seele gesichert sind, ohne daß man ihre Immaterialität vorauszusetzen nötig hat.«

Um zu zeigen, daß unser Verfasser anders gedacht habe, als er das zweite Buch seiner Abhandlung schriebe führt der gelehrte Bischof in seiner Antwort auf diesen Brief pg. 51 folgende daraus entnommene Stelle (aus dem genannten Buch K. 23, § 15) an, wo es heißt, »daß wir[21] durch die einfachen Vorstellungen, welche wir von den Verrichtungen unseres Geistes abstrahiert haben, die zusammengesetzte Vorstellung eines Geistes bilden können und durch die Zusammenstellung der Vorstellungen des Denkens, der Wahrnehmung, der Freiheit und des Vermögens, unseren Körper zu bewegen, einen ebenso klaren Begriff von immateriellen wie von materiellen Substanzen haben.« Er führt noch andere Stellen an, um zu zeigen, daß der Verfasser den Geist dem Körper entgegensetzte, und sagt (p. 54), daß der Zweck der Religion und der Moral besser gesichert ist, wenn man beweist, daß die Seele von Natur unsterblich, nämlich immateriell ist. Auch die Stelle führt er an (p. 70), daß alle Vorstellungen, welche wir von den einzelnen und bestimmten Arten der Substanzen haben, nichts anderes als verschiedene Verbindungen einfacher Vorstellungen sind, und daß unser Verfasser also geglaubt hat, die Vorstellungen des Denkens und Wollens ergäben eine andere und von der, welche die Vorstellung der Dichtigkeit und des Anstoßes gibt, verschiedene Substanz, sowie daß er (p. 17) bemerkt, diese Vorstellungen bildeten den Körper im Gegensatz zum Geiste.

Der Bischof von Worcester hätte noch hinzusetzen können, daraus, daß die allgemeine Vorstellung der Substanz im Körper und im Geiste liege, folge noch nicht, daß ihre Verschiedenheiten Modifikationen desselben Dinges seien, wie unser Autor in der aus dem ersten Briefe von mir angezogenen Stelle eben gesagt hat. Man muß zwischen Modifikationen und Attributen wohl unterscheiden. Die Vermögen des Wahrnehmens und Handelns, die Ausdehnung, die Dichtigkeit sind Attribute oder beständige und wesentliche Prädikate, aber das Denken, die Heftigkeit, die Gestalten, die Bewegungen sind Modifikationen dieser Attribute. Man muß ferner zwischen physischer oder vielmehr realer Art und logischer oder idealer Art unterscheiden. Die Dinge, welche zu derselben physischen Art gehören oder welche homogen sind, sind sozusagen von derselben Materie und können oft durch die Veränderung der Modifikation einander verwandelt werden, wie die Kreise und die Vierecke. Aber zwei heterogene Dinge können doch[22] dieselbe logische Art miteinander gemein haben, und dann sind ihre Verschiedenheiten nicht bloß zufällige Modifikationen desselben Subjekts oder desselben metaphysischen oder physischen Materie. So sind Zeit und Raum sehr heterogene Dinge, und man würde unrecht haben, sich irgendwelches reale gemeinsame Subjekt zu denken, das nur die kontinuierliche Größe überhaupt besäße und aus dessen Modifikationen Zeit oder Raum hervorgingen. Vielleicht könnte sich jemand über diese philosophische Unterscheidung von zwei Arten lustig machen, wovon die eine bloß logisch, die andere auch real ist, und von zwei Materien, der einen physischen, welche die der Körper ist, und der anderen nur metaphysischen oder allgemeinen, wie wenn jemand sagte, daß zwei Teile des Raumes von derselben Materie, oder daß zwei Stunden auch unter sich von derselben Materie sind. Dennoch sind diese Unterschiede nicht allein Unterschiede von Worten, sondern der Dinge selbst, und kommen hier augenscheinlich sehr gelegen, wo ihre Verwirrung eine falsche Konsequenz ergeben würde. Diese beiden Arten haben einen gemeinsamen Begriff, und zwar ist der der realen Art den beiden Materien gemeinsam, so daß ihr Stammbaum folgender sein wird:


Art

– nur logische, nach einfachen Unterschieden vermannigfaltigt

reale, deren Unterschiede Modifikationen sind nämlich Materie

– – bloß metaphysische, wo Homogenität stattfindet

– – physische, wo sich eine solide homogene Masse findet.


Den zweiten Brief des Verfassers an den Bischof habe ich nicht gesehen. Die von dem Prälaten darauf gegebene Antwort berührt den Punkt nicht, der sich auf das Denken der Materie bezieht. Aber die Entgegnung unseres Autors auf diese zweite Antwort kehrt dazu zurück. »Gott (sagt er p. 397 ungefähr in diesen Ausdrücken) legt dem Wesen der Materie die Eigenschaften und Vollkommenheiten nach seinem Wohlgefallen nach einigen Teilen die bloße Bewegung, den Pflanzen aber die Vegetation und den Tieren die Empfindung. Diejenigen, welche[23] soweit damit übereinstimmen, sträuben sich sofort wenn man noch einen Schritt weitergeht, um zu sagen, daß Gott der Materie Denken, Vernunft, Willen geben kann, wie wenn dies das Wesen der Materie zerstörte. Aber um dies zu beweisen, berufen sie sich darauf, daß das Denken oder die Vernunft nicht im Wesen der Materie liege, was doch nichts ausmacht, da die Bewegung und das Leben ebensowenig darin liegen. Sie berufen sich ferner darauf, man könne nicht begreifen, daß die Materie denke. Aber unser Begreifen ist nicht das daß der Macht Gottes.« Darauf zieht er (p. 99) das Beispiel der Anziehungskraft der Materie herbei; aber besonders p. 408, wo er von der Gravitation der einen Materie gegen die andere, die Newton entdeckt haben soll, in den von mir oben schon erwähnten Ausdrucken spricht, indem er zugibt, daß man davon das Wie niemals begreifen kann. Das heißt doch in der Tat zu den verborgenen oder, was mehr sagen will, unerklärlichen Eigenschaften zurückkehren. Er fügt p. 401 hinzu, daß nichts geeigneter ist, die Denkweise der Skeptiker zu begünstigen, als das, was man nicht versteht, zu leugnen; und p. 402 daß man sogar nicht begreift, wie die Seele denkt, Pap. 403 behauptet er, daß da die beiden Substanzen, die materielle und die immaterielle, in ihrem reinen Wesen ohne irgend eine Tätigkeit begriffen werden können, es von Gott abhänge, der einen und der anderen das Vermögen des Denkens zu geben, und will sich dabei das Zugeständnis seines Gegners zunutze machen, welcher den Tieren zwar die sinnliche Empfindung zugestanden hatte, aber keine immaterielle Substanz zugestehen wollte. Er behauptet, daß die Freiheit, das Bewußtsein (p. 408) und das Vermögen des Abstrahierens (p. 409) der Materie verliehen werden können, aber nicht als der Materie, sondern sofern sie durch eine himmlische Macht bereichert sei. Endlich bringt er p. 434 die Bemerkung eines so ansehnlichen, scharfsinnigen Reisenden, wie Heer de la Loubère, bei, daß die beiden im Orient die Unsterblichkeit der Seele erkennen, ohne deren Immaterialität begreifen zu können.

Über dies alles will ich, ehe ich zur Darlegung[24] meiner Meinung komme, bemerken, daß die Materie sicherlich ebenso wenig auf mechanischem Wege Empfindung hervorzubringen fähig ist, als Vernunft, wie unser Autor auch zugesteht; daß ich der Wahrheit gemäß anerkenne, man dürfe nicht leugnen, was man nicht versteht, aber hinzufüge, daß man gern wenigstens in der natürlichen Ordnung das, was schlechthin unverständlich und unerklärlich ist, zu leugnen das Recht hat. Auch halte ich den Satz aufrecht, daß die Substanzen (materielle wie immaterielle) in ihrem reinen Wesen ohne Tätigkeit nicht begriffen werden können, daß die Tätigkeit das Wesen der Substanz überhaupt ist, und daß endlich die Begriffe der Geschöpfe nicht das Maß für die flacht Gottes sind, sondern daß ihre Konzeptivität oder Fassungskraft das Maß für die flacht der Natur ist, indem alles, was der Naturordnung gemäß ist, durch irgend ein Geschöpf begriffen und verstanden werden kann.

Wer mein System begreift, wird einsehen, daß ich mich nicht in allen Stücken dem einen oder dem anderen dieser beiden ausgezeichneten Autoren anschließen kann, deren Streit indessen sehr lehrreich ist. Um mich jedoch deutlich zu erklären, so muß man vor allen Dingen erwägen, daß die Modifikationen, welche auf natürliche Weise oder ohne Wunder dem nämlichen Subjekt zukommen können, von den Beschränkungen oder den Abwandlungen einer realen Art oder einer ursprünglichen stetigen und absoluten Wesenheit herstammen müssen; denn so unterscheidet man bei den Philosophen die Modi eines absoluten Wesens von diesem Wesen selbst, wie man weiß, daß die Größe, die Gestalt und die Bewegung offenbar die Beschränkungen und Abwandlungen der körperlichen Natur sind. Es ist klar, wie eine beschränkte Ausdehnung die Gestalten ergibt, und daß die dabei vor sich gehende Veränderung nichts als die Bewegung ist, und so oft man irgend eine Beschaffenheit an einem Subjekt fändet, muß man glauben, daß wenn man die Natur dieses Subjekts und dieser Beschaffenheit kennte, man auch begreifen würde, wie diese Beschaffenheit sich daraus ergibt. So hängt es in der Ordnung der Natur (von den Wundern abgesehen) nicht von Gottes Willkür ab, den Substanzen diese oder jene Beschaffenheiten beliebig zu verleihen, und er wird ihnen niemals andere[25] verleihen, als die ihnen natürlich sind, d.h. solche, die aus ihrer Natur als erklärliche Modifikationen hergeleitet werden können. So muß man annehmen, daß die Materie nicht von Natur die oben erwähnte Anziehung haben und nicht von selbst in krummer Linie sich bewegen wird, weil es nicht möglich ist zu begreifen, wie das geschehen sollte, d.h. es auf mechanischem Wege zu erklären, während das, was natürlich ist, sich deutlich muß begreifen lassen können, wenn man in die verborgenen Tiefen der Dinge Zugang erhielte. Diese Unterscheidung zwischen dem, was natürlich und erklärlich, und dem, was unerklärlich und wunderbar ist, hebt alle Schwierigkeiten. Weist man sie zurück, so würde man etwas Schlimmeres, als die verborgenen Beschaffenheiten behaupten und insofern der Philosophie und Vernunft absagen müssen, indem man der Unwissenheit und Trägheit durch ein dunkles System eine Freistätte eröffnete, welches nicht nur das Vorhandensein von unverständlichen Beschaffenheiten zuläßt, deren es darin nur zu viele gibt, sondern auch derartige Beschaffenheiten, daß der größte Geiste wenn ihm Gott alle mögliche Erleuchtung gäbe, sie nicht begreifen könnte, d.h. die entweder wunderbar oder ungereimt sein würden. Und selbst das wäre ungereimt, daß Gott für gewöhnlich Wunder tut. Somit würde diese faule Hypothese in gleicher Weise unsere Philosophie, welche die Gründe aufsucht, wie die göttliche Weisheit, welche sie ins Leben ruft, zerstören.

Was jetzt das Denken anbetrifft, so ist es sicher, und der Verfasser erkennt es mehr als einmal an, daß es keine begreifliche Modifikation der Materie sein kann, d.h. daß das empfindende oder denkende Wesen nicht eine Maschine wie eine Uhr oder eine Mühle ist, so daß man die Größen, Gestalten und Bewegungen begreifen könnte, deren mechanische Verknüpfung etwas Denkendes und selbst nur Empfindendes in einem Stoffe hervorbrächte, in dem sonst nichts der Art wäre, und was denn auch von selbst durch die Unordnung dieser Maschine aufhören würde. Es ist also der Materie nicht natürlich zu fühlen und zu denken, und es könnte dies bei ihr nur auf zwei Arten geschehen, davon die eine ist, daß Gott eine Substanz damit verbindet, der zu denken natürlich ist, und die andere, daß Gott das Denken durch ein Wunder[26] hineinlegt. In diesem Punkte bin ich also gänzlich der Ansicht der Kartesianer, ausgenommen, daß ich es bis auf die Tiere ausdehne und glaube, auch sie haben Empfindung und immaterielle (um eigentlich zu sprechen) und ebensowenig vergängliche Seelen, als die Atome bei Demokrit oder Gassendi vergänglich sind. Die Kartesianer dagegen, ohne Grund über die Seelen der Tiere in Verlegenheit und ungewiß, was sie bei deren Fortdauer daraus machen sollen (da sie an die Erhaltung des ins Kleine zurückgebrachten Tieres nicht denken) sind gezwungen gewesen, den Tieren selbst die Empfindung gegen allen Anschein und das allgemeine Urteil der Menschen abzusprechen. Wenn aber jemand entgegnete, daß Gott einer dazu vorbereiteten Maschine das Denkvermögen beilegen wenigstens könnte, so würde ich antworten, daß wenn dies geschähe und Gott der Maschine dieses Vermögen beilegte, ohne zugleich eine Substanz ihr einzufügen, welche Subjekt und Träger eben dieses Vermögens wäre, wie ich es verstehe, d.h. ohne ihr eine immaterielle Seele beizufügen, die Materie, um eine Kraft, deren sie von Natur nicht fähig ist, zu empfangen, durch ein Wunder erhöht werden müßte, einige Scholastiker haben etwas dem sich Annäherndes behauptet, daß nämlich Gott das Feuer so weit erhöhe, um ihm die Kraft zu geben, unmittelbar die von den Körpern geschiedenen Geister zu brennen, was doch ein ganz reines Wunder sein würde. Ebensowenig kann man behaupten, daß die Materie denkt, ohne eine unvergängliche Seele oder doch ein Wunder hinzuzutun, und somit folgt die Immaterialität unserer Seelen aus dem, was natürlich ist, weil man deren Untergang nur durch ein Wunder aufrecht erhalten kann, sei es durch Erhöhung der Materie, sei es durch Vernichtung der Seele; denn wir wissen wohl, daß die Macht Gottes unsere Seelen sterblich machen kann, so immateriell (oder durch die Natur allein unsterblich) sie immer sein mögen, weil er sie vernichten kann.

Nun ist diese Wahrheit von der Immaterialität der Seele ohne Zweifel von Wichtigkeit. Denn es ist zumal in der Zeit, wo wir leben, für die Religion und Moral unendlich viel vorteilhafter zu zeigen, daß die Seelen von Natur unsterblich sind, und daß es ein Wunder sein würde, wenn sie es nicht wären, als zu behaupten, daß[27] unsere Seelen von Natur sterben müssen, aber kraft einer wunderbaren, allein auf die Verheißung Gottes gegründeten Gnade nicht sterben. Auch weiß man längst, daß diejenigen, welche die natürliche Religion zerstören und alles auf die geoffenbarte zurückführen wollten, wie wenn die Vernunft uns darüber nichts lehrte, als verdächtig gegolten haben, und dies nicht immer ohne Grund. Aber unser Autor gehört nicht zu ihnen. Er hält den beweis für das Dasein Gottes aufrecht und erkennt der Immaterialität der Seele den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit zu, der folglich als eine moralische Gewißheit gelten darf daher ich glaube, daß er bei seiner ebenso großen Aufrichtigkeit wie Scharfsinnigkeit sich mit der von mir soeben auseinandergesetzten Lehre wohl einverstanden erklären könnte, die für die gesamte Vernunftwissenschaft grundlegend ist. Sonst sehe ich nicht, wie man sich davor schützen wollte, entweder der Lehre der Schwärmer zu verfallen, wie etwa der mosaischen Philosophie Fludds, der alle Erscheinungen Gott unmittelbar und als Wunder zuschreibt, um sie aufrechtzuerhalten, oder der barbarischen Philosophie, wie die gewisser Philosophen und Ärzte der Vergangenheit war, die noch nach der Barbarei ihres Jahrhunderts schmeckte, heutzutage aber mit Recht verachtet ist – die Lehre derer, welche, um die Erscheinungen zu retten, geheime Beschaffenheiten oder Vermögen besonders ersannen, welche sie sich in der Phantasie kleinen Dämonen oder Kobolde, die ohne weiteres alles Verlangte zu tun imstande wären, ähnlich dachten. Letzteres klingt so, wie wenn die Taschenuhren die Stunde durch ein stundenzeigendes Vermögen angeben, ohne Räder nötig zu haben, oder wie wenn die kühlen das Korn durch ein »Mahlvermögen« klein machten, ohne etwas, was einem Mühlstein gleicht, zu brauchen.

Was die Schwierigkeit mancher Völker im Begreifen einer immateriellen Substanz anbetrifft, so wird diese, wenigstens zu einem großen Teil, aufhören, wenn man nicht Substanzen verlangen wird, die von der Materie getrennt sind wie ich denn in der Tat glaube, daß es deren von Natur unter den geschaffenen Wesen niemals gibt.[28]

Quelle:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Leipzig 21904, S. 3-29.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand
Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand: Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebensbeschreibung des Verfassers und erläuternden Anmerkungen versehen von C. Schaarschmidt
Philosophische Schriften.: Band 3 in 2 Teilbänden: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Philosophische Schriften. Französisch und deutsch (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon