[89] 7. Das Wandern

[89] Anfangs liebte es der Meister Liä Dsï zu wandern. Hu Kiu Dsï sprach: »Du liebst zu wandern. Was ist am Wandern zu lieben?« Liä Dsï sprach: »Des Wanderns Lust ist, daß man die Zwecklosigkeit genießt. Die Menschen wandern zu schau'n, was sie seh'n, ich aber wandere zu schauen den Wechsel. Wandern und wandern: noch niemand gab es, der das Wandern unterscheiden konnte.«

Hu Kiu Dsï sprach: »Dein Wandern gleicht wahrlich dem der andern, und du behauptest dennoch, es sei von dem der andern wahrlich verschieden. Aber bei allem, was man sieht, sieht man beständig auch den Wechsel. Du genießt die Zwecklosigkeit der Außenwelt, aber du hast die Zwecklosigkeit des eignen Ichs noch nicht erkannt. Wer auf das Äußere achthat beim Wandern, versteht nicht, aufs Innere achtzuhaben. Der Wandrer, der nach außen blickt, sucht die Vollkommenheit bei den Dingen. Wer nach innen blickt, findet Genüge im eignen Selbst. Genüge im eignen Selbst zu finden, das ist des Wanderns höchste Stufe. Vollkommenheit bei den Dingen zu suchen, das ist noch nicht die höchste Stufe des Wanderns.«

Darauf wollte Liä Dsï sein Leben lang nicht mehr hinaus und dachte bei sich selbst, daß er das Wandern noch nicht verstehe.

Hu Kiu Dsï sprach: »Wandre zum höchsten Ziel! Wer dieses Ziel des Wanderns erreicht, der weiß nicht mehr, wohin es geht; wer das Ziel des Schauens erreicht, der weiß nicht mehr, was er erblickt. Allen Dingen begegnet er auf seiner Wanderschaft. Alle Dinge schaut er so. Das ist's, was ich wandern nenne, das ist's, was ich schauen nenne. Darum sage ich: Wandre zum höchsten Ziel! Wandre zum höchsten Ziel!«

Quelle:
Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 89-90.
Lizenz: