Siebzehntes Kapitel.
Von der Unendlichkeit

[218] § 1. (Ursprünglich hat man die Unendlichkeit nur dem Raume, der Zeit und der Zahl beilegen wollen.) Um die mit Unendlichkeit bezeichnete Vorstellung am besten kennen zu lernen, hat man auf die Dinge zu achten, denen dieses Wort beigelegt wird, und darauf, wie die Seele zur Bildung dieser Vorstellung veranlasst wird. Endlich und unendlich werden von der Seele als Besonderungen der Grösse genommen und zunächst in ihrer ersten Bedeutung nur den Dingen beigelegt, welche aus Theilen bestehen und durch Abnahme oder Hinzufügung, selbst des kleinsten Theiles, der Verminderung oder Vergrösserung fähig sind. Dies sind die in den frühem Kapiteln betrachteten Vorstellungen des Raumes, der Dauer und der Zahl. Allerdings ist der grosse Gott, aus dem und von dem alle Dinge sind, unbegreiflich-unendlich; dessenungeachtet legt man diesem ersten und höchsten Wesen nach unserm schwachen und beschränkten Denken die Unendlichkeit zunächst in Bezug auf seine Dauer und Allgegenwart bei; mehr figürlich geschieht es bei seiner Macht, Weisheit, Güte und seinen übrigen Eigenschaften, die eigentlich unerschöpflich und unerfassbar sind. Denn wenn diese unendlich genannt werden, so hat man nur diejenige Unendlichkeit dabei im Sinne, die nachahmend sich darauf bezieht, dass die Zahl und. Ausdehnung der Handlungen oder der Gegenstände von Gottes Macht, Weisheit und Güte jede ihr beizulegende Grösse und Menge übersteigt,[218] wenn man sie auch in Gedanken so oft vermehrt, als die Unendlichkeit der endlosen Zahl gestattet. Ich masse mir nicht an, anzugeben, wie diese Eigenschaften in Gott bestehen; denn es geht über das Bereich unserer eingeschränkten Vermögen; sie- enthalten sicherlich in sich alle Vollkommenheit; allein nur auf diesem Wege kann man sie begreifen, und nur so sind unsere Vorstellungen von ihrer Unendlichkeit.

§ 2. (Die Vorstellung des Endlichen wird leicht erlangt.) Wenn demnach das Endliche und Unendliche von der Seele nur als Besonderungen der Ausspannung und der Dauer behandelt werden, so fragt es sich zunächst, wie die Seele zu diesen Besonderungen kommt. Für das Endliche ist dies nicht schwierig. Die augenfälligen Stücke des Raumes, welche die Sinne wahrnehmen, bringen die Vorstellung des Endlichen gleichzeitig in die Seele, und die gewöhnlichen Zeitabschnitte, womit gemessen wird, wie Stunden, Tage und Jahre, sind begrenzte Grössen. Die Schwierigkeit besteht nur darin, wie man zu den grenzenlosen Vorstellungen der Ewigkeit und Unermesslichkeit kommt, da die Gegenstände, mit denen man verkehrt, weit hinter einer Annäherung oder einem Verhältniss zu solcher Grösse zurückbleiben.

§ 3. (Wie man zu der Vorstellung des Unendlichen gelangt.) Wenn man die Vorstellung eines Fusses hat, so kann man sie verdoppeln und so die eine Vorstellung von 2 Fuss gewinnen, und durch Hinzufügung eines dritten Fusses die von 3 Fuss u.s.w., ohne dass man bei diesem Hinzufügen an ein Ende kommt. Dies gilt ebenso für jede andere Länge, wie die Meile, den Erddurchmesser, den Durchmesser der Welt; wenn ein solcher noch verdoppelt oder sonst in Gedanken vervielfacht wird, so ist doch selbst dann, wenn man mit dieser Verdoppelung so lange, als man will, fortfährt und die Vorstellung so gross als möglich macht, deshalb kein Grund da, damit anzuhalten; vielmehr ist man dann dem Ende der Vermehrung nicht näher, als bei dem Beginne. Indem so die Kraft, den Raum in Gedanken noch grösser zu machen, immer bleibt, so bildet sich daraus die Vorstellung des unendlichen Raumes.

§ 4. (Unsere Vorstellung des Raumes hat keine Grenzen.) Auf diese Weise gelangt man zur[219] Vorstellung des unendlichen Raumes. Eine ganz andere Frage ist es, ob die Seele damit die Vorstellung eines wirklich bestehenden unendlichen Raumes erlangt; denn unsere Vorstellungen sind nicht immer ein Beweis, dass das Vorgestellte besteht; indess möchte ich bei dieser Gelegenheit doch sagen, dass wir uns vorstellen können, dass der Raum selbst unendlich ist; die Vorstellung von Raum oder Ausspannung leitet ganz von selbst dazu hin. Mag man sie nur als Ausdehnung des Stoffes oder als für sich und ohne Erfüllung bestehend ansehen (denn von solchem leeren Räume hat man nicht blos die Vorstellung, sondern ich habe auch aus der Bewegung der Körper dessen Wirklichkeit bewiesen), so kann man doch keine Grenze desselben auffinden, und in der Vermehrung des Raumes auf kein Hemmniss stossen, wenn man sie auch noch so weit in Gedanken fortsetzt. Keine körperliche Schranke, selbst kein diamantener Wall vermag die Seele in ihrer fortgehenden Ausdehnung vom Räume aufzuhalten. Dergleichen dient eher, diese Ausdehnung zu erleichtern und zu verstärken; denn so weit der Stoff reicht, so weit reicht auch die Ausdehnung, und ist man zu dem letzten Ende des Stoffes gelangt, was könnte da einen Halt setzen oder die Seele glauben machen, sie sei am Ende des Raumes, da sie nichts der Art bemerkt; ja sie sieht, dass selbst der Stoff sich darin bewegen kann. Denn wenn zur Bewegung der Körper ein leerer Raum zwischen den Körpern gehört, sei er auch noch so klein, und wenn die Körper sich nur in oder durch diesen leeren Raum bewegen können, ja wenn jeder Stofftheil sich nur in einem leeren Raum bewegen kann, so ist es klar und überzeugend, dass die Möglichkeit der Bewegung der Körper in einem leeren Raum jenseit der äussersten Grenzen des Stoffes dieselbe bleibt, als in dem zwischen den Körpern befindlichen leeren Räume; denn die Vorstellung des leeren und reinen Raumes bleibt dieselbe innerhalb der Körper wie jenseit allen Stoffes; der Unterschied liegt nicht in der Sache, sondern in der Masse; nichts kann den Körper an der Bewegung auch jenseits des äussersten Stoffes hindern. Mag man sich also in Gedanken unter die Körper oder fern von ihnen stellen, so findet man doch in dieser einförmigen Vorstellung des Raumes keine Grenze und kein Ende, und so muss man nothwendig[220] schliessen, dass der Raum vermöge der Natur und Vorstellung jedes Theiles desselben wirklich unendlich ist.

§ 5. (Auch die Vorstellung der Dauer hat keine Grenzen.) So wie man also durch das Vermögen, eine Raumgrösse so oft man will zu wiederholen, die Vorstellung der Unermesslichkeit erlangt, ebenso kommt man durch die wiederholte Hinzufügung einer Zeitgrösse und der endlosen Vermehrung der Zahl zur Vorstellung der Ewigkeit. Man bemerkt, dass man auch bei der Zeit, wie bei der Zahl, kein Ende erreichen kann, und Jeder kann die Erfahrung davon an sich selbst machen. Aber auch hier tritt die von unserer Vorstellung der Ewigkeit verschiedene Frage auf, ob es ein wirkliches Wesen giebt, dessen Dauer ewig bestanden hat. In Bezug hierauf meine ich, dass, wenn man jetzt Etwas als daseiend anerkennt, man auch nothwendig ein Ewiges anerkennen muss. Ich habe indess hierüber an einem andern Orte mich ausgesprochen und gehe deshalb ohne Weiteres zu einigen weiteren Betrachtungen der Vorstellung von der Ewigkeit über.

§ 6. (Weshalb andere Vorstellungen der Unendlichkeit nicht fähig sind.) Ist es richtig, dass die Vorstellung der Ewigkeit durch unser Vermögen, Vorstellungen ohne Ende an einander zu fügen, erlangt wird, so entsteht die Frage, weshalb man nicht auch anderen Vorstellungen neben denen des Raumes Und der Dauer die Unendlichkeit zutheilt? Denn sie können ja ebenso oft wie jene in Gedanken wiederholt werden, und dennoch spricht Niemand von einer unendlichen Süsse, von einem unendlichen Weissen, obgleich man beide ebenso oft wie die Vorstellungen einer Elle oder eines Jahres wiederholen kann. Ich antworte darauf, dass alle Vorstellungen, die Theile enthalten und der Vermehrung durch gleiche oder kleinere Theile fähig sind, die Vorstellung der Unendlichkeit herbeiführen, indem dieses endlose Vermehren zu einer Ausdehnung führt, die kein Ende haben kann. Bei andern Vorstellungen verhält es sich aber nicht so; denn wenn ich zu der möglichst-grössten Vorstellung von Raum oder Zeit, die ich jetzt habe, nur das Geringste hinzufüge, so wird sie grösser, während die vollkommenste Vorstellung des weissesten Weissen durch die Hinzufügung von etwas weniger oder[221] von gleichem Weissen (denn von einer grössern Weisse, als ich sie habe, kann ich nichts hinzufügen) nicht grösser oder ausgedehnter wird. Deshalb heissen die verschiedenen Vorstellungen des Weissen u.s.w. Grade. Denn die aus Theilen bestehenden Vorstellungen sind allein fähig, durch Hinzufügung des kleinsten Theiles vermehrt zu werden; nimmt man aber die Vorstellung von Weiss, welche z.B. eine Fläche Schnee gestern gewährte, und eine andere solche Vorstellung von einer andern Fläche Schnee, den man heute sieht, und fügt man sie zusammen, so werden sie gleichsam Eins und laufen zusammen, ohne dass die Vorstellung des Weissen gewachsen ist; fügt man aber ein geringeres Weiss zu einem stärkeren, so wird letzteres nicht grösser, sondern nimmt an Weisse ab. Diese nicht aus Theilen bestehenden Vorstellungen können nicht beliebig verstärkt und über das Wahrgenommene hinaus nicht höher gespannt werden; dagegen lassen der Raum, die Dauer und die Zahl, weil sie durch Wiederholung sich vermehren, in der Seele die Vorstellung eines endlosen Platzes für Mehr; ebensowenig kann man sich ein Hinderniss gegen die weitere Vermehrung und den Fortschritt vorstellen, und deshalb führen diese Vorstellungen allein die Seele zu dem Gedanken der Unendlichkeit.

§ 7. (Der Unterschied zwischen der Unendlichkeit des Raumes und dem unendlichen Raume.) Wenngleich die Vorstellung der Unendlichkeit aus dem Begriff der Grösse und aus der endlosen Vermehrung entspringt, welche die Seele mit der Grösse vornehmen kann, indem sie sie so oft wiederholt, als es ihr beliebt, so würde es doch in unserem Denken grosse Verwirrung anrichten, wenn man die Unendlichkeit mit irgend einer von der Seele vorgestellten Grösse verbinden wollte, und wenn man über eine unendliche Grösse spräche und nachdächte, d.h. über einen unendlichen Raum oder eine unendliche Dauer. Denn unsere Vorstellung der Unendlichkeit ist eine endlos wachsende Vorstellung; wenn man daher zu einer Grösse, welche die Seele zu einer Zeit sich bestimmt vorstellt (die, mag sie so gross sein, als sie will, nicht grösser werden kann, als sie ist), die Unendlichkeit hinzufügt, so ist dies so, als wenn man einer zunehmenden Masse ein Maass anfügen wollte. Es[222] ist deshalb keine nutzlose Spitzfindigkeit, wenn ich verlange, dass man genau zwischen der Unendlichkeit des Raumes und einem unendlichen Räume unterscheide; erstere ist nur ein angenommener endloser Fortgang der Seele über irgend welche wiederholte Vorstellungen von Raum; sollte aber die Seele wirklich die Vorstellung des unendlichen Raumes haben, so müsste sie wirklich schon alle jene wiederholten Vorstellungen des Raumes durchgegangen sein und übersehen, obgleich bei einer endlosen Wiederholung diese ich ihr niemals bieten kann, da es einen klaren Widersprach enthält.

§ 8. (Man hat keine Vorstellung des unendlichen Raumes.) Betrachtet man dies in Zahlen, so wird es etwas deutlicher werden. Die Unendlichkeit der Zahlen, die man durch keine Vermehrung erreichen kann, ist leicht zu fassen; allein so klar diese Vorstellung auch ist, so verkehrt ist doch die Annahme einer wirklichen Vorstellung der unendlichen Zahl; denn jedwede bejahende Vorstellung von Raum, Dauer oder Zahl, die man in seiner Seele hat, bleibt, wenn sie auch noch so gross ist, endlich; und wenn man einen unerschöpflichen Rest annimmt, von dem man alle Schranken beseitigt, und worin das Denken sich ohne Ende ergehen kann, ohne dass man die Vorstellung je vollenden kann, so hat man die menschliche Vorstellung der Unendlichkeit, Sie erscheint zwar ziemlich klar, wenn man nur auf die Verneinung des Endes in ihr sieht; allein wollte man die Vorstellung eines unendlichen Raumes oder einer solchen Dauer sich machen, so würde diese Vorstellung sehr dunkel und verworren bleiben, da sie aus zwei sehr verschiedenen, wenn nicht unverträglichen Stücken gebildet wäre. Sobald man die Vorstellung von einer auch noch so grossen Ausdehnung oder Dauer bildet, so wird offenbar die Seele damit fertig und kommt zum Abschluss; allein dies widerspricht der Vorstellung des Unendlichen, die gerade in einem endlosen Fortgehen besteht. Deshalb entstehen so leicht Verwirrungen, wenn man über die unendliche Ausdehnung und Dauer sich in Streit und Ausführungen einlässt. Indem die Unverträglichkeit der Stücke, aus denen diese Vorstellung besteht, nicht eingesehen wird, geräth man mit den aus einer Seite derselben gezogenen Folgerungen in Verwickelung mit den aus der[223] andern; ebenso würde die Vorstellung einer nicht vorwärts kommenden Bewegung Jeden, der aus ihr etwas Weiteres ableiten wollte, in Verlegenheit bringen; denn sie ist dasselbe wie eine Bewegung in Ruhe. Ganz so verhält es sich mit der Vorstellung eines unendlichen Raumes oder (was dasselbe ist) einer unendlichen Zahl; die Seele soll dabei eine abgeschlossene Vorstellung von Raum und Zahl wirklich haben, und zugleich auch die von einem Raum oder einer Zahl, die sich in einer unendlichen Zunahme befinden, welche die Seele nie befassen kann. Denn so gross auch die Vorstellung von einem Räume ist, so ist sie doch nicht grösser, als wie man sie in diesem Augenblicke hat; obwohl man sie in dem nächsten Augenblick verdoppeln und damit ohne Ende fortfahren kann. Nur das ist unendlich, was keine Grenzen hat, und nur die Vorstellung ist die der Unendlichkeit, in welcher das Denken kein Ende finden kann.

§ 9. (Die Zahl gewährt die klarste Vorstellung der Unendlichkeit.) Wie gesagt, gewährt die Zahl vor allen andern Vorstellungen die klarste und bestimmteste Vorstellung der Unendlichkeit, deren der Mensch fähig ist. Selbst beim Räume und der Dauer macht man in Verfolgung der Vorstellung der Unendlichkeit von den Vorstellungen und Wiederholungen der Zahlen Gebrauch; z.B. von Millionen und Millionen Meilen oder Jahren; es sind dies bestimmte Vorstellungen, die durch die Zahl vor dem Zusammenfliessen in einen verworrenen Haufen, worin die Seele sich verliert, geschützt werden. Hat man so viel Millionen, als man Lust hat, von bekannten Raum- oder Zeitgrössen an einander gelegt, so ist die klarste Vorstellung, die man von der Unendlichkeit gewinnt, der verworrene und unbegreifliche Ueberrest endloser noch hinzuzunehmender Zahlen, bei welchem sich kein Halt und keine Grenze zeigt.

§ 10. (Die Unterschiede in den Vorstellungen der Unendlichkeit der Zahl, der Dauer und der Ausdehnung.) Unsere Vorstellung von der Ewigkeit wird etwas mehr Licht gewinnen und sich nur als die auf bestimmte Arten von Vorstellungen angewandte Unendlichkeit der Zahl ergeben, wenn man erwägt, dass die Zahl nicht allgemein, wie die Dauer und die Ausdehnung, als unendlich vorgestellt wird. Dies kommt daher,[224] dass man bei der Zahl auf der einen Seite gleichsam ein Ende hat; denn bei der Zahl giebt es nichts Geringeres als die Eins; hier hält man an und ist zu Ende; nur in dem Zusetzen und Vermehren der Zahl kann keine Grenze gezogen werden. Die Zahl gleicht daher einer Linie, die bei uns auf einer Seite endet, während sie auf der andern Seite sich ohne alles Ende ausdehnt. Bei der Dauer und dem Räume ist dies aber nicht so, da man bei der Dauer diese Linie nach beiden Seiten als ohne Ende fortlaufend auffasst. Jedermann wird dies bemerken, sobald er nur über seine Vorstellung von der Ewigkeit nachdenkt; er wird dann finden, dass sie nur die Unendlichkeit der Zahl nach beiden Richtungen ist; a parte ante und a parte post, wie man sagt. Betrachtet man die Ewigkeit a parte ante, so thut man nichts Anderes, als dass man von der jetzigen Zeit ab nach rückwärts in Gedanken die Vorstellungen vergangener Jahre oder anderer erheblicher Zeiträume mit der Absicht wiederholt, dabei mit diesem Wiederholen bis zu der Unendlichkeit der Zahl fortzufahren. Und betrachtet man die Ewigkeit a parte post, so beginnt man ebenso von sich selbst und rechnet durch Vermehrung der Perioden nach der kommenden Zeit zu, indem man die Reihe der Zahlen ebenso wie vorher ohne Ende ausdehnt. Setzt man dann diese beiden Dinge zusammen, so hat man. die unendliche Dauer, welche man Ewigkeit nennt. Sowohl rückwärts als vorwärts erscheint sie als unendlich, weil man das unendliche Ende der Zahl, d.h. das Vermögen ohne Ende zu vermehren, dabei nach beiden Richtungen wendet.

§ 11. Dasselbe gilt für den Raum; man betrachtet sich selbst dabei wie in dem Mittelpunkte und verfolgt nach allen Richtungen diese endlosen Zahlreihen; man rechnet dabei von sich entweder nach Ellen, oder Meilen, oder Erddurchmessern, oder Durchmessern unseres Sonnensystems mittelst der Unendlichkeit der Zahl, indem man den einen zu dem andern, so oft man will, hinzufügt. Dabei hat man ebensowenig einen Anlass, dieser Vermehrung der Raumvorstellung eine Grenze zu setzen, wie der Vermehrung der Zahlen, und dadurch gewinnt man die unbestimmbare Vorstellung der Unermesslichkeit.

§ 12. (Die Theilbarkeit ohne Ende.) Auch bei einem Stoffe von irgend einer Grösse kann man im Denken[225] zu keinem Ende seiner Theilbarkeit gelangen; hier ist also bei einem Gegenstande noch eine Unendlichkeit, die auch die Unendlichkeit der Zahl an sich hat; nur wurde oben von der Hinzufügung der Zahlen Gebrauch gemacht, während diese Unendlichkeit einer Theilung der Eins in ihre Brüche gleicht, welche die Seele auch ohne Ende fortsetzen kann, da diese Theilung in Wahrheit nur in einer Vermehrung der Zahlen besteht. Man kann weder durch Vermehrung die bejahende Vorstellung eines unendlich grossen Raumes erlangen, noch durch Theilung die bejahende Vorstellung eines unendlich kleinen Körpers gewinnen; unsere Vorstellung der Unendlichkeit möchte ich vielmehr eine Art wachsende und zurückweichende Vorstellung nennen, die stets in einem endlosen Fortgange sich befindet und niemals anhalten kann.

§ 13. (Es giebt keine bejahende Vorstellung der Unendlichkeit.) Man wird nicht leicht Jemand treffen, der verkehrter Weise behauptet, er habe die bejahende Vorstellung einer unendlichen Zahl, da deren Unendlichkeit nur in dem Vermögen liegt, jeder Zahl neue Einheiten, so lange und so viel man will, zuzufügen. Dasselbe gilt auch für die Unendlichkeit des Raumes und der Dauer; auch hier gewährt dieses Vermögen der Seele Raum für eine endlose Vermehrung; trotzdem bilden sich Manche ein, eine bejahende Vorstellung von der unendlichen Dauer und Ausdehnung zu haben. Um eine solche Meinung zu widerlegen, braucht man einen Solchen nur zu fragen, ob er diese seine Vorstellung vergrössern könne oder nicht; er wird dann leicht das Verkehrte einer solchen bejahenden Vorstellung bemerken. Man kann nur solche bejahende Vorstellungen von Raum und Zeit haben, die aus wiederholten Zahlen von Fussen oder Ellen, oder Tagen und Jahren gebildet und danach bemessen sind, von welchen Maassen man die Vorstellung in der Seele hat, und nach denen man diese Art von Grössen bemisst. Wenn daher eine unendliche Vorstellung des Raumes und der Zeit aus unendlichen Theilen gebildet werden muss, so kann sie nur die Unendlichkeit der Zahl haben, die immer der Vermehrung fähig bleibt und keine wirkliche bejahende Vorstellung der unendlichen Zahl ist. Es ist Klar, dass die Zusammensetzung von endlichen Dingen (was alle Grössen sind, von denen[226] man eine bejahende Vorstellung hat) niemals anders als wie bei der Zahl die Vorstellung des Unendlichen hervorbringen kann, und bei der Zahl beruht sie auf der Hinzurechnung von endlichen Einheiten zu andern solchen; die Vorstellung des Unendlichen wird hier nur durch das Vermögen erlangt, wodurch man jede Summe noch vermehren und Gleiches hinzufügen kann, ohne dadurch dem Ende eines solchen Verfahrens und näher zu kommen.

§ 14. Der Beweis für die bejahende Natur solcher Vorstellung des Unendlichen wird auf den blendenden Satz gestützt, dass wenn die Verneinung des Endes eine verneinende Vorstellung sei, damit die Verneinung dieser Verneinung bejahend werde. Wer indess bedenkt, dass das Ende eines Körpers die Oberfläche oder das Aeussere desselben ist, wird nicht so leicht die Vorstellung des Endes als eine blos verneinende anerkennen, und wer bemerkt, dass das Ende seiner Feder schwarz oder weiss ist, wird das Ende für etwas mehr als eine blosse Verneinung halten. Ebenso ist das Ende bei der Dauer nicht die blosse Verneinung des Da ins, sondern eigentlich der letzte Augenblick desselben. Selbst wer das Ende nur als eine blosse Verneinung des Daseins nimmt, wird doch den Anfang als den ersten Augenblick des Daseins anerkennen müssen und wird ihn sich bei keinem Gegenstande als blosse Verneinung denken können; dann ist aber nach dessen eignem Beweisgrunde die Vorstellung der Ewigkeit a parte ante oder der Dauer ohne einen Anfang nur eine verneinende Vorstellung.

§ 15. (Was bejahend und was verneinend in der Vorstellung des Unendlichen ist.) Allerdings enthält die Vorstellung des Unendlichen bei allen Dingen, worauf man sie anwendet, etwas Bejahendes. Will man den unendlichen Raum oder die unendliche Dauer sich vorstellen, so bildet man zunächst eine sehr große Vorstellung von vielleicht Millionen von Zeitaltern oder Meilen, die man möglicherweise noch ein oder mehrere Male verdoppelt. Alles so in Gedanken Zusammengebrachte ist bejahend und eine Anhäufung von einer grossen Zahl bejahender Raum- oder Zeitvorstellungen. Allein von dem Darüberhinausgehenden hat man so wenig einen bestimmten bejahenden Begriff, wie der Matrose von der Tiefe des Meeres, wenn er durch Herablassen[227] des Senkbleies den Grand nicht erreichen kann, obgleich er weiss, dass diese Tiefe viele Faden und noch mehr beträgt; von diesem Mehr hat – er keine bestimmte Vorstellung. Wenn er die Leine immer verlängern und das Gewicht immer tiefer sinken lassen könnte, so würde er, wenn dieses Sinken nicht nachliesse, sich in der Lage Dessen befinden, der eine vollständige und bejahende Vorstellung des Unendlichen zu erreichen sucht. Mag die Leine zehn oder tausend Faden lang sein, so zeigt sie in beiden Fällen das Darüberhinausgehende in gleicher Weise an; in beiden Fällen giebt sie nur die verworrene und bejahende Vorstellung, dass diese Länge nicht Alles ist, sondern man weiter gehen muss. Soweit die Seele einen Raum befasst, hat sie eine bejahende Vorstellung; versucht sie aber, diese Vorstellung unendlich zu machen, so bleibt dieselbe, da sie immer erweitert und vermehrt werden muss, immer unvollendet und unvollständig. Der Theil des Raumes, den die Seele bei der Betrachtung seiner Grösse bestimmt übersieht, ist ein klares Bild von bejahender Natur im Verstande; aber das Unendliche ist immer grösser; denn 1) ist die Vorstellung von so viel Raum bejahend und klar; 2) ebenso ist die Vorstellung des Grösseren klar, aber sie ist nur eine Beziehungs-Vorstellung, d.h. die Vorstellung eines solchen Grössern, als man nicht befassen kann, also offenbar eine verneinende und keine blähende Vorstellung. Niemand hat die bejahende klare Vorstellung von der Grösse einer Ausdehnung (welche man bei der Vorstellung des Unendlichen erstrebt), wenn er nicht die zusammenfassende Vorstellung ihrer Dimensionen hat, und eine solche wird Niemand bei dem Unendlichen zu haben behaupten. Die bejahende Vorstellung einer Grösse, von der man nicht angeben kann, wie gross sie ist, ist nicht mehr als die bejahende klare Vorstellung von der Zahl der Sandkörner an der Meeresküste, bei der man nicht weiss, wie viel es sind, sondern nur dass es mehr als zwanzig sind. Man hätte dann auch von dem unendlichen Raum und der Zeit dieselbe vollständige und bejahende Vorstellung, wenn man sagte, sie seien grösser, als die Ausdehnung oder Dauer von 10, 100, 1000 oder irgend einer andern Zahl von Meilen oder Jahren, von denen man eine bejahende Vorstellung besitzt. Nur in dieser Weise kann das Unendliche[228] vorgestellt werden; das über die bejahende Vorstellung hinausliegende Stück der Unendlichkeit liegt in der Dunkelheit und ist nur eine unbestimmte und verworrene verneinende Vorstellung, in der ich alles dazu Nöthige weder befasse, noch befassen kann, da es für ein endliches und beschränktes Vermögen zu gross ist. Es muss daher eine Vorstellung noch weit von einer bejahenden fern sein, wenn der grösste Theil dessen, was in sie hineingehört, unter der unbedeutenden Andeutung eines immer noch Grösseren ausgelassen werden muss. Ist man bei der Messung einer Grösse so weit als möglich gegangen und doch noch nicht an das Ende gelangt, so ist dies nur ein Ausdruck dafür, dass der Gegenstand noch grösser ist. Die Verneinung des Endes bei irgend einer Grösse ist mit andern Worten der Ausdruck, dass sie grösser ist, und die gänzliche Verneinung alles Endes enthält nur dieses Grösser als fortwährend gegenwärtig, wenn man auch in Gedanken die Vermehrung noch so weit fortsetzt und dieses Grösser allen Vorstellungen, die man von der Grösse haben oder bilden kann, hinzufügt. Hiernach mag Jeder urtheilen, ob eine solche Vorstellung als blähend gelten könne.

§ 16. (Man hat keine bejahende Vorstellung von einer unendlichen Dauer.) Ich frage Den, welcher eine bejahende Vorstellung von der Ewigkeit zu haben behauptet, ob seine Vorstellung die zeitliche Folge einschliesst oder nicht? Sagt er Nein, so muss er den Unterschied seines Begriffes von der Dauer in Anwendung auf ein ewiges und auf ein endliches Wesen darlegen; denn wahrscheinlich werden hier Viele mit mir eingestehen, dass ihr Verstand hierzu zu schwach ist, und dass ihr Begriff der Dauer sie nöthigt, anzuerkennen, wie Alles, was Dauer hat, heute von einer langem Zeitfolge ist, als es gestern war. Will man, um der Zeitfolge bei dem äusserlichen Dasein auszuweichen, zu dem punctum stans der Schulen zurückgehen, so wird man die Sache damit wenig bessern und zu keiner klarem und mehr bejahenden Vorstellung von der unendlichen Dauer gelangen, da dem Menschen nichts unbegreiflicher ist, als eine Dauer ohne zeitliche Folge. Ueberdem ist dieses punctum stans, wenn es überhaupt etwas bedeutet, keine Grösse, und deshalb gehört weder das Endliche noch das[229] Unendliche ihm an. Kann daher unser schwacher Verstand die zeitliche Folge von keiner Dauer abtrennen, so kann unsere Vorstellung der Ewigkeit nur die von einer unendlichen Folge von Augenblicken der Dauer sein, während ein Ding besteht. Ob man aber von einer wirklich unendlichen Zahl eine bejahende Vorstellung hat oder haben kann, mag Derjenige erwägen, der seine unendliche Zahl so weit gebracht hat, dass er sie nicht mehr vermehren kann. Ich denke, so lange man sie noch vermehren kann, wird man selbst diese Vorstellung zu knapp für eine bejahende Unendlichkeit erachten.

§ 17. Wenn irgend ein vernünftiges Wesen sein eigenes oder eines Andern Dasein prüft, so wird es sicherlich den Begriff eines ewigen Wesens erreichen, das keinen Anfang hat; ich habe wenigstens die Vorstellung von solch einer unendlichen Dauer. Allein diese Verneinung eines Anfangs ist nur die Verneinung einer bejahenden Bestimmung und giebt mir kaum die bejahende Vorstellung der Unendlichkeit; vielmehr finde ich mich in Verlegenheit, wenn ich versuche, meinen Gedanken so weit auszudehnen; ich kann keine klare Vorstellung davon gewinnen.

§ 18. (Es giebt keine bejahende Vorstellung von dem unendlichen Raume.) Wer die bejahende Vorstellung eines unendlichen Raumes zu haben meint, wird bei deren Betrachtung finden, dass seine Vorstellung von dem grössten Räume nicht mehr bejahend ist als die von dem kleinsten Räume. Denn, wenngleich die letztere leichter und mehr innerhalb unserer Fassungskraft zu liegen scheint, so ist sie doch immer nur eine Beziehungs-Vorstellung der Kleinheit, die immer kleiner ist als irgend eine bejahende Vorstellung eines kleinen Raumes; denn alle unsere Vorstellungen von irgend einer Grösse, mag sie klein oder gross sein, haben immer ihre Grenzen, während jene Beziehungs-Vorstellung, welcher man entweder immer noch etwas zusetzen oder abnehmen kann, keine Grenze hat, da das noch übrig bleibende Grösse oder Kleine, was die bejahende Vorstellung nicht mitbefasst, in der Dunkelheit liegt. Die Vorstellung desselben ist nur die, dass man ohne Ende die eine vermehren und die andere vermindern kann. Eine Keule und ein Mörser würden einen Stofftheil ebenso[230] schnell zur Untheilbarkeit bringen, wie der schärfste Gedanke eines Mathematikers, und ein Feldmesser würde mit seiner Kette diesen unendlichen Raum ebenso schnell ausmessen, wie der Philosoph es mit dem schnellsten Flug seiner Gedanken vermag oder durch Denken ihn befassen kann; dies will die bejahende Vorstellung sagen. Die Vorstellung eines Würfels von einem Zoll Länge ist, klar und deutlich, und man kann davon die Vorstellung der Hälfte, des Viertels, des Achtels bilden, bis man zu der von etwas sehr Kleinem gelangt; allein damit hat man keineswegs die Vorstellung der unfassbaren, durch Theilung hervorzubringenden unendlichen Kleinheit erreicht. Man ist dann immer noch so weit, als wie im Beginn, davon entfernt, und deshalb erlangt man niemals die klare bejahende Vorstellung jenes Kiemen, welches sich aus der endlosen Theilbarkeit ergiebt.

§ 19. (Das Bejahende und Verneinende in der Vorstellung des Unendlichen.) Wer auf die Unendlichkeit ausgeht, macht sich, wie gesagt, bei dem ersten Beginnen eine sehr grosse Vorstellung von Raum oder Zeit worauf er jene dann anwendet; allein er kommt damit dem Besitz einer klaren bejahenden Vorstellung von dem nicht näher, was noch zu der bejahenden Unendlichkeit gehört; so wenig wie der Bauer mit seiner Vorstellung des Wassers, was in dem Kanal, an dem er stand, immer noch ablaufen und hinzukommen sollte.

»Der Bauer will das Verschwinden des Flusses abwarten, allein dieser fliesst und wird flüchtig in alle Ewigkeit fliessen.«

§ 20. (Manche meinen eine bejahende Vorstellung von der Ewigkeit, aber nicht von dem unendlichen Raume zu haben.) Ich habe Personen getroffen, welche zwischen unendlicher Dauer und unendlichem Räume einen Unterschied zogen und meinten, sie hätten eine bejahende Vorstellung von der Ewigkeit, aber nicht von dem unendlichen Räume, von dem man keine haben könne. Der Grund dieses Missverständnisses mag darin liegen, dass eine richtige Betrachtung der Ursachen und Wirkungen zur Annahme eines ewigen Wesens führt, dessen wirkliches Dasein daher ihrer Vorstellung von der Ewigkeit entnommen und ihr entsprechend ist; dagegen finden sie auf der andern Seite es nicht nothwendig,[231] vielmehr offenbar verkehrt, den Stoff für unendlich anzunehmen, und sie folgern deshalb dreist, dass sie keine Vorstellung von dem unendlichen Räume haben können, weil sie keine Vorstellung von einem unendlichen Stoff haben können. Allein dieser Schluss ist sehr bedenklich, da der Raum von dem Stoffe so wenig wie die Dauer von der Bewegung oder von der Sonne bedingt ist, obgleich sie danach gemessen wird. Man kann deshalb ebenso gut die Vorstellung eines Vierecks von 10,000 Meilen haben, ohne die eines so grossen Körpers, wie die: Vorstellung von 10,000 Jahren ohne die eines so alten Körpers. Die Vorstellung eines von Stoff leeren Raumes scheint mir so leicht, wie die von dem Rauminhalt eines Scheffels ohne Korn darin, und von der Höhlung einer Nussschale ohne Kern. Es folgt deshalb das Dasein: eines unendlich ausgedehnten Körpers aus unsrer Vorstellung eines unendlichen Raumes so wenig, wie die Ewigkeit der Welt aus unsrer Vorstellung von der unendlichen Dauer. Weshalb sollte auch unsere Vorstellung des unendlichen Raumes das wirkliche Dasein eines sie stützenden Stoffes erfordern, da man doch die klare Vorstellung der zukünftigen wie der vergangenen unendlichen Dauer haben kann, obgleich Niemand behaupten wird, dass in dieser kommenden Zeit schon ein Ding besteht oder bestanden habe. Die Vorstellung der kommenden Zeit lässt sich mit einem gegenwärtigen oder vergangenen Dasein so wenig verbinden, als sich die Vorstellung von Gestern, Heute und Morgen zu ein und derselben machen lässt, oder als aus zukünftigem oder Vergangenem ein Gegenwärtiges gemacht werden kann. Meint man, dass man eine klarere Vorstellung von der unendlichen Dauer als von dem unendlichen Räume, habe, weil Gott unzweifelhaft in dieser Ewigkeit bestanden habe, während kein wirklicher Gegenstand gleichzeitig den unendlichen Raum ausfülle, so muss man dann auch jenen Philosophen, welche den unendlichen Raum; durch Gottes Allgegenwart ebenso ausgefüllt annehmen, wie die unendliche Zeit durch sein unendliches Dasein, zugestehen, dass sie eine ebenso klare Vorstellung von dem unendlichen Räume wie von der unendlichen Zeit haben; obgleich wohl Keiner von Beiden eine bejahende: Vorstellung beider Unendlichkeiten haben wird; denn[232] jedwede bejahende Vorstellung einer Grösse kann wiederholt und der frühem so leicht zugesetzt werden, als man die Vorstellungen von zwei Tagen oder zwei Schritten verbindet, welche bejahende Vorstellungen von Glossen sind, und dieses Vermehren kann beliebig fortgesetzt werden; hätte also Jemand die bejahende Vorstellung einer unendlichen Dauer oder Ausdehnung, so konnte er zwei solche unendlichen Dinge zusammenfügen, ja das eine Unendliche grösser als das andere machen; welche Widersinnigkeiten keiner Widerlegung bedürfen.

§ 21. (Die angeblichen bejahenden Vorstellungen der Unendlichkeit sind der Anlass zu Irrthümern.) Wenn nach alledem dennoch Menschen dabei beharren, dass sie die klare, bejahende und umfassende Vorstellung des Unendlichen besitzen, so mögen sie sich dieses Vorrechtes erfreuen, und ich werde mich sehr freuen (mit Anderen, die diese Vorstellung geständlich nicht haben), wenn ihre Mittheilungen mich eines Bessern belehren. Bisher habe ich die grossen und unlösbaren Schwierigkeiten, die sich bei allen Erörterungen über die Unendlichkeit von Raum, Dauer und Theilbarkeit ergeben, als das sichere Zeichen eines Mangels in unsern Vorstellungen von der Unendlichkeit und des Missverhältnisses gehalten, welches zwischen der Natur dieser Vorstellung und unserm beschränkten Fassungsvermögen besteht. Wenn man über den unendlichen Raum und die Dauer so spricht und streitet, als hätte man von derselben die gleich klare und bejahende Vorstellung wie von einer Elle, einer Stunde oder einer andern bestimmten Grösse, so muss natürlich die unfassbare Natur des behandelten Gegenstandes in Verlegenheiten und Widersprüche verwickeln, und der Geist muss durch ein Ding erdrückt werden, das für seinen Ueberblick und seine Behandlung zu gross und gewaltig ist.

§ 22. (Alle diese Vorstellungen kommen aus der Sinnes- und Selbstwahrnehmung.) Wenn ich etwas länger bei der Betrachtung von Dauer, Raum und Zahl und der daraus hervorgehenden Unendlichkeit verweilt habe, so erforderte dies der Gegenstand; denn es giebt kaum eine andere einfache Vorstellung, deren Besonderungen das Denken so wie diese in Anspruch nehmen. Ich will nicht behaupten, dass ich den Gegenstand[233] erschöpft habe; es genügt mir, wenn ich gezeigt habe, dass die Seele sie so, wie sie sind, durch die Sinnes und Selbstwahrnehmung empfangt, und dass selbst die Vorstellung der Unendlichkeit, trotz ihres scheinbar weiten Abstandes von jedem sinnlichen Gegenstände und jeder Thätigkeit der Seele, dennoch ebenso wie alle andern Vorstellungen nur dort ihren Ursprung hat. Vielleicht führen Mathematiker, deren Forschungen weiter gegangen sind, die Vorstellungen der Unendlichkeit in anderer Weise in die Seele ein; allein trotzdem haben sie ebenso wie Andere ihre ersten Vorstellungen von Unendlichkeit in der hier beschriebenen Weise durch Sinnes- und Selbstwahrnehmung erlangt.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 218-234.
Lizenz:
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Versuch über den menschlichen Verstand
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Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

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