Einundzwanzigstes Kapitel.
Von der Kraft

[246] § 1. (Wie diese Vorstellung erlangt wird.) Wenn die Seele täglich mittelst der Sinne erfährt, wie die in den äussern Dingen bemerkten einfachen Vorstellungen sich ändern, und wahrnimmt, wie die eine endet und zu sein aufhört und eine andere zu sein beginnt die vorher nicht bestand; wenn sie ferner auf sich selbst achtet und den steten Wechsel der Vorstellungen bemerkt, der bald durch den Eindruck äusserer Dinge auf die Sinne, bald durch ihre eigene Wahl erfolgt, und wenn sie aus diesen bisher regelmässig beobachteten Veränderungen folgert, dass dieselben Veränderungen in der Zukunft in denselben Dingen auf die gleiche Weise durch dieselben wirkenden Bestimmungen erfolgen werden; und wenn sie ferner bei dem einen Dinge dessen Möglichkeit beachtet, eine Veränderung in seinen einfachen Vorstellungen zu erleiden, und bei dem andern die Möglichkeit, diese Veränderung herbeizuführen, so gelangt die Seele dadurch zur Vorstellung der Kraft. So sagt man: das Feuer hat die Kraft, Gold zu schmelzen, d.h. die Festigkeit von dessen kleinsten Theilen und damit seine Härte aufzuheben und es flüssig zu machen; ebenso sagt man: das Gold hat die Kraft, geschmolzen zu werden; die Sonne hat die Kraft, Wachs zu bleichen, und das Wachs die Kraft, durch die Sonne gebleicht zu werden, wobei die gelbe Farbe zerstört wird und die weisse an deren Stelle tritt. In diesen und ähnlichen Fällen betrachtet man die Kraft in Beziehung auf den Wechsel sinnlicher Vorstellungen; denn man kann die Veränderung und den Einfluss auf ein Ding nur durch den Wechsel seiner sinnlichen Vorstellungen bemerken und keine Veränderung desselben sich anders wie als einen Wechsel in einigen seiner Vorstellungen vorstellen.

§ 2. (Die thätige und die leidende Kraft.) Diese so aufgefasste Kraft ist zwiefacher Art; sie kann nämlich entweder eine Veränderung bewirken oder erleiden, und man kann jene die thätige und diese die leidende Kraft nennen. Ob der Stoff ganz der thätigen[246] Kraft so entbehrt, wie sein Schöpfer, Gott, über alle leidende Kraft erhaben ist, und ob der zwischen Beiden stehende geschaffene Geist allein der thätigen und der leidenden Kraft fähig ist, wäre wohl der Untersuchung werth; indess kann ich nicht darauf eingehen, da ich nicht den Ursprung der Kraft, sondern den unserer Vorstellung von ihr zu erforschen habe. Indess bilden die thätigen Kräfte einen grossen Theil unserer zusammengesetzten Vorstellungen von natürlichen Substanzen (wie sich später ergeben wird), und ich nehme sie als solche, indem ich dabei der gewöhnlichen Ansicht folge; allem in Wahrheit sind sie vielleicht nicht solche thätige Kräfte, wie man sie in der Eilfertigkeit des Denkens nimmt, und deshalb geschieht es nicht ohne Noth, wenn ich durch diese Andeutung den Leser auf die Betrachtung Gottes und der Geister verweise, um die klarste Vorstellung von thätigen Kräften zu erlangen.

§ 3. (Die Kraft schliesst eine Beziehung ein.) Ich erkenne an, dass die Kraft eine Art von Beziehung einschliesst (nämlich eine Beziehung, auf Thätigkeit oder Veränderung); indess bei welcher andern Vorstellung zeigt sich nicht bei genauer Betrachtung dasselbe? Enthalten unsere Vorstellungen von Ausdehnung, Dauer und Zahl nicht alle eine geheime Beziehung der Theile? Die Gestalt und die Bewegung haben dieses Beziehende noch viel deutlicher an sich, und was sind die sinnlichen Eigenschaften der Farben, Gerüche u.s.w. anders als die Kräfte verschiedener Körper in Beziehung auf unser Wahrnehmen? Hängen nicht selbst die Dinge, wenn man sie an sich selbst betrachtet, von der Masse, Gestalt, dem Gewebe und der Bewegung ihrer Theile ab? Dies Alles schliesst eine Art Beziehung ein. Deshalb kann unsere Vorstellung von der Kraft mit Recht einen Platz unter den einfachen Vorstellungen einnehmen und als eine solche gelten; denn sie bildet einen Hauptbestandtheil der zusammengesetzten Vorstellungen der Substanzen, wie sich später ergeben wird.

§ 4. (Die klarste Vorstellung der thätigen Kraft wird von dem Geiste entlehnt.) Mit der Vorstellung der leidenden Kraft wird man beinah durch alle Arten von Dingen genügend versehen. Bei den meisten derselben muss man wahrnehmen, dass ihre[247] sinnlichen Eigenschaften, ja selbst ihre Substanzen in einer steten Veränderung sich befinden, und deshalb gelten sie mit Recht als in dieser Weise veränderlich. Ebenso zahlreich sind die Fälle einer thätigen Kraft (welches die eigentliche Bedeutung des Wortes Kraft ist); denn zu jedweder Veränderung muss man eine Kraft annehmen, die diese Veränderung hervorzubringen vermag, und ebenso eine Möglichkeit in dem Gegenstande, sie zu erleiden. Indess gewähren, genauer erwogen, die Körper durch die Sinne keine so klare und deutliche Vorstellung der thätigen Kraft, wie die Selbstwahrnehmung sie von den Thätigkeiten unserer Seele gewährt. Denn alle Kraft bezieht sich auf eine Thätigkeit, und von dieser kennt man nur zwei Arten, das Denken und die Bewegung. Es fragt sich daher, woher man die klarste Vorstellung von der diese Thätigkeiten bewirkenden Kraft habe? 1) Vom Denken giebt uns der Körper keine Vorstellung; nur durch Selbstwahrnehmung erlangt man sie; 2) ebensowenig hat man von dem Körper die Vorstellung einer selbst anfangenden Bewegung. Ein ruhender Körper giebt keine Vorstellung der thätigen bewegenden Kraft, und wird er bewegt, so ist diese Bewegung eher ein Leiden, als eine Thätigkeit seiner; denn wenn die Billardkugel der Bewegung des stossenden Stabes gehorcht, so ist dies nicht eine Thätigkeit, sondern ein Leiden der Kugel; ebenso theilt sie, wenn sie durch Stoss eine andere ihr in dem Wege liegende Kugel in Bewegung setzt, die empfangene Bewegung nur mit und; verliert davon so viel, als sie mittheilt; aber dies giebt nur eine dunkle Vorstellung der thätigen Kraft, die in dem Körper bewegend wirkt; man sieht dabei nur die; Uebertragung, aber nicht die Hervorbringung der Bewegung; denn es ist nur eine sehr dunkle Vorstellung der Kraft, die nicht die Hervorbringung der Handlung, sondern nur die Fortsetzung des Leidens enthält, und so verhält sich die Bewegung bei einem durch einen andern gestossenen Körper; die Fortsetzung dieser seiner Veränderung aus der Ruhe in Bewegung ist nur wenig mehr Thätigkeit, als die Fortbehaltung der durch den, Stoss bewirkten Veränderung in seiner Gestalt eine Thätigkeit ist. Man erlangt die Vorstellung von einer beginnenden Bewegung lediglich durch die Wahrnehmung[248] dessen, was in uns selbst vorgeht; hier sieht man, dass man lediglich durch das Wollen, lediglich durch einen Gedanken der Seele seine Glieder bewegen kann, die vorher in Ruhe waren. Deshalb erlangt man von der Wahrnehmung der Wirksamkeiten der Körper nur eine unvollkommene und dunkle Vorstellung der thätigen Kraft, da sie nicht die Vorstellung einer Kraft gewähren, die in ihnen ein Thun oder Bewegen oder Denken anfängt. Wenn man indess von dem. Stosse der Körper auf einander ebenfalls eine klare Vorstellung der Kraft erlangt zu haben meint, so passt auch dies zu meiner Absicht, da die Sinneswahrnehmung einer der Wege ist, wodurch die Seele zu Vorstellungen gelangt; es scheint mir hier nur zweckmässig, nebenbei zu erwägen, ob die Seele die Vorstellung der thätigen Kraft nicht klarer durch Wahrnehmung ihrer eigenen Thätigkeit, als durch die äussere Sinneswahrnehmung gewinnt.

§ 5. (Der Wille und der Verstand sind zwei Kräfte.) So viel dürfte wenigstens gewiss sein, dass man in sich eine Kraft zum Beginnen oder Anhalten, zum Fortfahren oder Beenden jener verschiedenen Thätigkeiten der Seele und Bewegungen des Körpers bemerkt, welche lediglich durch ein Denken oder vorziehender Seele gleichsam das Vollziehen oder Nicht-Vollziehen von solch einer einzelnen Handlung anordnet oder befiehlt. Diese Kraft der Seele, vermöge deren sie die Betrachtung einer Vorstellung oder deren Nicht-Betrachtung anordnet, oder die Bewegung der Ruhe eines Gliedes oder das Umgekehrte in jedem einzelnen Falle vorzieht, ist das, was man Wille nennt. Die wirkliche Ausübung dieser Kraft durch Bewirkung oder Unterlassung einer einzelnen Handlung ist das, was man Wollen oder Begehren nennt. Die Unterlassung einer solchen Handlung in Gemässheit solcher Anordnung oder Befehls der Seele heisst freiwillig. Dagegen heisst jede ohne ein solches Denken der Seele vollzogene Wirksamkeit unwillkürlich. Die Kraft der Auffassung ist das, was man Verstand nennt. Diese, die Thätigkeit des Verstandes ausmachende Auffassung ist dreifach: 1) die Auffassung der Vorstellungen in der Seele, 2) die Auffassung der Bedeutung der Zeichen, 3) die Auffassung der Verbindung oder des Widerspruchs, des Zusammenstimmens[249] oder Nicht-Stimmens zwischen irgend welchen Vorstellungen. Dies Alles wird dem Verstande zugeschrieben, als der auffassenden Kraft, obgleich nur die beiden letzten Arten es machen, dass man etwas versteht.

§ 6. (Vermögen.) Gewöhnlich werden diese Seelenkräfte des Auffassens und Vorziehens anders benannt; man nennt gewöhnlich den Verstand und den Willen Seelenvermögen, welches Wort sich wohl dazu eignet, wenn es, wie alle Worte es sollten, nicht zur Erregung von Verwirrung in dem Denken benutzt wird, und wenn man nicht deshalb annimmt (wie es wohl geschehen sein mag), es bezeichne wirkliche Wesen in der Seele, welche diese Thätigkeiten des Verstehens und Wollens vollziehen. Denn wenn man den Willen als das befehlende und obere Vermögen der Seele bezeichnet, wenn man ihn frei oder nicht frei nennt, wenn man sagt, er bestimme die niedern Vermögen und dass er selbst den Geboten des Verstandes folge u.s.w., so mögen diese und ähnliche Ausdrücke wohl in einem klaren und deutlichen Sinne von Denen aufgefasst werden, welche auf ihre Vorstellungen sorgfältig Acht haben und ihr Denken mehr nach der Wirklichkeit der Dinge, als nach den Lauten der Worte bestimmen; allein dennoch wird diese Ausdrucksweise vielfach zu dem verworrenen Begriff verschiedener wirkender Wesen in der Seele geführt haben, von denen jedes sein besonderes Gebiet und Ansehen hat, und jedes gebietet, gehorcht und einzelne Handlungen verrichtet, als wäre es ein besonderes Wesen. Dies hat Anlass zu vielem Streit, Unklarheit und Ungewissheit in den hierauf bezüglichen Fragen gegeben.

§ 7. (Woher die Vorstellung der Freiheit und Nothwendigkeit kommt.) Jeder findet in sich eine Kraft, einzelne Handlungen zu beginnen oder zu unterlassen, fortzusetzen oder zu beenden; aus der Betrachtung des Umfanges dieser Seelenkraft über das Handeln des Menschen, die Jeder in sich bemerkt, entspringen die Vorstellungen der Freiheit und Nothwendigkeit.

§ 8. (Was die Freiheit ist.) Da alle Thätigkeit, von der man eine Vorstellung hat, sich, wie gesagt, auf das Denken und Bewegen beschränkt, so ist ein Mensch insoweit frei, als er die Kraft hat, je nachdem seine[250] Seele es vorzieht oder bestimmt, zu denken oder nicht zu denken, zu bewegen oder nicht zu bewegen. Wo dagegen eine Verrichtung oder Unterlassung nicht so in der Gewalt des Menschen ist; wo das Vollziehen oder Nicht-Vollziehen nicht so dem Entschlüsse und der Bestimmung seiner Seele folgt, da ist er nicht frei, wenn auch die Handlung vielleicht eine freiwillige ist. Daher ist die Vorstellung der Freiheit die der Kraft eines Wesens, eine einzelne Handlung dem Entschlüsse oder Denken der Seele gemäss zu thun oder zu unterlassen, wobei eines von beiden dem andern vorgezogen wird. Wo dagegen Beides nicht durch die Kraft dieses Wirksamen seinem Wollen gemäss hervorgebracht wird, da ist keine Freiheit, sondern da steht dieses Wirksame unter der Nothwendigkeit. Freiheit kann daher nur da sein, wo Denken, Wollen und Wille ist; allein alle diese können vorhanden sein und doch nicht die Freiheit. Die Betrachtung einiger hierher gehörender Fälle wird dies klarer machen.

§ 9. (Die Freiheit setzt den Verstand und Willen voraus.) Ein Federball wird von Niemand für ein freies Wesen gehalten, mag er durch den Schlag der Peitsche bewegt werden oder sich in Ruhe befinden. Der Grund liegt bei näherer Betrachtung darin, dass man dem Federball kein Denken und folglich auch kein Wollen und keine Wahl zwischen Ruhe und Bewegung zuschreibt; deshalb hat er keine Freiheit und gilt nicht als ein freies Wesen; seine Ruhe und Bewegung wird nur als nothwendig genommen und auch so benannt. Ebenso hat ein Mensch, der in das Wasser fällt (indem die Brücke unter ihm bricht), hierbei keine Freiheit und ist kein freies Wesen; denn wenn er auch einen Willen hat und das Nicht-Fallen dem Fallen vorzieht, so ist doch die Unterlassung dieser Bewegung nicht in seiner Macht, und das Anhalten oder Aufhören dieser Bewegung erfolgt nicht durch sein Wollen, und deshalb ist er hierbei nicht frei. Ebenso hält man einen Menschen nicht für frei, der durch eine krampfhafte Bewegung seines Armes, welche er durch Wollen und die Leitung seiner Seele nicht hemmen noch unterlassen kann, sich oder seinen Freund schlägt; vielmehr bedauert man ihn wegen dieser nothwendigen oder erzwungenen That.[251]

§ 10. (Die Freiheit gehört dem Wollen nicht an.) Wird dagegen ein Mensch im Schlafe in ein Zimmer getragen, wo sich Jemand befindet, den er gern sehen und sprechen will, und wird er dort so eingeschlossen, dass er nicht herauskann, und erwacht er und freut er sich, einen so erwünschten Gesellschafter zu treffen, bei dem er gern bleibt, d.h. wo er das Bleibendem Fortgehen vorzieht, so frage ich, ob dieses Bleiben nicht freiwillig ist? Niemand wird dies bestreiten, Und dennoch kann er, da er fest eingeschlossen ist, nicht fortgehen und hat nicht die Freiheit, nicht zu bleiben. Die Freiheit ist deshalb eine Vorstellung, die nicht dem Wollen oder Vorziehen angehört, sondern dem Menschen, der nach seiner Wahl etwas thun oder nicht thun kann. Die Vorstellung der Freiheit reicht so weit als diese Macht und nicht weiter. Wenn irgendwie diese Macht erschüttert wird, oder wenn ein Zwang diese Unentschiedenheit in dem Vermögen, zu handeln oder nicht zu handeln, aufhebt, so hört die Freiheit und unser Begriff von derselben sofort auf.

§ 11. (Der Gegensatz von Freiwillig ist nicht das Nothwendige, sondern das Unfreiwillige.) Davon hat man Beispiele genug an seinem eigenen Körper. Das Herz schlägt und das Blut rollt, ohne dass man es durch ein Wollen oder Denken hemmen kann; deshalb ist man rücksichtlich dieser Bewegungen, wo die Ruhe nicht von der Wahl abhängt und dem Entschlüsse nicht nachfolgt, kein freies Wesen. Wenn Krämpfe die Beine zucken machen und man trotz allen Wollens diese Bewegung durch keine Kraft seiner Seele hemmen kann (wie bei der sonderbaren Krankheit des sogenannten St. Veitstanzes), sondern immer springen muss, so ist man hierbei nicht frei, sondern die Bewegung ist ebenso nothwendig, wie die des fallenden Steines oder des von der Pritsche geschlagenen Balls. Umgekehrt kann eine Lähmung oder ein Klotz es hindern, dass die Füsse der Bestimmung des Willens gehorchen, im Fall man wo anders hingehen wollte. In all diesen Fällen fehlt die Freiheit, wenn auch ein Gelähmter das Stillsitzen der Bewegung vorzieht und es deshalb wahrhaft freiwillig ist. Das Freiwillige ist deshalb nicht der Gegensatz von dem Nothwendigen, sondern von dem unfreiwilligen; ein[252] Mensch kann das, was er vermag, dem, was er nicht vermag, und seinen gegenwärtigen Zustand jeder Veränderung vorziehen, wenn auch die Nothwendigkeit diesen Zustand unveränderlich gemacht hat.

§ 12. (Was ist die Freiheit?) So wie mit den Bewegungen des Körpers, verhält es sich auch mit den Gedanken der Seele; so weit man die Macht hat, einen Gedanken nach der Wahl der Seele aufzunehmen oder zu beseitigen, ist man frei. Wenn ein wachender Mensch immer gewisse Vorstellungen in seiner Seele haben muss, so hat er die Freiheit, zu denken oder nicht Zu denken, ebenso wenig, wie die, dass sein Körper keinen andern Körper berühren solle oder nicht; aber oft steht es in seiner Wahl, ob er von einem Gedanken zu dem andern übergehen will, und dann ist er in Bezug auf sein Denken so frei, als er es in Bezug auf Körper ist, auf denen er ruht und wo er beliebig sich von dem einen zu dem andern bewegen kann. Indess giebt es Vorstellungen der Seele wie Bewegungen des Körpers, die unter gewissen Umständen nicht vermieden werden können und deren Beseitigung selbst durch die äusserste Anstrengung nicht erreicht werden kann. Ein Mann auf der Folter ist nicht frei in Beseitigung der Vorstellung des Schmerzes und in Beschäftigung seiner mit andern Gedanken, und manchmal reisst eine aufbrausende Leidenschaft unsere Gedanken davon wie ein Sturmwind unsern Körper, und es bleibt uns nicht die Freiheit, an Anderes zu denken, was wir lieber thäten. Sobald indess die Seele die Macht wiedererlangt, diese Bewegungen des Körpers äusserlich und die der Gedanken innerlich, je nachdem sie es passend findet, zu hemmen oder fortzusetzen, zu beginnen oder zu unterlassen, so betrachtet man den Menschen wieder als ein freies Wesen.

§ 13. (Was ist die Nothwendigkeit?) Wo das Denken oder die Macht, nach der Leitung der Gedanken zu handeln oder nicht zu handeln, ganz fehlt, da tritt die Nothwendigkeit ein. Wenn bei einem des Willens fähigen Wesen der Anfang oder die Fortsetzung einer Handlung gegen seine Wahl erfolgt, so ist dies der Zwang; wird es gegen seinen Willen, an einer Handlung oder deren Fortsetzung gehindert, so nennt man es gewaltsame[253] Hemmung. Dinge ohne Denken und Wollen sind überall in der Nothwendigkeit befangen.

§ 14. (Dem Willen kommt keine Freiheit zu.) Wenn dies so ist (und ich glaube, es ist so), so hilft es vielleicht zur Beseitigung der lang verhandelten, und ich glaube unverständigen, weil unverständlichen Frage, ob der menschliche Wille frei ist oder nicht? Denn nach dem Gesagten ist diese Frage an sich verkehrt, und es ist so unverständlich, nach der Freiheit des Willens zu fragen, als danach, ob der Schlaf schnell oder die Tugend viereckig ist. Die Freiheit ist so wenig auf den Willen anwendbar, wie die Bewegung auf den Schlaf und die viereckige Gestalt auf die Tugend. Jedermann lacht über das Verkehrte dieser letzten Fragen, da die Arten der Bewegung offenbar nicht dem Schlafe und die der Gestalt nicht der Tugend zukommen, und wenn man es genau betrachtet, so wird man ebenso finden, dass die Freiheit, die blos eine Kraft ist, nur einem Wesen zukommt und nicht eine Eigenschaft oder eine Besonderung des Willens sein kann, da dieser auch nur eine Kraft ist.

§ 15. (Das Wollen.) Die Schwierigkeit, durch Worte eine Erklärung und einen klaren Begriff von innern Thätigkeiten zu geben, ist so gross, dass ich meine Leser erinnern muss, wie die von mir gebrauchten Worte von Anordnen, Leiten, Wählen, Vorziehen u.s.w. das Wollen nicht bestimmt genug bezeichnen, wenn er nicht sein eigenes Wollen betrachtet. Denn das Vorziehen scheint vielleicht die Thätigkeit des Wollens noch am besten auszudrücken, aber thut es doch nicht genau; denn wenn man auch das Fliegen dem Gehen vorzieht, so kann man doch nicht sagen, dass man fliegen will. Das Wollen ist offenbar ein Thun der Seele, die wissentlich die Herrschaft ausübt, die sie über jeden Theil des Menschen in Anspruch nimmt, indem sie sie durch eine einzelne Handlung ausübt oder davon abhält. Und was ist der Wille Anderes als das Vermögen, dies zu thun? Und ist dieses Vermögen in Wahrheit mehr als eine Kraft, und zwar die Kraft der Seele, ihr Denken zur Hervorbringung, Fortführung oder Hemmung einer Handlung so weit zu bestimmen, als diese Handlung von ihr abhängt? Kann man leugnen, dass jedes Wesen, was die[254] Kraft hat, an sein eigenes Handeln zu denken und dessen Ausführung oder Unterlassung vorzuziehen, das Vermögen besitzt, was man Willen nennt? Der Wille ist deshalb nur eine solche Kraft. Freiheit ist dagegen die Kraft, eine einzelne Handlung zu thun oder zu unterlassen, je nachdem der Mensch das Eine oder Andere vorzieht, was ebenso viel heisst, als je nachdem er es will.

§ 16. (Die Kräfte gehören den Wesen an.) Es ist also klar, dass der Wille nur eine Macht oder ein Vermögen und die Freiheit eine andere Macht oder Vermögen ist; deshalb gleicht die Frage, ob der Wille Freiheit hat, der, ob die Kraft eine andere Kraft hat und ein Vermögen ein anderes, welche Frage zu offenbar widersinnig ist, als dass man sie zu beantworten oder darüber zu streiten brauchte. Wer sieht nicht, dass die Kraft nur einem Wesen zukommt und nur die Eigenschaft von selbstständigen Dingen, nicht aber von Kräften ist? Stellt man also die Frage so, ob der Wille frei ist, so fragt man eigentlich, ob der Wille ein selbstständiges Ding, ein Wesen ist, oder man setzt dies wenigstens voraus, da man die Freiheit eigentlich von nichts Anderem aussagen kann. Könnte die Freiheit irgend wie von der Kraft ausgesagt werden oder der Kraft beigelegt werden, vermöge deren der Mensch nach seiner Wahl die Bewegung seiner Glieder veranlassen oder unterlassen kann, was wäre denn das, was man an ihm frei nennt, und was ist dann die Freiheit selbst? Früge Jemand, ob die Freiheit frei sei, so würde man glauben, er verstehe nicht, was er sage und verdiene des Midas Ohren, welcher wusste, dass reich der Ausdruck für den Besitz von Reichthümern sei, und fragte: ob der Reichthum selbst reich sei?

§ 17. Indess mag das Wort Vermögen, womit man die Willen genannte Kraft bezeichnet hat, und in Folge dessen man von dem Handeln des Willens zu sprechen verleitet wird, durch eine Wendung, welche den wahren Sinn verdeckt, diesen Widersinn etwas verhüllen. Der Wille bezeichnet jedoch in Wahrheit nur eine Kraft oder ein Vermögen, vorzuziehen oder zu wählen, und wenn man den Willen unter dem Kamen eines Vermögens, so wie er ist, als eine reine Fähigkeit, etwas zu thun, auffasst, so erkennt man leicht, wie verkehrt es ist, ihn frei[255] oder nicht frei zu nennen. Denn wäre es zulässig, Vermögen anzunehmen und von solchen zu sprechen, die als besondere Wesen handeln können (wie dies geschieht, wenn man sagt, der Wille bestimmt, der Wille ist frei), so wäre es auch angemessen, ein Vermögen zum Sprechen, zum Gehen, zum Tanzen anzunehmen, welches diese Handlungen vollzieht, die doch nur verschiedene Arten der Bewegung so sind, wie man den Willen und den Verstand als Vermögen nimmt, welche die Handlungen des Wählens und Verstehens vollführen sollen, obgleich sie doch nur verschiedene Arten des Denkens sind. Man kann dann ebenso gut sagen, dass das Vermögen zu singen es ist, was singt, und dass das Vermögen zu tanzen tanzt, wie, dass der Wille wählt und der Verstand versteht, oder dass, wie man zu sagen pflegt, der Wille den Verstand leitet oder der Verstand dem Willen gehorcht oder nicht gehorcht. Denn es ist dann ebenso richtig und verständlich zu sagen, dass die Kraft des Sprechens die Kraft des Singens leitet, und dass die Kraft des Singens der Kraft des Sprechens gehorcht oder nicht gehorcht.

§ 18. Indess hat diese Weise zu sprechen die Oberhand behalten und, wie ich vermuthe, grosse Verwirrung angerichtet. Denn wenn sie sämmtlich verschiedene Kräfte der Seele oder des Menschen für die verschiedenen Handlungen sind, so gebraucht er sie, wie es ihm passt; allein die Kraft zu einer Handlung wird nicht durch die Kraft zu einer andern Handlung angeregt. So wirkt die Kraft des Denkens nicht auch auf die Kraft zu wählen und die Kraft zu wählen nicht auf die Kraft zu denken; es geschieht dies so wenig, wie die Kraft zu tanzen auf die Kraft zu singen oder umgekehrt wirkt, Jeder bemerkt dies bei einigem Nachdenken, und doch sagt man dies, wenn man spricht, dass der Wille auf den Verstand oder der Verstand auf den Willen wirkt.

§ 19. Ich gebe zu, dass der Verstand oder das wirkliche Denken das Wollen oder die Ausübung der Kraft zu wählen veranlassen mag, oder dass eine wirkliche Wahl der Seele die Ursache eines wirklichen Denkens an dies oder jenes Ding ist; so wie das wirkliche Singen dieses Tones die Ursache davon sein mag, dass dieser Tanz getanzt wird und umgekehrt. Aber in all diesen Fällen wirkt nicht eine Kraft auf eine andere,[256] vielmehr ist es die Seele, welche wirkt und diese Kräfte entwickelt; der Mensch verrichtet diese Handlung; das Wirkende hat die Kraft oder das Vermögen, etwas zu thun. Denn die Kräfte sind Beziehungen, aber keine Wesen, und das, was die Kraft oder nicht die Kraft zu wirken hat, ist allein frei oder nicht frei, aber nicht die Kräfte selbst; denn die Freiheit oder die Nicht-Freiheit kann nur dem zukommen, was eine Kraft zu handeln hat oder sie nicht hat.

§ 20. (Die Freiheit kommt dem Willen nicht zu.) Dieser Sprachgebrauch ist daher gekommen, dass man den Vermögen Etwas zutheilt, was ihnen nicht zukommt; allein damit, dass man bei den Verhandlungen über die Seele mit dem Namen von Vermögen den Begriff ihrer Wirksamkeit einführte, hat man die Erkenntniss in dieses Gebiet unserer selbst so wenig gefördert, als der häufige Gebrauch derselben Erfindung von Vermögen bei der Wirksamkeit der Körper die Kenntniss der Natur erweitert hat. Ich bestreite nicht das Dasein von Vermögen im Körper und in der Seele; beide haben ihre Kräfte zum Wirken, sonst könnte weder der eine noch die andere wirken, da nur das wirken kann, was dazu vermögend ist, und dazu vermögend ist nur, was die Kraft zu wirken hat. Auch mögen diese und ähnliche Worte in dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ihre Stelle so behalten, wie sie eingeführt sind; es wäre zu gesucht, wenn man sie bei Seite legen wollte. Wenn die Philosophie auch nicht in einem festlichen Kleide auftritt, so muss sie doch in ihrem öffentlichen Erscheinen bei ihrer Kleidung auf die Mode und die gewöhnliche Sprache des Landes so weit Rücksicht nehmen, als sich mit der Wahrheit und Klarheit verträgt. Der Fehler liegt nur darin, dass man von diesen Vermögen wie von besondern Wesen gesprochen und sie so behandelt hat. Denn auf die Frage, was die Verdauung der Speisen in dem Magen bewirkt, war es eine schnelle und befriedigende Antwort, wenn man als solches das Verdauungsvermögen nannte; und was bewirkte die Ausführung gewisser Dinge aus dem Körper? Das ausführende Vermögen; was bewegte? Das Bewegungs-Vermögen. Und so war es in der Seele das geistige oder verstehende Vermögen, was verstand, und das wählende Vermögen oder der Wille, welcher wollte[257] oder befahl. Mit einem Worte, das Vermögen zu verdauen verdaute; das Vermögen zu bewegen bewegte, und das Vermögen zu verstehen verstand; denn Vermögen, Fähigkeit, Kraft sind nur verschiedene Namen einer Sache, und wenn man diese Redeweise in verständlichere Worte übersetzt, so heisst es so viel, als dass die Verdauung durch Etwas erfolgt, was dazu die Fähigkeit hat, die Bewegung durch Etwas, das zu bewegen fähig ist, und das Verstehen durch Etwas, was des Verstehens fähig ist. Auch würde es in Wahrheit sonderbar sein, wenn es sich anders verhielte; so sonderbar, als wenn ein Mensch frei sein wollte ohne die Fähigkeit, frei zu sein.

§ 21. (Die Freiheit kommt vielmehr dem Wesen oder dem Menschen zu.) Um nun auf die Freiheit zurückzukommen, so fragt man wohl nicht richtig, wenn man fragt, ob der Wille frei ist; sondern die Frage ist, ob der Mensch frei ist. So weit nun Jemand vermag, durch die Richtung oder Wahl seiner Seele und indem er das Dasein einer Handlung ihrem Nichtdasein vorzieht oder umgekehrt, das Dasein oder Nichtdasein derselben zu bewirken, so weit ist er frei. Denn wenn ich durch einen die Bewegung meines Fingers betreffenden Gedanken den ruhenden Finger bewegen kann, oder umgekehrt, so bin ich offenbar hierbei frei; und wenn ich durch einen ähnlichen Gedanken meiner Seele und durch Vorziehen des einen vor dem andern entweder ein Sprechen oder ein Schweigen bewirken kann, so habe ich die Freiheit zu sprechen oder zu schweigen, und man ist so weit frei, als diese Kraft durch die Bestimmung des eigenen Denkens und Vorziehens zum Handeln oder Nicht-Handeln genügt. Denn wie kann man sich Jemand mehr frei vorstellen, als wenn er die Macht hat, zu thun, was er will? Und so weit Jemand durch Vorziehen einer Handlung vor ihrem Nichtsein, oder der Ruhe vor dem Bewegen, diese Handlung oder Ruhe bewirken kann, so weit kann er thun, was er will. Denn ein solches Vorziehen einer Handlung vor ihrem Nicht-Geschehen ist das Wollen derselben, und man kann sich kein Wesen freier vorstellen, als wenn es thun kann, was es will. Deshalb erscheint ein Mensch in Bezug auf Handlungen innerhalb[258] des Bereiches einer solchen Kraft so frei, als die Freiheit ihn nur frei machen kann.

§ 22. (Der Mensch ist in Bezug auf das Wollen nicht frei.) Allein der forschende Geist des Menschen ist damit nicht zufrieden, weil er den Gedanken der Schuld so weit als möglich von sich entfernen möchte, wäre es auch nur dadurch, dass er sich selbst in einen noch schlechtem Zustand als den einer fatalistischen Nothwendigkeit versetzte. Dazu reicht aber die Freiheit innerhalb der bisherigen Grenzen nicht aus, und es gilt für einen guten Grund, dass der Mensch nur erst dann frei ist, wenn er ebenso frei wollen kann, als er bei seinem Thun das kann, was er will. Man hat deshalb in Bezug auf die menschliche Freiheit die weitere Frage erhoben: Ob ein Mensch die Freiheit zu wollen hat? Dies meint man nämlich, wenn man über die Freiheit des Willens streitet.

§ 23. Hierüber denke ich nun, dass, da das Wollen und Begehren ein Handeln ist und die Freiheit in der Kraft zu handeln oder nicht zu handeln besteht, ein Mensch bezüglich des Wollens oder der Handlung des Wollens, wenn eine ihm mögliche Handlung sich seinen Gedanken als eine gleich zu vollziehende vorstellt, nicht frei sein kann. Der Grund hierfür ist klar; denn es ist unvermeidlich, dass die von seinem Willen abhängende Handlung geschehen oder nicht geschehen muss, und ihr Geschehen oder Nichtgeschehen folgt lediglich dem Entschluss und der Wahl seines Willens; der Mensch muss also das Geschehen oder Nichtgeschehen dieser Handlung wollen, er muss also nothwendig das eine oder das andere wollen, d.h. das eine dem andern vorziehen, da eines von beiden nothwendig eintreten muss, und dieses Eintreten folgt aus der Wahl und dem Entschluss seiner Seele, d.h. durch sein Wollen; denn wenn er es nicht wollte, würde es nicht geschehen. Deshalb ist der Mensch in Bezug auf die That des Wollens in solchem Falle nicht frei, indem die Freiheit in der Macht zu handeln oder nicht zu handeln besteht, die der Mensch in Bezug auf das Wollen bei einem solchen Falle nicht hat. Denn es ist unvermeidlich nothwendig, die Verrichtung oder Unterlassung einer in der Gewalt des Menschen liegenden Handlung zu wählen, welche sich so seinen Gedanken vorstellt;[259] man muss entweder das eine oder das andere wollen, und je nach dem Vorziehen oder Wollen folgt sicherlich die Handlung oder ihre Unterlassung, also nicht wahrhaft freiwillig. Und da man das Wollen oder Vorziehen des einen oder andern nicht vermeiden kann, so steht man in Bezug auf dieses Wollen unter der Nothwendigkeit und kann so nicht frei sein, wenn nicht Nothwendigkeit und Freiheit sich vertragen und man zugleich frei und gebunden sein soll.

§ 24. So viel ist also klar, dass bei allen Vorsätzen zu einer gegenwärtigen Handlung der Mensch nicht die Freiheit hat, zu wollen oder nicht zu wollen, da er das Wollen nicht unterlassen kann und Freiheit nur in der Macht besteht, zu handeln oder nicht zu handeln. Denn ein sitzender Mensch heisst dennoch frei, weil er gehen kann, wenn er will; hat er aber dazu nicht die Macht, so ist er nicht frei, und ebenso ist ein Mensch nicht frei, der einen Abgrund hinabfällt, obgleich er sich bewegt, weil er diese Bewegung, wenn er will, nicht anhalten kann. Ist dem so, so ist offenbar ein gehender Mensch, dem vorgeschlagen wird, das Gehen aufzugeben, darin nicht frei, ob er sich zum Gehen oder Stillstehen bestimmen will oder nicht; er muss nothwendig eines von beiden vorziehen, das Gehen oder Nichtgehen, und so verhält es sich mit allen von uns abhängigen, so vorgestellten Handlungen, welche die bei weitem grösste Zahl bilden. Denn betrachtet man die grosse Zahl freiwilliger Handlungen, die sich in jedem Augenblick des Wachens während unsers Lebens einander folgen, so zeigt sich, dass nur wenige bedacht oder dem Willen vorgestellt werden, ehe sie vollzogen werden, und bei allen diesen hat, wie ich gezeigt, die Seele in ihrem Wollen nicht die Macht zu handeln oder nicht zu handeln, worin die Freiheit besteht. Die Seele kann in solchen Fällen das Wollen nicht unterlassen; sie kann irgend einen Entschluss darüber nicht umgehen, mag die Betrachtung auch noch so kurz und das Denken noch so schnell geschehen; sie lässt den Menschen entweder in seinem Zustand vor dem Denken oder ändert ihn, setzt die Handlung fort oder macht ihr ein Ende. Hierbei bestimmt oder verordnet sie offenbar das eine, weil sie es dem andern vorzieht,[260] und so geschieht die Fortdauer oder der Wechsel unvermeidlich willkürlich.

§ 25. (Der Wille wird durch Etwas ausserhalb seiner bestimmt.) Da sonach der Mensch in den meisten Fällen nicht die Freiheit zu wollen oder nicht zu wollen hat, so ist die nächste Frage, ob der Mensch die Freiheit hat, das zu wollen, was ihm gefällt, die Bewegung oder die Ruhe? Diese Frage ist in sich selbst so verkehrt, dass daraus sich genügend ergiebt, wie die Freiheit den Willen nichts angeht. Denn die Frage, ob der Mensch die Freiheit hat, entweder die Bewegung oder die Ruhe zu wollen, zu sprechen oder zu schweigen, wenn es ihm beliebt, heisst fragen: Ob der Mensch wollen kann, was er will, oder belieben, was ihm beliebt; worauf man wohl nicht zu antworten braucht. Wer so fragen kann, muss einen Willen zur Bestimmung der Handlungen des andern und wieder einen andern zur Bestimmung jenes annehmen und so fort ohne Ende.

§ 26. Um diese und ähnliche Verkehrtheiten zu vermeiden, ist es das Beste, bestimmte Vorstellungen über die fraglichen Gegenstände zu gewinnen. Wären die Vorstellungen von Freiheit und Wollen in dem Verstande wohl befestigt und würden sie so bei allen Fragen festgehalten, die sich über dieselben ergeben, so würde ein grosser Theil der das Denken verwirrenden und den Verstand einschnürenden Schwierigkeiten sich viel leichter lösen lassen, und man würde erkennen, wie weit die Dunkelheit von der verworrenen Bedeutung der Worte und wie weit von der Natur der Sache herkommt.

§ 27. (Die Freiheit.) Man halte erstlich sorgfältig fest, dass die Freiheit in der Abhängigkeit des Seins oder Nicht-Seins einer Handlung von ihrem Wollen besteht und nicht in der Abhängigkeit einer Handlung oder ihres Gegentheils von unserm Vorziehen. Der auf der Klippe stehende Mensch hat die Freiheit, vierzig Fuss tief in das Meer zu springen, nicht weil er die Macht hat, das Entgegengesetzte zu thun, d.h. vierzig Fuss in die Höhe zu springen, was er nicht vermag; sondern er ist deshalb frei, weil er die Macht hat, zu springen oder nicht zu springen. Hält aber eine grössere Gewalt als die seinige ihn fest, oder stürzt sie ihn hinab, so ist er[261] dann hierbei nicht länger frei, weil das Thun oder Unterlassen dieser bestimmten Handlung nicht mehr in seiner Gewalt ist. Wer in einem Zimmer von zwanzig Fuss als Gefangener eingeschlossen ist, hat, wenn er auf der Nordseite seines Zimmers steht, die Freiheit, zwanzig Fuss weit südwärts zu gehen, da er gehen oder es unterlassen kann; allein er hat da nicht auch die Freiheit zu dem Gegentheil, nämlich zwanzig Fuss nordwärts zu gehen. Hierin besteht also seine Freiheit; nämlich in dem Vermögen zu handeln oder nicht zu handeln, wie man wählt oder will.

§ 28. (Was ist das Wollen?) Man muss zweitens festhalten, dass das Verlangen oder Wollen eine That der Seele ist, insofern sie ihr Denken auf die Hervorbringung einer Handlung richtet und dabei ihre Macht zu deren Hervorbringung ausübt. Um die vielen Worte zu vermeiden, möchte ich mir gestatten, hier unter dem Wort Handlung auch deren Unterlassung zu befassen. Das Sitzen oder Schweigen verlangen., wenn das Gehen oder Sprechen vorgeschlagen wird, obgleich sie reine Unterlassungen sind, ebenfalls einen Entschluss des Willens und sind in ihren Folgen oft ebenso gewichtig, wie ihre Gegentheile; deshalb können sie in dieser Beziehung recht wohl als Handlungen gelten. Man möge mich also nicht missverstehen, wenn ich der Kürze halber mich so ausdrücke.

§ 29. (Was den Willen bestimmt.) Drittens ist der Wille nur eine Kraft der Seele, reiche Kraft die wirkenden Vermögen derselben zur Bewegung oder Ruhe bestimmt, soweit sie von dieser Bestimmung abhängig sind, und auf die Frage: Was bestimmt den Willen? ist die wahre und passende Antwort: Die Seele. Denn das, was die zu dieser oder jener besondern Richtung leitende allgemeine Kraft bestimmt, ist nur das Wirkende selbst, was seine Kraft in dieser besondern Richtung ausübt. Genügt diese Antwort nicht, so ist der Sinn dieser Frage, was der Willen bestimme, offenbar der: Was veranlasst die Seele in jedem einzelnen Fall, ihre allgemeine leitende Kraft zu dieser besonderen Bewegung oder Ruhe zu bestimmen? und darauf antworte ich: Der Beweggrund für das Verharren in demselben Zustand oder Handeln ist nur die darin liegende Befriedigung; der Beweggrund[262] zur Aenderung ist immer irgend ein Unbehagen, denn nur ein solches bestimmt uns zur Veränderung unseres Zustandes oder zu einem neuen Handeln. Dies ist der grosse Beweggrund, welcher die Seele zum Handeln bestimmt, welches ich der Kürze halber die Bestimmung des Willens nennen will. Ich werde dies weiter erklären.

§ 30. (Das Wollen und das Wünschen dürfen nicht verwechselt werden.) Hierbei möchte ich vorausschicken, dass ich zwar eben versucht habe, die Thätigkeit des Wollens durch Wählen, Vorziehen und ähnliche Worte auszudrücken., welche ebenso das Wünschen wie das Wollen bezeichnen, weil andere Worte für diese Thätigkeit der Seele fehlen, deren eigentlicher Name das Wollen oder Begehren ist; indess ist das Wollen eine so einfache Thätigkeit der Seele, dass Jeder sie am besten nicht durch eine Mannichfaltigkeit von Lauten, sondern dadurch kennen lernt, dass er sich selbst bei seinem Wollen beobachtet. Diese Vorsicht und Sorge gegen Irreführung durch Worte, welche den Unterschied zwischen dem Willen und andern davon ganz verschiedenen Thätigkeiten der Seele nicht genug hervorheben, ist um so nöthiger, weil der Wille oft mit andern Zuständen, namentlich mit dem Wünschen vermengt oder verwechselt worden ist, und zwar selbst von Männern, bei denen man wohl bestimmte Begriffe und eine deutliche Schreibart über dieselben erwarten konnte. Dergleichen ist der hauptsächliche Anlass zur Dunkelheit und zu Missverständnissen bei dieser Frage, und deshalb möglichst zu vermeiden. Wer auf sich, wenn er will, achtet, wird sehen, dass der Wille oder die Kraft des Wollens es nur mit der besonderen Bestimmung der Seele zu thun hat, bei welcher die Seele durch blosses Denken eine Handlung anzufangen, fortzusetzen oder damit aufzuhören unternimmt, die überhaupt in ihrer Macht steht. Daraus erhellt, dass der Wille von dem Wünsche ganz verschieden ist; letzterer kann bei derselben Handlung eine ganz andere Richtung, als der Wille haben. Jemand, dem ich es nicht abschlagen mag, kann mich veranlassen, einen Andern zu überreden, obgleich ich, während ich es thue, wünsche, es möge mir nicht gelingen. Hier sind offenbar Wille und Wunsch[263] einander entgegengesetzt. Ich will die Handlung, die jenen Zweck verfolgt, während mein Wunsch nach der entgegengesetzten Richtung geht. Wenn Jemand durch einen heftigen Gicht-Anfall in seinen Beinen sich von einer Schwere im Kopfe oder einer Appetitlosigkeit im Magen befreit fühlt, so wünscht er auch noch von den Schmerzen in Händen oder Füssen befreit zu sein (denn wo Schmerz ist, da ist auch der Wunsch, davon befreit zu sein), allein er fürchtet, dass die Beseitigung dieser Schmerzen die schlechten Säfte zu einer gefährlichem Stelle führen möchte, und deshalb geht sein Wille auf keine Handlung zur Entfernung dieser Schmerzen. Das Wünschen und Wollen sind also zwei besondere Thätigkeiten der Seele, und daher der Wille, als die Kraft zu wollen noch mehr von dem Wunsche verschieden.

§ 31. (Das Unangenehme bestimmt den Willen.) Kehre ich nun zu der Frage zurück: Was bestimmt den Willen zu dem einzelnen Handeln? so möchte ich bei näherer Erwägung nicht, wie gewöhnlich, das grössere in Aussicht stehende Gut dafür angeben, sondern das (und zwar meist das drückendste) Unbehagen, in dem man sich zur Zeit befindet. Diese Unbehagen bestimmen der Reihe nach den Willen und fuhren zu dem Handeln, was man vollbringt. Man kann dieses Unbehagen ein Begehren nennen, da dieses das aus dem Mangel eines fehlenden Gutes entstehende Unbehagen ist. Alle körperlichen Schmerzen jeder Art und alle Unruhe der Seele ist ein Unbehagen, und damit verbindet sich allemal ein dem Schmerze oder dem Unbehagen gleiches Begehren, von welchem man es kaum unterscheiden kann. Denn da das Begehren nur das Unbehagen über den Mangel eines abwesenden Gutes in Beziehung auf einen gefühlten Schmerz ist, so ist das Behagen jenes abwesende Gut, und so lange dieses Behagen nicht erreicht ist, kann man es Begehren nennen, da jeder Schmerz den Wunsch erweckt, davon befreit zu sein, wobei dieses Begehren so stark ist, als der Schmerz und sich von ihm nicht trennen lässt. Neben diesem Begehren nach der Erleichterung von Schmerz besteht das andere nach dem abwesenden Gut, und auch hierbei sind das Unbehagen und das Begehren sich gleich. So stark man nach dem abwesenden Gut verlangt, so stark hat man deshalb Schmerzen. Indess bewirkt das abwesende[264] Gut nicht immer eine seiner Grösse oder vermeintlichen Grösse entsprechende Stärke des Schmerzes, obgleich doch jeder Schmerz das Verlangen in gleicher Stärke erweckt; weil die Abwesenheit eines Guts nicht immer ein Schmerz ist, wie es der gegenwärtige Schmerz ist. Deshalb kann ein abwesendes Gut auch ohne Begehren betrachtet und überdacht werden; soweit aber dabei ein Begehren besteht, soweit ist auch ein Unbehagen vorhanden.

§ 32. (Das Begehren ist ein Unbehagen.) Achtet man auf sich selbst, so wird man leicht bemerken, dass das Begehren ein Zustand des Unbehagens ist. Wer hat nicht bei seinem Begehren empfunden, was der Weise von der Hoffnung sagt, (die sich nicht sehr von dem Begehren unterscheidet), »sie mache das Herz krank, wenn sie nicht erfüllt werde«, und zwar im Verhältniss zur Grösse des Begehrens. Deshalb steigert sie das Unbehagen manchmal zu einer Höhe, dass der Mensch schreit: Gieb mir, Kind, gieb mir, was ich verlange, oder ich sterbe. Selbst das Leben mit allen seine Freuden wird unter dem dauernden und ungehobenen Druck eines solchen Unbehagens zu einer unerträglichen Last.

§ 33. (Das Unbehagliche des Begehrens bestimmt den Willen.) Das Gute und das Hebel wirken allerdings sowohl als gegenwärtige wie als abwesende auf die Seele; allein was den Willen von einer Zeit zur andern unmittelbar zu jeder willkürlichen Handlung bestimmt, ist das Unbehagen in dem Begehren nach einem abwesenden Gute, entweder in verneinendem Sinne, als Schmerzlosigkeit bei Jemand, der Schmerzen hat, oder bejahend, als Genuss der Lust. Ich werde sowohl aus der Erfahrung, als aus der Natur der Sache darlegen, dass nur dieses Unbehagen den Willen zu jener Reihe von willkürlichen Handlungen bestimmt, welche den grössten Theil des Lebens ausfüllen, und durch welche man auf verschiedenen Wegen zu verschiedenen Zielen gelangt.

§ 34. (Dies ist die Triebfeder zum Handeln.) Ist Jemand vollkommen mit seinem gegenwärtigen Zustand zufrieden, d.h. ist er völlig frei von jedem Unbehagen, welche andere Anstrengung, welches andere Handeln und Wollen ist da bei ihm vorhanden, als mir das, darin zu[265] verharren; davon kann sich Jeder durch Beobachtung seiner selbst überzeugen. Deshalb hat unser allweiser Schöpfer, unserer Beschaffenheit und Einrichtung entsprechend und wohl wissend, was den Willen bestimmt, in den Menschen das Unbehagen des Hungers und Durstes und anderer natürlichen Begierden gelegt, die zu ihrer Zeit wiederkehren, um den Willen zu erregen und zu bestimmen, damit der Mensch sich erhalte und seine Gattung fortpflanze. Denn ich möchte glauben, dass, wenn die blosse Betrachtung dieser guten Zwecke, zu denen diese mancherlei Unbehaglichkeiten treiben, genügt hätte, um den Willen zu bestimmen und uns zu dem Handeln zu veranlassen, wir keine dieser natürlichen Schmerzen und vielleicht in dieser Welt nur wenig oder gar keine Schmerzen haben würden. »Es ist besser zu heirathen, als zu brennen«, sagt Paulus; woraus erhellt, dass dies vorzüglich zu den Freuden des ehelichen Lebens treibt. Ein wenig Brennen treibt kräftiger, als grössere Lust in Aussicht zieht und lockt.

§ 35. (Selbst das grösste bejahende Gut bestimmt den Willen nicht, sondern nur das Unbehagen.) Alle Welt hält fest an dem Satz, dass das Gut und das grössere Gut den Willen bestimme; deshalb wundre ich mich nicht, wenn auch ich bei der ersten. Bekanntmachung meiner Gedanken über diesen Gegenstand dies für ausgemacht annahm, und ich glaube, Viele werden mich eher wegen dieser damaligen Annahme entschuldigen, als jetzt, wo ich es wage, von einer so allgemein angenommenen Ansicht abzugehen. Allein bei näherer Erwägung muss ich annehmen, dass das Gut und das grössere Gut, trotz der Kenntniss desselben, den Willen so lange nicht bestimmt, als das ihm entsprechende Begehren kein Unbehagen über dessen Mangel erweckt. Man kann Jemand noch so sehr überzeugen, dass Reichthum besser als Armuth ist; man kann ihm zeigen, dass die zierlichen Bequemlichkeiten des Lebens der schmutzigen Armuth vorzuziehen sind, und doch wird er sich deshalb nicht regen, wenn er bei seiner Armuth zufrieden ist und kein Unbehagen dabei empfindet; sein Wille bestimmt sich dann zu keiner Handlung, die ihm heraushelfen könnte. Ein Mensch kann noch so überzeugt sein, dass die Tugend vortheilhaft und Demjenigen[266] als Lebensnahrung nöthig sei, der Grösses in dieser Welt erreichen oder seine Hoffnungen in jener Welt erfüllt sehen will; er wird doch seinen Willen nicht eher zu einer Handlung in Verfolgung dieses grösseren Gutes bestimmen, als bis er nach der Rechtschaffenheit hungert und dürstet, und er ein Unbehagen über deren Mangel fühlt; bis dahin wird jedes andere Unbehagen, was er fühlt, sich geltend machen und seinen Willen zu andern Handlungen treiben. Wenn umgekehrt ein Trunkenbold sieht, dass seine Gesundheit abnimmt und sein Vermögen schwindet, dass Misstrauen und Krankheiten und Mangel an Allem, selbst an seinem beliebten Getränk ihn bei Fortsetzung seiner Lebensweise erwartet, so treibt dennoch das Unbehagen, weil die Genossen fehlen, und der gewohnte Durst nach seinem Becher ihn zur bestimmten Stunde in die Schenke, obgleich er den Verlust seiner Gesundheit und seines Vermögens, und vielleicht der Freuden einer andern Welt voraussieht, und das kleinste dieser Güter nicht unbeträchtlich ist, sondern, wie er selbst einsieht, viel grösser ist als der Gaumenkitzel von einem Glase Wein oder das eitle Geschwätz seiner Trinkgesellschaft. Es fehlt ihm nicht die Kenntniss des grösseren Gutes; denn er sieht und erkennt es an, und in den Zwischenpausen seines Trinkens fasst er wohl auch den Vorsatz, es zu verfolgen; wenn aber das Unbehagen aus dem Mangel seines gewohnten Genusses wiederkommt, so verliert das als grösser anerkannte Gut seine Anziehungskraft, und das gegenwärtige Unbehagen bestimmt den Willen zu dem gewohnten Handeln, welches damit festem Fuss gewinnt und bei der nächsten Gelegenheit überwiegt, obgleich er vielleicht heimlich sich verspricht, dass er nicht mehr so fortfahren wolle, es solle das letzte Mal sein, dass er gegen den Reiz des grösseren Guts handeln werde. So ist er von Zeit zu Zeit in dem Zustand jenes Unglücklichen, welcher klagte: »Video meliora proboque, deteriora sequor«; (Ich sehe und billige das Bessere, aber ich folge dem Schlechteren), welcher als wahr anerkannte und durch die Erfahrung stets bestätigte Spruch so und vielleicht in keiner andern Weise verständlich gemocht werden kann.

§ 36. (Denn die Beseitigung des Unbehagens ist der erste Schritt zum Glück.) Sucht[267] man nach den Gründen dieser klaren Thatsachen, und dass nur das Unbehagen auf den Willen einwirkt und seine Wahl bestimmt, so zeigt sich, dass man auf einmal nur zu einer Handlung sich bestimmen kann, und dass deshalb das gegenwärtige Unbehagen natürlich den Willen bestimmt, um jenes Glück zu erlangen, was man bei allen seinen Handlungen als Ziel verfolgt; denn so lange man jenes Unbehagen empfindet, kann man sich nicht glücklich fühlen und auch nicht auf dem Wege dahin sich finden. Jeder fühlt, dass Schmerz und Unbehagen sich mit Glück nicht vertragen, indem sie selbst den Genuas der Güter, die man besitzt, zerstören; ein kleinerer Schmerz genügt, alle Freude daran zu verderben. Und deshalb wird natürlich das, was den Entschluss bestimmt, immer die Beseitigung des Schmerzes so lange sein, als man noch einen solchen empfindet, da es der erste und nothwendigste Schritt zum Glück ist.

§ 37. (Weshalb allein das Unbehagen gegenwärtig ist.) Ein anderer Grund, weshalb allein das Unbehagen den Willen bestimmt, ist wohl der, dass es allein gegenwärtig ist und natürlich das Abwesende da nicht wirken kann, wo es nicht ist. Man sagt, dass durch die Betrachtung das entfernte Gut herbeigeführt und gegenwärtig gemacht werden könne; indess mag die Vorstellung desselben wohl in die Seele treten und da als gegenwärtig gelten; aber Nichts kann in der Seele als ein gegenwärtiges Gut sein, was die Beseitigung eines Unbehagens, unter dem man leidet, hemmen könnte, bevor es nicht das Begehren erweckt hat, und hierbei hat das Unbehagen in Bestimmung des Willens die Oberhand. So lange also die blosse Vorstellung irgend eines Guts in der Seele ist, bleibt sie, wie andere, nur Gegenstand unthätiger Betrachtung, aber wirkt nicht auf das Wollen und treibt nicht zur That, wovon ich den Grund nebenbei darlegen werde. Wie Viele werden wohl trotz der lebhaften Vorstellungen von den unaussprechlichen Freuden des Himmels, die sie als möglich und wahrscheinlich anerkennen, bereit sein, sie gegen ihre Glückseligkeit hier zu vertauschen? Deshalb bestimmt das überwiegende Unbehagen ihres Begehrens, was sich nach den Gütern des irdischen Lebens geltend macht, ihren Entschluss, während sie keinen Schritt thun, noch im mindesten sich[268] nach den Gütern eines andern Lebens wenden, wenn sie auch als noch so gross gelten.

§ 38. (Weshalb man an die Freuden des Himmels glaubt und sie dennoch nicht verfolgt.) Wenn der Wille durch die Aussicht auf ein Gut bestimmt würde, je nachdem es der Seele grösser oder kleiner erscheint, was der Fall bei jedem abwesenden Gute ist, und wenn es nach der gewöhnlichen Meinung den Willen erregen und nach sich ziehen soll, so begreife ich nicht, wie der Wille hier von den unendlichen und ewigen Freuden des Himmels loskommen könnte, nachdem man einmal davon gehört und sie als erreichbar erkannt hat. Denn wenn jedes abwesende Gut durch seine blosse Vorstellung und Anblick den Willen angeblich bestimmen und zum Handeln bewegen soll, sobald es nur erreichbar, wenn auch noch nicht sicher ist, so muss das unendlich grössere erreichbare Gut der Regel nach den Willen ununterbrochen in all seinen weitem Entschlüssen bestimmen, und man müsste dann seinen Weg zum Himmel beharrlich und fest innehalten, ohne stillzustehen oder sein Handeln einem andern Ziele zuzuwenden; denn der endlose Zustand eines künftigen Lebens überwiegt unendlich die Hoffnung auf Reichthümer, Ehren und andere irdische Freuden, die man sich vorstellen kann. Dies gilt selbst dann, wenn letztere sich als die wahrscheinlicher-erreichbaren darstellen; denn kein Zukünftiges hat man in Besitz, und deshalb kann auch hier die Hoffnung getäuscht werden. Wenn die Vorstellung eines grössern Guts wirklich den Willen bestimmte, so müsste ein einmal vorgestelltes so grosses Gut den Willen erfassen und in der Verfolgung seiner festhalten, ohne ihn je wieder loszulassen; denn der Wille hat auch über das Denken Gewalt und lenkt es so gut, wie andere Thätigkeiten, und er würde deshalb, wenn es sich so verhielte, die Seele in der Betrachtung dieses grössten Gutes festhalten.

(Dagegen bleibt kein erhebliches Unbehagen unbeachtet.) Dies wäre der Seelenzustand und die regelmässige Richtung des Willens bei all seinen Entschlüssen, wenn er durch das bestimmt würde, was als das grössere Gut erachtet und wahrgenommen wird; allein die Erfahrung lehrt, dass dem nicht so ist. Das anerkannt[269] unendlich grösste Gut wird oft vernachlässigt, um die verschiedenen Unbehagen aus unserm Verlangen nach Kleinigkeiten zu beseitigen. Das anerkannt grösste, ja immerwährende und unaussprechbare Gut bewegt wohl manchmal die Seele, aber hält den Willen nicht fest, während jedes grosse und erhebliche Unbehagen den Willen, wenn es ihn einmal erfasst hat, nicht loslässt. Daraus kann man abnehmen, was den Villen bestimmt. So hält ein heftiger körperlicher Schmerz oder die unbezwingliche Leidenschaft eines verliebten Mannes oder das ungeduldige Verlangen nach Rache den Willen stetig fest, und dieser lässt, wenn er so bestimmt ist, den Verstand nicht den Gegenstand bei Seite legen; vielmehr werden alle Gedanken der Seele und alle Kräfte des Körpers ohne Unterlass in dieser Richtung durch den Entschluss des Willens bewegt, welcher durch jenes peinigende Unbehagen so lange bestimmt wird, als es besteht. Daraus erhellt, dass der Wille oder die Kraft, eine Handlung statt der andern vorzunehmen, nur durch das Unbehagen bestimmt wird. Jeder mag sich selbst beobachten, ob es sich nicht so verhält.

§ 39. (Jedes Unbehagen ist von einem Begehren begleitet.) Ich habe bis jetzt das Unbehagen des Begehrens als das betont, was den Willen bestimmt; denn es ist das wichtigste und fühlbarste, und der Wille wird selten sich zu einer Handlung entschliessen und sie vollziehen, wenn nicht ein Begehren danach besteht. Deshalb werden der Wille und das Begehren so oft verwechselt. Allein deshalb darf das Unbehagen, was die meisten andern Leidenschaften ausmacht oder wenigstens begleitet, in diesem Falle nicht als ganz ausgeschlossen angesehen werden; auch der Abscheu, die Furcht, der Zorn, der Neid, die Scham u.s.w. haben ihr Unbehagen und beeinflussen deshalb das Wollen. Im Leben und Handeln sind diese Leidenschaften nicht einfach und für sich ohne Mischung mit andern, wenn auch bei der Besprechung und Betrachtung nur die genannt wird, welche die stärkste ist und am meisten bei dem betreffenden Geisteszustand hervortritt; ja man wird wohl kaum eine Leidenschaft finden, die nicht mit einem Begehren verbunden wäre. Sicherlich ist da, wo ein Unbehagen ist, auch ein Begehren; denn man verlangt stets nach dem[270] Glück, und so lange man ein Unbehagen fühlt, fehlt selbst nach der eigenen Meinung das Glück, wie auch sonst die Lage und der Zustand beschaffen sein mag. Ueberdem ist der gegenwärtige Augenblick nicht die Ewigkeit, und deshalb sieht man bei jeder Art von Lust über die Gegenwart hinaus; das Begehren verbindet sich mit dieser Voraussicht und nimmt den Willen mit sich. So ist selbst in der Lust das, was die Thätigkeit aufrecht hält, von der die Lust bedingt ist, das Verlangen, sie länger zu behalten, lud die Furcht, sie zu verlieren, sobald aber ein grösseres Unbehagen, als dies. In der Seele Sich einstellt, wird der Wille durch dies neue zu einem andern Handeln bestimmt und die vorhandene Lust vernachlässigt.

§ 40. (Das drückendste Unbehagen bestimmt natürlich den Willen.) Da wir indess in dieser Welt mit verschiedenem Unbehagen beladen sind und durch mancherlei Begehren getrieben werden, so fragt es sich zunächst, welches bei der Bestimmung des Willens zur nächsten Handlung das Uebergewicht hat. Die Antwort ist: In der Regel jenes, was unter denen, die zu beseitigen sind, am meisten drückt. Denn der Wille ist die Macht, unsere Vermögen zum Handeln für ein bestimmtes Ziel zu leiten, und er kann sich nicht gegen Etwas wenden, was zu dieser Zeit als unaufhebbar gilt; sonst müsste ein verständiges Wesen absichtlich ein Ziel verfolgen, blos um seine Mühe zu verschwenden, wie es bei einem unerreichbaren Ziele der Fall sein würde. Deshalb erregt selbst ein grosses Unbehagen den Willen nicht, wenn es für unheilbar gehalten wird, und man fängt alsdann nicht mit Versuchen an. Davon abgesehen, ist das zu einer Zeit empfundene erheblichste und dringendste Unbehagen das, was in der Regel den Willen zu der Reihe von Handlungen hintereinander bestimmt, die unser Leben ausmachen. Das grösste gegenwärtige Unbehagen, was sich beharrlich fühlbar macht, ist der Sporn zum Handeln und bestimmt meistens den Willen in der Wahl seiner nächsten That. Denn man muss festhalten, dass der eigentliche und einzige Gegenstand des Willens nichts weiter, als ein Handeln unserer ist; und da man durch den Willen nur eine uns mögliche Handlung hervorbringen kann, so endet in diesem Handeln der Wille und reicht nicht weiter.[271]

§ 41. (Jedermann verlangt nach dem Glück.) Fragt man weiter, was das Begehren erregt, so antworte ich: Das Glück und nur dieses. Glück und Elend sind die Worte für zwei Gegensätze, deren äusserste Grenzen der Mensch nicht kennt; sie sind »was das Auge nicht gesehen noch das Ohr gehört hat, noch in des Menschen Herz zum Begreifen eingedrungen ist.« Aber bis zu einem gewissen Grade hat man sehr lebhafte Eindrücke von beiden, die durch verschiedene Arten von Lust und Freude auf der einen Seite, und von Qual und Kammer auf der andern Seite bewirkt werden. Der Kürze wegen fasse ich sie unter den Worten von Lust und Schmerz zusammen, da es deren sowohl von der Seele wie von dem Körper giebt. »Mit Ihm ist Fülle der Freude und Lust immerdar.« Oder in Wahrheit gehören sie alle der Seele an, nur entstehen manche durch Gedanken und andere durch gewisse Bewegungen in dem Körper.

§ 42. (Was ist das Glück?) Glück ist daher das äusserste Maass der Lust, dessen der Mensch fähig ist, und Elend der äusserste Schmerz; der niedrigste Grad, der noch Glück heissen kann, ist so viel Befreiung von Schmerz und so viel gegenwärtige Lust, dass man zufrieden sein kann. Da nun Lust und Schmerz durch die Wirksamkeit gewisser Dinge auf unsere Seele oder unsern Körper und zwar in verschiedenen Graden hervorgebracht werden, so heisst Alles, was uns Lust gewähren kann, ein Gut, und Alles, was uns Schmerzen macht, ein Uebel; blos weil es diese Gefühle in uns hervorzubringen vermag, in welchen unser Glück und Elend besteht. Obgleich indess das, was einen Grad von Lust erwecken kann, an sich ein Gut ist, und das, was einen Grad von Schmerz verursachen kann, an sich ein Uebel ist, so heissen doch beide oft nicht so, wenn sie im Kampfe mit einem grösseren der Art gerathen, denn in solchem Falle werden auch die Grade jedes der beiden Gefühle erwogen. Bei einer richtigen Abschätzung dessen, was man Gut und Uebel nennt, liegen daher beide mehr in der Vergleichung; denn Alles, was einen geringeren Grad von Schmerz oder einen hohem Grad von Lust herbeiführt, hat die Natur eines Gutes und umgekehrt.

§ 43. (Welche Güter begehrt werden, und welche nicht.) Obgleich dies es ist, was man ein Gut[272] und ein Uebel nennt, und im Allgemeinen jedes Gut der eigentliche Gegenstand des Begehrens ist, so erregt doch nicht jedes Gut, selbst wenn man es sieht und als solches anerkennt, nothwendig bei Jedem das Begehren, sondern nur der Theil desselben oder so viel davon, als Jemand für ein nothwendiges Stück zu seinem Glücke ansieht und annimmt. Für jedes andere Gut, wenn es auch noch so gross wirklich ist oder erscheint, besteht bei Dem kein Verlangen, der es nicht als einen Theil des Glücks ansieht, was ihn in seinem gegenwärtigen Zustande erfreuen kann. Das Glück in diesem Sinne wird von Jedem beharrlich erstrebt und jeder Theil desselben begehrt, während andere Dinge, obgleich sie als Güter gelten, ohne Verlangen gesehen werden und man an ihnen vorübergehen und zufrieden sein kann. Niemand wird leugnen, dass das Wissen Lust gewährt, und die sinnlichen Freuden haben so viele Anhänger, dass man nicht zu fragen braucht, ob die Menschen davon erfasst werden oder nicht. Findet nun der Eine seinen Genuss in sinnlicher Lust, und der Andere in dem Wissen, so wird trotzdem, dass Jeder in dem Ziele des Andern eine gewisse Lust anerkennt, doch Keiner des Andern Vergnügen zu einem Theil seines Glückes rechnen; das Begehren des Einen wird durch das, was den Andern erfreut, nicht erregt und sein Wille nicht zu dessen Erlangung bestimmt. Sobald indess Hunger und Durst dem studirenden Mann Unbehagen erwecken, wird er, obgleich er niemals nach gutem Essen, scharfen Brühen, kostbaren Weinen wegen ihres guten Geschmackes verlangt, durch das Unbehagen des Hungers und Durstes sofort bestimmt, zu essen und zu trinken, wobei es ihm vielleicht gleich ist, welche gesunde Nahrung er zu sich nimmt. Umgekehrt wird der Epikuräer sich mit Studiren abmühen, wenn die Scham oder der Wunsch, seiner Geliebten zu gefallen, ihn den Mangel an Wissen unbehaglich empfinden lässt. So kann man trotz des ernsten und fortwährenden Jagens nach dem Glück ein grosses und anerkanntes Gut deutlich sehen, ohne davon erregt zu werden, sobald man sein Glück auch ohnedem erreichen, kann. Bei dem Schmerz ist man dagegen allemal betheiligt, und man fühlt kein Unbehagen, ohne davon bestimmt zu werden. Indem daher der Mensch in Folge des Mangels von etwas zu[273] dem Glücke Nöthigen ein Unbehagen fühlt, so begehrt er jedes Gut, wenn es ihm als ein Theil seines Glückes erscheint.

§ 44. (Weshalb das grösste Gut nicht immer begehrt wird.) Jeder, denke ich, kann an sich und Andern bemerken, dass das grössere sichtbare Gut das Begehren nicht immer in Verhältniss zu der Grösse erweckt, in der es sich zeigt und anerkannt wird; während doch jede kleine Unruhe uns erregt und zur Beseitigung derselben antreibt. Der Grund davon liegt in der Natur des Glückes und Elendes selbst. Jeder gegenwärtige Schmerz bildet einen Theil unseres gegenwärtigen Elends, während nicht jedes fehlende Gut einen nothwendigen Theil unseres gegenwärtigen Glückes bildet und dessen Abwesenheit uns nicht elend macht. Wäre dies der Fall, so wären wir fortwährend unendlich elend, da eine Menge Grade von Glück nicht in unserer Macht stehen. Deshalb genügt, wenn nur alles Unbehagen beseitigt ist, ein mässiges Gut zur Zufriedenheit; ein geringer Grad von Glück mit einem Wechsel einfacher Freuden kann ein Glück bilden, mit dem man zufrieden ist. Wäre dem nicht so, so bliebe kein Raum für jene unbedeutenden und offenbar kleinlichen Handlungen, zu denen man sich so oft entschliesst und in denen man so absichtlich einen grossen Theil seines Lebens verschwendet; denn dergleichen verträgt sich nicht mit dem steten Entschluss und Verlangen nach dem grössten sich zeigenden Gute. Um sich von der Wahrheit dessen zu überzeugen, braucht man nicht weit zu wandern; auch reicht in diesem Leben das Glück von vielen Personen nicht so weit, dass es ihnen eine stete Reihe mässiger einfacher Vergnügen gewährte, dem kein Unbehagen beigemischt wäre, und dennoch würden Alle gern für immer hier bleiben, wenn sie auch nicht leugnen können, dass jenseits ein ewiger Zustand dauernder Freude nach diesem Leben bestehen möge, der alle irdischen Güter weit übertrifft. Sie müssen sogar einsehen, dass jene himmlischen Güter erreichbarer sind, als jene Kleinigkeiten von Ehre und Lust, die sie jetzt aufsuchen und derentwegen sie den jenseitigen Zustand vernachlässigen; allein trotz der vollen Erkenntniss dieses Unterschiedes und trotz der Erreichbarkeit eines vollkommenen, sichern und dauernden Glückes in[274] jener Welt und trotz der Ueberzeugnng, dass dies hier nicht erreicht werden kann, wenn sie ihr Glück an einen kleinen Genuss oder ein kleines Lebensziel hängen und die Freuden des Himmels nicht zu einem wesentlichen Theil desselben machen, wird doch das Begehren durch dieses grössere sich zeigende Gut nicht erweckt und der Wille zu keinem Handeln und keinem Versuche, es zu gewinnen, bestimmt.

§ 45. (Weil es nicht begehrt wird, erregt es den Willen nicht.) Die nothwendigen Bedürfnisse des Lebens erfüllen in ihrer regelmässigen Wiederkehr einen grossen Theil desselben mit dem Unbehagen des Hungers und Durstes, der Hitze und Kälte, der Erschöpfung durch die Arbeit, der Schläfrigkeit. Diesen fügt man neben zufälligem Unglück noch die eingebildeten Schmerzen (wie die Begierde nach Ehre, Macht, Reichthum u.s.w.) hinzu, welche die durch Mode, Beispiel und Erziehung angenommenen Gewohnheiten uns eingepflanzt haben, so wie tausenderlei andere Wünsche, welche die Gewohnheit uns zur andern Natur gemacht hat, und deshalb erhellt, dass nur ein kleiner Theil des Lebens so frei von Unbehagen ist, um sich der Erwerbung entfernter Güter zuwenden zu können. Man fühlt sich selten behaglich und selten genügend frei von natürlichen oder angewöhnten Wünschen; vielmehr beschäftiget eine fortlaufende Reihe von Unbehaglichkeiten aus jenem Vorrath, welchen natürlicher Mangel und Gewohnheiten aufgehäuft haben, den Willen; kaum ist das eine abgemacht, zu dem man durch eine solche Willensbestimmung getrieben worden, so ist schon ein anderes Unbehagen da, um uns wieder in Thätigkeit zu setzen. Denn die Entfernung des gefühlten Schmerzes, der uns gegenwärtig drückt, beseitigt ein Stück Elend; es ist deshalb das erste, was für das Glück geschehen muss, und deshalb wird das entfernte Gut, trotzdem, dass man daran denkt, es anerkennt und es sich als ein solches zeigt, dennoch, weil es keinen Theil unseres Unglücks durch seine Abwesenheit bildet, aus dem Wege gestossen, um für die Beseitigung des gefühlten Unbehagens Platz zu gewinnen. Nur wenn die schuldige wiederholte Betrachtung desselben es der Seele näher gebracht hat, einen Geschmack davon geschaffen und ein Verlangen danach erweckt hat, beginnt es einen Theil unseres gegenwärtigen[275] Unbehagens zu bilden, sich mit dem übrigen behufs der Beseitigung gleich zu stellen und damit, je nach seiner Grösse und seinem Drängen, an seinem Ort den Willen zu bestimmen.

§ 46. (Die gehörige Betrachtung erweckt das Begehren.) So kann man durch eine gehörige Betrachtung und Prüfung eines vorgestellten Guts das Verlangen danach in einem, seinem Werthe entsprechenden Grade erwecken, und dadurch kann es an seinem Orte und in seinem Reiche auf den Willen wirken und erstrebt werden. Denn jedes noch so grosse Gut, was sich als solches darstellt und gilt, erregt doch den Willen nicht eher, als bis es das Verlangen danach in der Seele erweckt hat und damit seinen Mangel unangenehm empfinden lässt; ohnedem befindet man sich nicht in dem Bereich seiner Wirksamkeit; denn der Wille wird blos durch das gegenwärtige Unbehagen bestimmt; dieses allein (wenn man es hat) treibt und ist bei der Hand, um den Willen zunächst zu bestimmen. Wenn ein Schwanken in der Seele stattfindet, so bezieht es sich blos darauf, welches Begehren zunächst befriedigt werden, welches Unbehagen zuerst beseitigt werden soll. Dabei zeigt es sich, dass, so lange noch ein Unbehagen, ein Begehren in der Seele ist, ein Gut als solches nicht an den Willen herankommen und ihn bestimmen kann. Denn der erste Schritt, um zu dem Glück zu gelangen, ist, wie gesagt, aus dem Bereich des Elendes herauszukommen und keinen Theil desselben zu empfinden. So lange nicht jedes Unbehagen beseitigt ist, hat der Wille keine Müsse für etwas Anderes, und bei der Menge von Mängeln und Begehren, die in dem unvollkommenen Zustande hier den Menschen drängen, wird er schwerlich von allem Unbehagen in dieser Welt frei werden können.

§ 47. (Das Vermögen, die Ausführung eines Begehrens zu hemmen, bahnt den Weg für die Ueberlegung.) Da stets eine grosse Menge von Unbehagen den Willen reizen und bestimmen wollen, so entscheidet naturgemäss, wie gesagt, das grösste und drückendste zunächst über das erste Handeln. Dies ist die Regel, aber nicht ohne Ausnahme. Denn die Erfahrung lehrt, dass die Seele in der Regel die Ausführung und Befriedigung eines Begehrens und damit auch aller,[276] eines nach dem andern, hemmen kann. Dadurch wird sie frei für die allseitige Betrachtung der Gegenstände des Begehrens und deren Vergleichung mit einander. Hierin liegt die Freiheit, welche der Mensch besitzt. Aus ihrem unrechten Gebrauch kommen alle jene mannichfachen Missverständnisse, Irrthümer und Fehler, in die man während seines Lebens in seinen Bestrebungen nach dem Glücke geräth; man überstürzt seine Entschlüsse und bindet sich, ehe man die gehörige Prüfung angestellt hat. Um dies zu hindern, hat man die Kraft, die Erfüllung jedes Begehrens zu hemmen, wie aus der eigenen Erfahrung leicht zu entnehmen ist. Dies scheint mir die alleinige Quelle der Freiheit; darin besteht das, was man (ich glaube unpassender Weise) freien Willen nennt. Denn während dieser Hemmung des Begehrens, ehe noch ein Entschluss gefasst ist und die Handlung (die diesem Entschlüsse folgt) geschehen ist, kann man das Gut oder Uebel prüfen, beschauen, und man kann beurtheilen, was zu thun ist. Hat man nach gehöriger Prüfung geurtheilt, so hat man seine Schuldigkeit gethan. Es ist dies Alles, was man in Verfolgung des Glückes zu thun hat, und es ist kein Fehler, sondern ein Vorzug unserer Natur, dass man nach dem letzten Ausfall einer ehrlichen Untersuchung begehrt, will und handelt.

§ 48. (Dass das eigene Urtheil uns bestimmt, ist keine Beschränkung der Freiheit.) Darin liegt so wenig eine Beschränkung oder Verminderung der Freiheit, dass es vielmehr ihre wahre Verbesserung und eine Wohlthat für sie ist; es ist keine Verkürzung, sondern das Ziel und der Nutzen der Freiheit, und je weiter man von einer solchen Bestimmung des Willens entfernt, desto näher steht man dem Elend und der Knechtschaft. Eine völlige Gleichgültigkeit der Seele, die durch das letzte Urtheil über das ihre Wahl begleitende Gute oder Ueble nicht beseitigt würde, wäre kein Vorzug und keine Auszeichnung eines verständigen Wesens, sondern eine ebenso grosse Unvollkommenheit, als das Fehlen dieser Unbestimmtheit zu handeln, bevor der Wille sich entschieden hat, auf der andern Seite eine Unvollkommenheit sein würde. Der Mensch hat die Freiheit, seine Hand zu erheben oder sie in Ruhe zu lassen; Beides gilt ihm vollkommen gleich, und es wäre eine Unvollkommenheit, wenn ihm diese Kraft[277] fehlte und er diese Gleichgültigkeit nicht hätte. Allein es wäre eine gleiche Unvollkommenheit, wenn er dieselbe Gleichgültigkeit da behielte, wo er durch Aufheben der Hand seinen Kopf oder sein Auge vor einem drohenden Schlage schützen kann; es ist ein Vorzug, dass das Begehren oder das Vermögen, vorzuziehen, durch ein Gut bestimmt wird, und ebenso ist es ein Vorzug, dass das Vermögen, zu handeln, von dem Willen bestimmt wird; je sicherer diese Bestimmung erfolgt, desto grösser ist der Vorzug; ja wenn etwas Anderes, als das letzte Ergebniss der Seele bei ihrem Urtheil über das Gute oder Schlimme einer Handlung bestimmend wirkte, so wäre man nicht frei, da das wahre Ziel der Freiheit darin liegt, dass man das erwählte Gut erlange. Deshalb befindet sich der Mensch nach seiner Natur als verständiges Wesen in der Nothwendigkeit, dass er bei seinem Wollen durch sein Denken und sein Urtheil über das Beste bestimmt werde; sonst bestimmte ihn ein Anderes, als er selbst, was ein Mangel der Freiheit wäre. Wenn man leugnet, dass der Mensch bei jedem seiner Entschlüsse seinem eigenen Urtheile folge, so hiesse dies, der Mensch wolle und verfolge ein Ziel, was er, während er danach verlangt und dafür thätig ist, nicht haben mag. Denn wenn er es in seinen Gedanken jedem anderen vorzieht, so hält er es für das bessere und will es lieber als jedes andere; man müsste dann das Ziel zugleich haben und nicht haben, wollen und nicht wollen können, was als offenbarer Widerspruch nicht möglich ist.

§ 49. (Die freisten Wesen werden in dieser Weise bestimmt.) Blickt man nach jenen höheren Wesen über uns, welche eine vollkommene Glückseligkeit gemessen, so dürften sie wohl bei ihrem Wählen des Guten noch entschiedener, wie wir bestimmt werden, ohne dass man deshalb sie für weniger glücklich oder frei halten kann; und wenn es so armen endlichen Wesen, wie uns, anstünde, sich über das auszusprechen, was die unendliche Weisheit und Güte thun kann, so darf man wohl sagen, dass Gott das, was nicht gut ist, nicht wählen kann, und dass die Freiheit des Allmächtigen nicht hindert, dass er durch das Beste bestimmt werde.

§ 50. (Das stete Bestimmtwerden dahin, dass man das Glück verfolge, ist keine Beschränkung[278] der Freiheit.) Um diesen Irrthum in Bezug auf die Freiheit in's rechte Licht zu stellen, frage ich; Würde man wohl ein Dummkopf sein wollen, weil dieser durch weise Betrachtungen weniger, wie der Weise bestimmt wird? Ist es der Freiheit würdig, beliebig den Narren spielen und Schande und Elend über sich selbst bringen zu können? Wenn es Freiheit und wahre Freiheit ist, dass man sich der Leitung der Vernunft entzieht und des Schatzes, der Prüfung und des Urtheils entbehrt, welches von der Wahl des Schlechten abhält, so sind die Verrückten und Narren allein frei. Indess wird wohl nur der, welcher schon toll ist, hier die Tollheit um solcher Freiheit willen vorziehen. Niemand hält das stete Verlangen nach dem Glücke und den Zwang, den es in Verfolgung desselben auflegt, für eine Verkürzung oder zum mindesten für eine beklagenswerthe Verkürzung der Freiheit. Selbst der allmächtige Gott muss nothwendig glücklich sein, und je mehr sich ein vernünftiges Wesen dem nähert, desto näher rückt es der Vollkommenheit und der Seligkeit. Damit wir kurzsichtigen Geschöpfe in unserm Zustand der Unwissenheit in dem wahren Glücke nicht fehl greifen, sind wir mit dem Vermögen versehen worden, jedes einzelne Begehren hemmen und von der Bestimmung unseres Willens und von der Verwickelung unserer in Handlungen fern halten zu können. Dies ist ein Stillstehen, wo man des Weges nicht ganz sicher ist; die Prüfung ist eine Frage an den Führer. Der Willensentschluss nach dieser Untersuchung folgt der Anweisung dieses Führers, und wer nach solcher Anweisung sein Handeln oder Nicht-Handeln einzurichten vermag, ist ein freies Wesen; solcher Einfluss verkürzt nicht die Macht, in der die Freiheit besteht. Wer seine Ketten gebrochen und die Thore seines Gefängnisses sich geöffnet hat, ist vollkommen frei, weil er, je nachdem es ihm beliebt, gehen oder bleiben kann, wenn er sich auch wegen der Dunkelheit der Nacht oder dem schlechten Wetter oder wegen Mangels eines andern Unterkommens zum Bleiben entschliesst; er hört deshalb nicht auf, frei zu sein, wenn auch das Verlangen nach einer Bequemlichkeit seinen Entschluss unbedingt bestimmt und ihn in dem Gefängniss bleiben lässt.

§ 51. (Die Nothwendigkeit, das wahre Glück[279] zu suchen, ist die Grundlage der Freiheit.) Wenn sonach die höchste Vollkommenheit einer geistigen Natur in einer sorgsamen und steten Aufsuchung des wahren und sichern Glückes besteht, so bildet die Fürsorge, dass man nicht ein eingebildetes Glück für ein wirkliches nehme, die wahre Grundlage der Freiheit. Je fester die Bande sind die uns an die unveränderliche Aufsuchung des Glückes überhaupt fesseln, welches das grösste Gut ist, auf welches als solchem das Begehren immer gerichtet ist, desto freier ist man davon, dass der Wille zu einer einzelnen Handlung nothwendig bestimmt werde und dass man einem besonderen Begehren nachzugeben gezwungen ist, was auf ein zu wählendes Gut sich richtet, ehe man noch gehörig geprüft hat, ob es zum wahren Glücke hin- oder davon abführt. Ehe man deshalb dies nicht der Wichtigkeit des Gegenstandes und der Natur des Falles entsprechend untersucht hat, ist man durch den Zwang, das wahre Glück als unser grösstes Gut zu erstreben, genöthigt, die Befriedigung der Begehren in einzelnen Fällen zu hemmen.

§ 52. (Der Grund dafür.) Dies ist die Angel, um welche die Freiheit vernünftiger Wesen sich dreht; sie besteht darin, dass man in seinem steten Streben und beharrlichen Aufsuchen des wahren Glückes, dieses Streben in einzelnen Fällen so lange hemmen kann, bis man sich vorgesehen und unterrichtet hat, ob das besondere hier aufgefasste und begehrte Ding auf dem Wege zu dem Hauptziele liege und einen wirklichen Theil des höchsten Gutes bilde; denn das natürliche Streben und Begehren nach Glück gilt als eine Pflicht und als Beweggrund, sich gegen Miss- und Fehlgriffe vorzusehen; es nöthigt zur Vorsicht, Ueberlegung und Aufmerksamkeit bei Leitung des einzelnen Handelns, wodurch jenes Glück erreicht werden soll. Dieselbe Nothwendigkeit, welche zur Verfolgung der wahren Seligkeit nöthigt, führt auch mit derselben Gewalt zur Hemmung, Betrachtung und Untersuchung der einzelnen Begehren, damit ihre Befriedigung nicht der wahren Glückseligkeit entgegentrete und davon ableite. Dies dürfte das grösste Vorrecht endlicher vernünftiger Wesen sein. Ich bitte streng zu prüfen, ob der volle Eintritt und die Uebung aller Freiheit, deren der Mensch fähig ist oder die ihm nützen kann und das,[280] wonach sein Handeln sich bestimmt, nicht darin liegt, dass er sein Begehren aufhalten und an der Bestimmung seines Willens so lange hindern kann, bis er gehörig und gründlich dessen Gutes und Uebles, so weit als es die Wichtigkeit des Falles erfordert, geprüft hat. Dazu ist der Mensch fähig, und hat er es gethan, so hat er seine Pflicht erfüllt und Alles, was in seiner Macht steht, und in Wahrheit alles Nöthige gethan. Der Wille erfordert das Wissen zur Leitung seiner bei der Wahl, und Alles, was der Mensch thun kann, besteht darin, seinen Willen so lange unentschieden zu halten, bis er das Gute und Uebele seines Begehrens geprüft hat. Die dann daraus hervorgehenden Folgen sind in einer Reihe aneinander gekettet, die zunächst von dem Ausfall jenes Urtheils abhängt, und ob dies in einem blossen hastigen und übereilten Blick oder in einer gehörigen und reiflichen Prüfling bestehen soll, dies steht in des Menschen Macht, da die Erfahrung lehrt, dass man in der Regel die sofortige Erfüllung eines Begehrens verschieben kann.

§ 53. (Die Herrschaft über die Leidenschaften ist die wahre Verbesserung der Freiheit.) Erfasst aber (wie dies manchmal geschieht) eine ausserordentliche Störung unsere ganze Seele, wenn z.B. die Qual einer Folter oder ein heftiges Unbehagen aus der Liebe, dem Zorne oder einer andern gewaltigen Leidenschaft, die uns hinreisst, das freie Denken nicht zulässt, und ist man dann nicht genug Herr seiner selbst, um vollständig zu betrachten und gründlich zu prüfen, so wird Gott, der unsere Hinfälligkeit kennt, unsere Schwäche bemitleidet, der nur fordert, was uns möglich ist, und sieht, was in unserer Macht steht und was nicht, wie ein liebender und gnädiger Vater über uns richten. Allein die wahre Richtung unseres Benehmens zur vollen Glückseligkeit liegt in dem Unterlassen einer zur hastigen Erfüllung unserer Begehren; in der Mässigung und Hemmung der Leidenschaften, damit der Verstand frei prüfen und die Vernunft ungebeugt urtheilen kann. Deshalb hat man seine Sorgfalt und sein Streben hauptsächlich darauf zu richten; hier hat man sich zu bemühen, dass die Neigungen unserer Seele sich dem wahren innerlichen Guten der Dinge anpassen, und nicht zu gestatten, dass ein anerkanntes und erreichbares grosses und wichtiges Gut[281] unserm Denken entschlüpfe, ohne den Sinn dafür und das Verlangen danach so lange zurückzulassen, bis man durch eine gehörige Betrachtung seines wahren Werths ein demselben entsprechendes Begehren in seiner Seele entwickelt hat und sich bei dessen Mangel oder bei der Furcht, es zu verlieren, unbehaglich fühlt. Jeder kann es leicht an sich erproben, wie sehr dies in seiner Gewalt steht, indem er solche Entschlüsse fasst, die er zu halten vermag. Niemand darf sagen, dass er seine Leidenschaften nicht beherrschen und ihren Ausbruch und ihren Einfluss auf sein Handeln nicht hindern könne; denn was er vor einem Fürsten oder grossem Manne vermag, das kann er auch für sich allein, oder in der Gegenwart Gottes.

§ 54. (Wie es kommt, dass die Menschen verschiedene Richtungen einschlagen.) Man kann deshalb die oft aufgeworfene Frage leicht beantworten, nämlich wie es komme, dass, obgleich Alle nach dem Glück verlangen, ihr Wollen sie doch so entgegengesetzt führt und Manchen in das Uebel bringt. Ich meine, das Verschiedene und Entgegengesetzte, was die Menschen in dieser Welt wählen, beweist nicht, dass sie nicht Alle dem Gute nachstreben, sondern nur, dass dasselbe Ding nicht für alle Menschen das gleiche Gut ist. Die Verschiedenheit der Bestrebungen zeigt, dass nicht Jeder sein Glück in demselben Dinge sucht und denselben Weg dazu wählt. Schlösse das Leben mit diesem irdischen ab, so wäre der Grund, weshalb der Eine nach Studium und Erkenntniss, der Andere nach Fischen und Jagen strebt; weshalb der Eine sich den Luxus und die Liederlichkeit, der Andere die Müssigkeit und den Reichthum wählt, nicht der, dass nicht Jeder nach seinem eigenen Glücke strebte, sondern dass das Glück derselben in verschiedenen Dingen beruhte. Deshalb war es eine treffende Antwort des Arztes an den Patienten mit kranken Augen: »Finden Sie mehr Vergnügen am Weintrinken, als an dem Gebrauch Ihrer Augen, so ist der Wein gut für Sie; ist aber das Sehen für Sie eine grössere Lust als das Trinken, so ist der Wein schlecht.«

§ 55. Der Geschmack der Seele ist so verschieden, wie der des Gaumens, und es ist ebenso unmöglich, alle Menschen durch Reichthum und Ruhm zu erfreuen (wenn[282] auch Mancher darin seine Glückseligkeit setzt), wie eines Jeden Hunger mit Käse und Austern zu stillen, da diese für Manche so angenehmen und köstlichen Speisen Andern widerwärtig und ekelhaft sind und Viele mit Recht das Kneipen eines hungrigen Magens diesen Gerichten vorziehen, die für Andere ein Leckerbissen sind. Deshalb war es wohl eine vergebliche Untersuchung der alten Philosophen, ob das höchste Gut in Reichthum, oder in sinnlichen Genüssen oder in der Tugend oder in der Erkenntniss bestehe; sie hätten ebenso gut darüber streiten können, ob die Aepfel oder die Pflaumen oder die Nüsse am besten schmeckten und sich danach in Sekten trennen können. Denn der Wohlgeschmack hängt nicht von dem Gegenstande ab, sondern davon, ob er dem einzelnen Gaumen entspricht; hier besteht aber eine grosse Verschiedenheit und deshalb liegt das grösste Glück in dem Besitz der Dinge, welche die grösste Lust gewähren, und in der Entfernung von Allem, was Schmerz und Störung verursacht und dies sind für die Einzelnen sehr verschiedene Dinge. Setzt man daher seine Hoffnung nur auf dieses Leben, kann nur hier das Leben genossen werden, so ist es weder sonderbar noch unvernünftig, wenn man das Glück in der Vermeidung von Allem, was hier unangenehm ist und in Verfolgung von Allem, was hier ergötzt, sucht; wobei die Mannichfaltigkeit und die Gegensätze nicht auffallen dürfen. Giebt es keine Aussicht über das Grab hinaus, so ist der Schluss gerechtfertigt: »Lasst uns essen und trinken; lasst uns das, was ergötzt, geniessen; denn morgen sind wir todt.« Dies lehrt, weshalb nicht alle Menschen von demselben Gegenstand erregt werden, obgleich sie Alle nach dem Glücke verlangen; sie können Verschiedenes wählen und Jeder doch recht, wenn man sie wie eine Gesellschaft armer Insekten betrachtet, von denen die Bienen sich an Blumen und deren Honig erfreuen, und andere als Käfer sich an anderer Nahrung ergötzen, und nachdem dies einen Sommer geschehen, ihr Dasein beschliessen und nicht länger bestehen.

§ 56. (Wie es kommt, dass der Mensch schlecht wählt.) Wenn diese Dinge gehörig erwogen werden, so dürften sie einen klaren Blick in die Natur der menschlichen Freiheit gewähren. Die Freiheit besteht[283] offenbar in der Macht, zu handeln oder nicht zu handeln, zu handeln oder das Handeln zu unterlassen, wie man will. Dies kann nicht geleugnet werden. Allein da dies nur die Handlungen als Folge des Wollens befasst, so hat man weiter gefragt: »ob der Mensch die Freiheit habe, zu wollen oder nicht zu wollen?« Hierauf hat man geantwortet, dass er in der Regel die Aeusserung seines Willens nicht unterlassen könne; er muss sein Wollen äussern und dadurch machen, dass die Handlung geschieht oder nicht geschieht. Dennoch giebt es einen Fall, wo der Mensch in Bezug auf seinen Willen frei ist, nämlich bei der Wahl eines entfernten Gutes als ein zu verfolgendes Ziel. Hier kann man zweifeln, ob die Wahl für oder gegen bestimmt ist, so lange geprüft wird, ob sie an sich und in ihren Folgen geeignet ist, glücklich zu machen. Denn ist die Wahl getroffen und sie damit zu einem Theil seines Glückes geworden, so weckt sie das Verlangen, woraus ein Unbehagen entsteht, welches den Willen bestimmt und ihn zur wirklichen Verfolgung seines erwählten Zweckes bei jeder geeigneten Gelegenheit führt. Damit erklärt sich nun, wie Jemand mit Recht bestraft werden kann, obgleich unzweifelhaft in allem einzelnen Handeln, was er will, er nur das will und nothwendig will, was er da für gut erachtet. Denn wenn auch sein Wollen stets durch sein Urtheil über das Gut bestimmt wird, so entschuldigt ihn dies doch nicht, weil er durch eine übereilte Wahl seiner Seits sich selbst ein schlechtes Maass für das Gute und das Uebel gegeben hat, die trotz ihrer Falschheit und Trüglichkeit doch sein späteres Handeln also bestimmen, als wenn sie wahr und richtig wären. Er hat selbst seine Gaumen verdorben und ist sich deshalb selbst für die daraus folgende Krankheit und den Tod verantwortlich. Das ewige Gesetz und die Natur der Dinge kann sich nicht seiner schlechten Wahl zur Liebe ändern. Wenn die Vernachlässigung oder der Missbrauch seiner Freiheit in Prüfung, was wirklich und wahrhaft sein Glück fordert, ihn falsch: fuhrt, so sind die daraus folgenden Uebelstände die Schuld seiner Wahl. Er konnte seinen Entschluss verschieben; er konnte prüfen und für sein Glück sorgen und gehen, dass er nicht betrogen würde; in einer Sache ff von so grossem und wahrem Interesse für ihn konnte er[284] es nicht für das Bessere halten, getäuscht zu werden. Dies Gesagte erklärt auch, weshalb die Menschen in dieser Welt jeder etwas Anderes vorziehen und auf verschiedenen Wegen ihr Glück versuchen. Da indess in Fragen des Glücks und Elendes man stets sorgfältig und ernst verfährt, so bleibt immer die Frage, wie es komme, dass die Menschen so oft das Schlechtere dem Bessern vorziehen und das wählen, was sie nach ihrem eigenen Geständniss elend gemacht hat?

§ 57. Um die verschiedenen und entgegengesetzten Wege zu erklären, welche die Menschen einschlagen trotzdem, dass Alle nach dem Glücke streben, muss man untersuchen, woher die verschiedenen Unbehagen entstehen, welche den Entschluss bei den von dem Willen abhangenden Handeln bestimmen.

I. (Von körperlichen Schmerzen.) Erstens kommen manche von Ursachen, die man nicht in seiner Gewalt hat, wie von körperlichen Schmerzen, welche aus Mangel, aus Krankheit, oder äusserlichen Beschädigungen, wie die Folter u.s.w. entstehen. Sind diese Schmerzen gegenwärtig und heftig, so bestimmen sie den Willen mit Macht und entfernen den Lebenslauf von der Tugend, Frömmigkeit und Religion und Allem, was vorher als zum Glück führend erachtet worden ist. Denn Niemand versucht oder vermag es, durch die Betrachtung eines entfernten und zukünftigen Guts in sich ein Begehren zu wecken, was stark genug ist, um dem Unbehagen, was er bei diesen Körperqualen fühlt, das Gleichgewicht zu halten und seinen Willen in der Wahl dessen, was zum Glück führt, fest zu erhalten. Ein benachbartes Land hat in dieser Hinsicht ein trauriges Schauspiel geboten, was neue Beläge hierzu liefert, wenn es deren bedurfte und nicht jedes Zeitalter genug Beispiele brächte, um den anerkannten Ausspruch zu bestätigen, dass die Nothwendigkeit zu dem Schlechten zwingt. Wir haben deshalb alle Ursache zu beten: »Führe uns nicht in Versuchung.«

II. (Von schlechten Begehren, die von dem falschen Urtheil kommen.) Anderes Unbehagen kommt von dem Verlangen nach einem fehlenden Gute. Dergleichen. Verlangen steht allemal in Verhältniss zu diesem fehlenden Gut, und hängt von dem Urtheil ab,[285] was man fallt und von der Neigung, die man dazu hat; in beiden kann man, und zwar durch eigene Schuld, fehl greifen.

§ 58. (Unser Urtheil über ein gegenwärtiges Gut oder Uebel ist immer richtig.) Den ersten Platz nehmen die falschen Urtheile ein die man über ein zukünftiges Gut oder Uebel fällt, wodurch das Begehren irregeleitet wird; denn das gegenwärtige Glück und Elend für sich und ohne ihre Folgen werden niemals falsch beurtheilt; man weiss, was am meisten ergötzt und zieht dies wirklich vor. Die Dinge sind, während man sie geniesst, das, was sie scheinen; das erscheinende und das wirkliche Gut sind in solchem Falle immer sich gleich; denn der Schmerz und die Lust sind gerade so gross, als man sie fühlt, und daher das gegenwärtige Gut oder Uebel so gross, wie es erscheint. Schlösse daher jede Handlung mit ihr selbst ab, ohne Folgen nach sich zu ziehen, so würde man unzweifelhaft in der Wahl des Guten niemals irren und das Beste würde sicherlich vorgezogen werden. Könnte man den Schmerz, welcher dem redlichen Fleisse anhängt, und den Schmerz, wenn man vor Hunger und Kälte stirbt, nebeneinander vor den Menschen hinstellen, so würde er in seiner Wahl nicht zweifeln und würden der Genuss und Lust und die Freuden des Himmels gleichzeitig ihm als gegenwärtige angeboten, so würde er nicht schwanken und in seiner Wahl nicht irren.

§ 59. Allein da die freiwilligen Handlungen nicht all das aus ihnen folgende Glück oder Elend schon bei ihrer Vollziehung mit sich führen, da sie vielmehr nur die vorgehenden Ursachen des ihnen nachfolgenden Guten und Uebeln sind, was sie über den Menschen bringen, wenn die Handlung schon geschehen und vorbei ist, so geht das Begehren über die Lust der Gegenwart hinaus und führt die Seele zu dem abwesenden Guten, je nachdem man es zur Begründung oder Steigerung seines Glückes für nöthig hält. Nur die eigene Meinung über eine solche Wirksamkeit giebt ihm das Anziehende; ohnedem wurde man von einem abwesenden Gute nicht erregt werden. Denn bei der knappen Empfänglichkeit für die Gefühle, an die man hier gewöhnt ist, und wonach man nur eine Lust auf einmal geniessen[286] kann, die, wenn alles Unbehagen entfernt ist, während ihrer Dauer genügt, glücklich zu machen, wird man nicht von jedem entfernten und selbst nicht von jedem sich zeigenden Gute erregt. Da diese Unempfänglichkeit und die gegenwärtige Lust für das gegenwärtige Glück genügen, so will man die Veränderung nicht wagen; man hält sich schon für glücklich, ist zufrieden, und das ist genug. Denn wer zufrieden ist, ist glücklich; sobald aber ein neues Unbehagen herbeikommt, wird dies Glück gestört und man muss von Neuem die Jagd nach dem Glück beginnen.

§ 60. (Von dem falschen Urtheil aber die Dinge, die das Glück ausmachen.) Indem man also sich schon in dieser Weise für glücklich halten kann, so bleibt das Verlangen nach dem grössten, aber entfernten Gute oft aus. Bei solchem Zustande reizen die Freuden eines zukünftigen Zustandes den Menschen nicht; er kümmert sich nur wenig darum und fühlt sich nicht unbehaglich; der Wille ist deshalb von dem Drucke solchen Begehrens frei und kann näher liegende Genüsse verfolgen und das Unbehagen beseitigen, was aus dem Mangel und dem Sehnen nach diesen empfunden wird. Indess möge man nur eines Menschen Urtheil über diese Dinge ändern; man zeige ihm, dass Tugend und Religion zu seinem Glück nöthig seien, man lasse ihn den zukünftigen Zustand von Seligkeit und Elend schauen und wie Gott, der gerechte Richter, bereit sei, »Jedem nach seinen Thaten zu geben; denen, welche in stetem Guthandeln ihren Rahm gesucht, Ehre, Unsterblichkeit und ewiges Leben und jeder Seele, die böse gehandelt, Schaam und Reue, Pein und Angst.« Ich sage, wer die verschiedenen Zustände des vollkommenen Glückes und Elendes vor sich sieht, welche alle Menschen in jenem Leben nach ihrem Betragen hier erwarten, bei dem werden die Schätzungen des Guten und Hebeln, die seine Wahl bestimmen, wesentlich geändert werden. Denn nichts in diesem Leben kann mit dem endlosen Glück oder ausgesuchten Elend der unsterblichen Seele in jener Welt verglichen werden; seine Handlungen werden sich dann nicht nach den vergänglichen Freuden und Schmelzen, die sie hier begleiten, bestimmen, sondern nach dem vollkommenen und dauernden Glück, zu dessen Gewinnung sie beitragen.[287]

§ 61. (Eine genauere Prüfung des falschen Urtheils.) Um indess genauere Rechenschaft über das Elend zu geben, was der Mensch, obgleich er allen Ernstes das Glück verfolgt, über sich bringt, muss man erwägen, wie die Dinge unter trügerischem Schein sich unserm Begehren darstellen. Dies geschieht durch ein falsches Urtheilen über sie. Um die Ansdehnung dessen zu übersehen und die Ursachen des falschen Urtheilens zu erkennen, muss man sich erinnern, dass die Dinge in zwiefachem Sinne für gut und übel gelten.

Erstens ist das, was eigentlich gut und übel ist, rein nur die Lust und der Schmerz. Allein zweitens sind nicht blos die gegenwärtigen Freuden und Schmerzen, sondern auch die Dinge, welche durch ihre Wirkungen und Folgen dergleichen später nach sich ziehen, ein Gegenstand unseres Begehrens, und geeignet, ein mit Voraussicht begabtes Wesen zu bestimmen; deshalb gelten auch die Dinge, welche Lust oder Schmerz zur Folge haben, als gut und übel.

§ 62. Das falsche irreführende Urtheil, was den Willen oft auf die falsche Seite leitet, liegt in der falschen Auffassung der verschiedenen hier eintretenden Vergleichungen. Das falsche Urtheil, von dem ich hier spreche, ist nicht das, was über den Entschluss eines Andern gefällt wird, sondern das, was Jeder in Bezug auf sich selbst für falsch anerkennen muss. Denn da mir als feste Grundlage gilt, dass jedes verständige Wesen nach seinem wirklichen Glücke strebt, welches in dem Genüsse der Lust ohne erhebliche Beimischung von Schmerzen besteht, so kann unmöglich Jemand seinem eigenen Trunke absichtlich das Bittere zumischen oder Etwas, was von ihm abhängt, ihn erfreuen und sein Glück voll machen würde, weglassen, wenn er nicht falsch urtheilte. Ich spreche hier nicht von den Missgriffen, welche die Folgen eines unvermeidlichen Irrthums sind; dies verdient kaum den Namen eines falschen Urtheils; sondern von dem falschen Urtheil, was Jedermann selbst als solches anerkennen muss.

§ 63. (Bei Vergleichung der Gegenwart mit der Zukunft.) Wenn die Seele, wie gesagt, bei der Lust und den Schmerzen, die gegenwärtig sind, nicht fehlgreift und die grosse Lust und der grosse Schmerz[288] gerade so wirklich sind, wie sie erscheinen, mithin die gegenwärtige Lust und Schmerz ihren Unterschied und ihre Grade so deutlich zeigen, dass für ein Versehen kein Raum bleibt, so urtheilt man dagegen bei der Vergleichung gegenwärtiger Lust oder Schmerzes mit zukünftigen (was bei wichtigen Entschlüssen meistentheils der Fall ist) sehr leicht falsch, weil die Entfernungen, aus denen man sie bemisst, verschieden sind. Nahe Gegenstände scheinen grösser als entferntere von grösserem umfange; ebenso ist es mit der Lust und dem Schmerz; als gegenwärtige treten sie hervor und die fernem stehen bei der Vergleichung im Nachtheil. Deshalb denken die Meisten wie verschwenderische Erben, dass ein Weniges in der Hand besser sei als Viel in der Zukunft, und man tauscht für den Besitz von Kleinem die Aussicht auf Grosses aus. Allein Jeder muss anerkennen, dass dies ein schlechtes Urtheil ist, mag er seine Lust finden, worin er will; denn das Zukünftige wird ja sicher zu einem Gegenwärtigen; dann zeigt es sich in seiner vollen Grösse und offenbart den durch Benutzung ungleichen Maasses begangenen Fehler. Wäre die Lust des Trinkens gleich bei dem Ergreifen des Glases mit dem verdorbenen Magen und den Kopfschmerzen verbunden, die meist wenige Stunden danach, folgen, so würde schwerlich Jemand, trotz aller Freude am Trinken, unter diesen Bedingungen den Wein mit seinen Lippen berühren. Dennoch trinkt er ihn täglich, und diese schlechte Wahl kommt nur von einem geringen Unterschied in der Zeit. Wirken so schon wenige Stunden Abstand auf die Verminderung von Lust und Schmerz, wie vielmehr wird dies bei grössern Abständen sich zeigen, wenn man durch richtiges Urtheil nicht das vollführt, was die Zeit vollführen wird, nämlich es sich näher zu stellen und als ein gegenwärtiges anzusehen, wo es dann seine wahre Grösse zeigt. Auf diese Weise täuscht man sich gewöhnlich über die Lust und den Schmerz, und über die Grade des Glücks und Elends; man verliert für das Zukünftige das richtige Maass und zieht das Gegenwärtige als das Grössere vor. Ich erwähne hier nicht des Fehlers, wonach das Entfernte nicht blos verkleinert, sondern ganz als Nichts behandelt wird; wo der Mensch in der Gegenwart nach Möglichkeit geniesst und[289] sich mit dem Glauben täuscht, dass kein Uebel nachfolgen werde. Dieser Irrthum trifft nicht das Vergleichen der Grösse des zukünftigen Guts und Uebels, von dem ich hier handle, sondern jene andere Art des falschen Urtheils, über das Gute und Ueble, sofern es als die Ursache und Vermittlung von Lust und Schmerzen, die daraus folgen, aufgefasst wird.

§ 64. (Die Ursachen dessen.) Die Ursache, dass wir bei der Vergleichung der gegenwärtigen Lust und Schmerzen mit den zukünftigen falsch urtheilen, scheint mir in der schwachen und beschränkten Natur der menschlichen Seele zu liegen. Man kann nicht zweierlei Lust gleichzeitig geniessen und noch weniger eine Lust, wenn der Schmerz die Seele erfüllt. Die gegenwärtige Lust füllt, wenn sie nicht sehr schwach und so gut wie keine ist, die enge Seele aus und nimmt sie ganz in Anspruch, so dass sie an abwesende Dinge nicht denken kann. Selbst wenn eine Lust nicht so stark ist, dass sie die Gedanken von entfernten Dingen ganz abzieht, wird der Schmerz doch so stark verabscheut, dass ein Weniges davon alle Lust erstickt; ein wenig Bitteres, was in unsern Trunk gemischt wird, nimmt ihm allen Wohlgeschmack. Deshalb will man auf jede Weise das gegenwärtige Uebel los sein, dem, wie man meint, nichts Abwesendes gleich kommt, da man sich bei dem gegenwärtigen Schmerz nicht der geringsten Lust für fähig hält. Die täglichen Klagen der Menschen bezeugen dies laut; jeder hält seinen gegenwärtigen Schmerz für den schlimmsten; mit Angst ruft man: »Alles Andere lieber als dies; Nichts kann so unerträglich sein, als was ich jetzt leide.« Deshalb ist das Denken und Thun vor Allem auf Befreiung von dem gegenwärtigen Hebel als der ersten Bedingung zum Glück gerichtet, mag daraus entstehen, was da wolle; nichts, meint man in seiner Aufregung, kann dem jetzt so schwer drückenden Schmerze gleichkommen oder übertreffen, und da die Enthaltung von einer gegenwärtigen Lust, die sich zeigt, ein Schmerz, ja oft ein sehr grosser Schmerz ist, weil das Begehren durch den wahren und verführerischen Gegenstand entzündet wird, so kann es nicht auffallen, wenn es ebenso, wie der Schmerz wirkt, das Zukünftige verkleinert und sich jenem Gegenstand blind in die Arme wirft.[290]

§ 65. Dazu kommt, dass ein abwesendes Gut oder, was dasselbe ist, eine zukünftige Lust, namentlich wenn man mit dieser Art noch nicht bekannt ist, selten dem Unbehagen eines gegenwärtigen Schmerzes oder Begehrens, das Gleichgewicht halten kann. Denn da die Grösse, dieser Lust nur nach dem wirklichen Genuss, wenn man ihn hat, sich bestimmt, so pflegt man sie gern zu verkleinern, um einem gegenwärtigen Begehren Platz zu machen, und man meint, dass wenn es auf die Probe ankäme, sie möglicherweise den Angaben oder der allgemeinen Ansicht nicht entsprechen werde, da man oft gefunden habe, dass das, was Andere gerühmt haben, ja was man selbst mit grosser Lust zu einer Zeit genossen habe, zu einer andern Zeit sich als gleichgültig, ja als widerwärtig erwiesen habe. Deshalb findet man darin keinen Anlass, einer gegenwärtigen Lust vorbeizugehen. Allein man muss einräumen, dass dieser Grundsatz, wenn man ihn auf das Glück eines jenseitigen Lebens anwendet, falsch ist, sofern man nicht sagt: »Gott kann Jeden nach seinem Belieben glücklich machen.« Denn wenn jenes Leben ein Zustand des Glückes ist, so entspricht es sicherlich eines Jeden Wunsch und Begehren; selbst wenn der Geschmack dort so verschieden, wie hier, sein sollte, wird doch das Manna des Himmels jedem Gaumen behagen. So viel über das falsche Urtheil rücksichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Lust- und Schmerzgefühle, wenn sie verglichen und die abwesenden als zukünftige behandeln werden.

§ 66. (Bei Betrachtung der Folgen des Handelns.) Was nun die in ihren Folgen guten und schlimmen Dinge anlangt, die fähig sind, uns Gutes und Uebles in der kommenden Zeit zu gewähren, so fehlt hierbei das Urtheil in mancherlei Weise, 1) Wenn man meint, dass nicht wirklich so viel Schlimmes aus ihnen folgen werde, als doch in Wahrheit der Fall ist; 2) Wenn man meint, dass, wenn auch die Folge so bedeutend sei, sie doch noch nicht sicher sei, sondern es auch anders kommen könne, und dass mancherlei Mittel, wie Fleiss, Geschicklichkeit, Veränderung, Reue u.s.w. sie beseitigen können. Dass dies falsche Urtheile sind, könnte man leicht bei Prüfung der einzelnen Fälle zeigen; indess will ich nur im Allgemeinen bemerken, dass man sehr falsch und[291] unverständig verfährt, wenn man auf unsichere Vermuthungen hin und nach ehe gehörig, und der Wichtigkeit des Falles entsprechend geprüft worden, ob man sich nicht irre, ein grösseres Gut für ein kleineres wagt. Jeder muss dies einräumen, namentlich wenn er die gewöhnlichen Ursachen beachtet, die zu falschen Urtheilen bestimmen, von denen hier einige angeführt werden sollen.

§ 67. (Die Ursachen davon.) Die erste ist Unwissenheit; wer ohne sich vorher genügend erkundigt zu haben, urtheilt, trägt die Schuld, wenn er falsch urtheilt. 2) Die zweite ist Nachlässigkeit, wenn man selbst das übersieht, was man weiss. Es ist dies eine für diesen Zeitpunkt vorgespiegelte Unwissenheit, welche das Urtheil ebenso irre leitet, wie die vorige Ursache. Das Urtheilen gleicht dem Abschliessen einer Rechnung, wo man ermittelt, auf welcher Seite der Ueberschuss ist. Werden beide Seiten hastig aufgerechnet, und mancher einzureihende Posten übersehen und ausgelassen, so macht diese Ueberstürzung das Urtheil ebenso falsch, wie die völlige Unwissenheit. Meist wird dies durch das Uebergewicht einer gegenwärtigen Lust oder Schmerzes veranlasst, die durch unsere schwache Natur, welche vom. Gegenwärtigen am meisten erregt wird, gesteigert werden. Zur Hemmung dieser Ueberstürzung ist dem Menschen Verstand und Vernunft gegeben; sofern man sie recht gebraucht, erst sieht und forscht und dann urtheilt. Ohne die Freiheit hätte der Verstand keinen Nutzen, und ohne den Verstand hätte die Freiheit (wenn es möglich wäre); keine Bedeutung. Wenn der Mensch sähe, was ihm gut und schädlich ist, was ihn glücklich oder elend macht, ohne doch einen Schritt deshalb vor- oder rückwärts thun zu können, so hülfe das Sehen ihm nichts, und wer in völliger Dunkelheit die Freiheit, sich zu bewegen hat, wäre mit seiner Freiheit nicht besser daran, als eine von dem Winde auf- und niedergetriebene Wasserblase; es: ist kein Unterschied, ob ein blinder Anstoss von aussen oder von innen mich treibt. Deshalb ist der erste und grösste Nutzen der Freiheit, dass sie das blinde Ueberstürzen verhindert; ihr Gebrauch besteht wesentlich in einem Stillstehen und Oeffnen der Augen, in einem Umsichschauen und Betrachten der Folgen der zu unternehmenden Handlung, je nach der Wichtigkeit des Gegenstandes.[292] Ich brauche nicht näher anzugeben, wie viel hierbei Faulheit und Nachlässigkeit, oder die Hitze der Leidenschaft, der Einfluss der Mode und die Gewohnheit zu dem falschen Urtheile beitragen. Ich will nur noch eines andern falschen Urtheiles gedenken, das man, obgleich es von grossem Einfluss ist, weniger beachtet.

§ 68. (Das falsche Urtheil über das zu unserem Glück Erforderliche.) Jedermann verlangt unzweifelhaft nach dem Glück; allein ist man frei vom Schmerz, so ist man, wie gesagt, mit jeder Lust, die zur Hand ist, oder welche die Gewohnheit süss gemacht hat, zufrieden; so ist man glücklich und sieht nicht weiter, bis ein neues Begehren mit seinem Unbehagen dieses Glück stört und zeigt, dass man noch nicht glücklich ist. Vorher ist der Wille zu keiner Handlung bereit, um ein anderes bekanntes oder sich zeigendes Gut zu verfolgen; denn da man nicht alle Arten von Gütern gleichzeitig gemessen kann, sondern eines das andere ausschliesst, so richtet sich das Begehren nicht auf das grössere Gut, was sich zeigt, so lange es nicht für das Glück nothwendig gehalten wird; es erregt uns nicht, so lange wir ohne es glücklich zu sein glauben. Dies ist ein anderer Anlass zu falschem Urtheilen; wenn man nämlich das nicht für zum Glücke nöthig hält, was es doch wirklich ist. Dieser Fehlgriff leitet sowohl in der Wahl des erstrebten Guts, wie in den Mitteln dazu bei entfernten Gütern irre. Mag man indess dabei dem Gute eine falsche Stelle anweisen, oder die für dasselbe nöthigen Mittel versäumen, so hat man jedenfalls falsch geurtheilt, wenn man sein Endziel, das Glück, verfehlt. Zu diesem Missgriff trägt hauptsächlich das wirkliche oder vermeintliche Unangenehme der dazu nöthigen Handlungen bei; da es verkehrt scheint, des Glückes wegen sich unglücklich zu machen und man deshalb nicht leicht sich zu diesen Handlungen entschliesst.

§ 69. (Man kann das Angenehme und Unangenehme in den Dingen verändern.) Die letzte Frage hier ist also: ob der Mensch vermag, das Angenehme oder Unangenehme zu verändern, was irgend eine Handlang begleitet? Dies vermag er allerdings in vielen Fällen. Der Mensch kann und soll seinen Geschmack verbessern und das sich wohlschmeckend machen, was[293] es nicht ist oder nicht dafür gehalten wird. Der Geschmack der Seele ist so mannichfach, wie der des Körpers und kann ebenso leicht umgeändert werden; es ist ein Irrthum, wenn man meint, das Unangenehme oder Gleichgültige mancher Handlung könne nicht in Lust und Freude umgewandelt werden, sofern man nur Alles thut, was man vermag. Eine gehörige Ueberlegung wird dazu schon manchmal hinreichen, und Uebung, Fleiss, Gewohnheit meistentheils. Brot oder Taback können, trotzdem dass sie der Gesundheit nützen, aus Gleichgültigkeit oder Widerwillen vernachlässigt werden; aber die Vernunft und Ueberlegung empfehlen sie und lassen den ersten Versuch machen; der Gebrauch findet oder die Gewohnheit macht sie dann angenehm. Dies gilt sicher auch für die Tugend. Eine Handlung ist entweder an sich angenehm oder unangenehm, oder sie ist es als Mittel für ein grösseres und ersehnteres Ziel. Isst man ein gut zubereitetes Gericht, was dem Gaumen zusagt, so empfindet die Seele die Lust, die das Essen an sich und ohne weitere Beziehungen gewährt; diese Lust kann durch die Betrachtung der in der Gesundheit und Kraft enthaltenen Lust (wozu das Gericht hilft) einen neuen guten Beigeschmack erhalten und sie kann uns selbst ein schlecht schmeckendes Getränk verschlucken lassen. Hier ist die Handlung zu einer mehr oder weniger angenehmen lediglich durch die Betrachtung ihrer Wirkung gemacht worden, und durch die Ueberzeugung, dass diese Wirkung nothwendig eintreten werde; aber am meisten hilft für die Annehmlichkeit einer Handlung die Uebung und Gewohnheit. Die Ausführung versöhnt oft mit dem, was aus der Ferne mit Widerwillen betrachtet wurde, und die Wiederholung lässt zuletzt an dem Gefallen finden, was vielleicht bei dem ersten Versuch missfallen hat. Die Gewohnheit hat einen mächtigen Reiz und verbindet Behagen und Lust so fest mit dem gewohnten Handeln, dass man es nicht mehr unterlassen kann; man fühlt sich unbehaglich, wenn das fehlt, was die tägliche Uebung für uns passend und deshalb empfehlenswerth gemacht hat. Obgleich dies offenbar ist und Jedermann es aus eigener Erfahrung weiss, so wird doch dieses Mittel in dem Streben nach Glück in einem Grade vernachlässigt, dass es beinah als ein Widersinn klingt, wenn man sagt,[294] dass der Mensch Dinge und Handlungen sich mehr oder weniger angenehm machen und damit dem zuvorkommen kann, was in Wahrheit einen grossen Theil unserer Verirrungen veranlasst. Die Mode und die allgemeine Ansicht haben falsche Begriffe, und die Erziehung und Lebensweise haben schlechte Gewohnheiten befestigt; die richtige Würdigung der Dinge ist damit verfälscht und der Geschmack der Menschen verderbt worden. Schmerzen sollten als Hülfsmittel dagegen gelten und entgegengesetzte Gewohnheiten sollten unsere Vergnügen verändern und das schmackhaft machen, was zu dem Glücke nothwendig oder nützlich ist. Jeder muss anerkennen, dass er dies vermag, und hat er sein Glück verloren und hat das Elend ihn erfasst, so muss er einsehen, dass er diese Vernachlässigung verschuldet hat und deshalb Tadel verdient. Ich frage Jeden, ob ihm dies nicht manchmal begegnet ist?

§ 70. (Wenn das Laster der Tugend vorgezogen wird, so liegt dies offenbar an einem falschen Urtheile.) Ich gehe jetzt nicht weiter auf diese falschen Urtheile und Vernachlässigungen des in der Macht der Menschen Stehenden ein, wodurch sie auf Irrwege gerathen; es würde Bände füllen und ist nicht meine Aufgabe. Allein wenn auch falsche oder sträfliche Vernachlässigung dessen, was in der Menschen Kräfte steht, sie von dem Wege zum Glück abbringt und, wie man sieht, auf entgegengesetzte Lebenswege führen kann, so ist doch sicher, dass nur eine, auf ihre wahren Grundlagen erbaute Moral die Wahl bei jedem Verständigen bestimmen darf. Wer, als ein vernünftiges Wesen nicht einmal ernstlich über das unendliche Glück und Elend nachdenken mag, muss sich also selbst anklagen, dass er von seinem Verstande nicht den gehörigen Gebrauch gemacht hat. Die Belohnungen und Strafen in jenem Leben, welche der Allmächtige zur Verstärkung seiner Gesetze festgesetzt hat, sind gewichtig genug, um die Wahl selbst gegen jede Lust und Schmerz dieses Lebens zu bestimmen; selbst wenn das ewige Leben um als möglich gedacht wird, welche Möglichkeit Niemand bezweifeln kann. Wer dies ausgesuchte und endlose Glück auch nur als die mögliche Folge eines guten Lebenswandels hier anerkennt und den entgegengesetzten Zustand als den möglichen[295] Fehler eines schlechten, der muss sich selbst für einen schlechten Richter halten, wenn er nicht erkennt, dass ein tugendhaftes Leben mit der sichern Erwartung künftiger ewiger Seligkeit einem lasterhaften Leben mit der Furcht vor dem schrecklichen Zustand des Elendes, welcher den Schuldigen treffen kann, oder im besten Fall der schrecklichen Aussicht möglicher Vernichtung vorzuziehen ist. Dies gilt, selbst wenn das tugendhafte Leben hier nur mit Schmerzen und das lasterhafte mit steter Lust verbunden wäre; obgleich es in der Regel sich anders verhält, und böse Menschen selbst in ihrem Besitz hier sich keiner grossen Gewinnste rühmen können, sondern, alles recht betrachtet, selbst hier sich in der schlechtesten Lage befinden. Ist aber unendliches Glück in die eine Wagschale gegen unendliches Elend in der andern gelegt, und ist das Schlimmste, was den frommen Mann, im Falle er irrt, treffen kann, doch das Beste, was der Schlechte erreichen kann, wenn er Recht haben sollte, wer kann da, ohne wahnsinnig zu sein, das Wagstück unternehmen? Welcher Verständige wird sich der Möglichkeit aussetzen, in unendliches Elend zu gerathen, in so fern auch dann, wenn er ihm entgeht, durch dieses Wagstück nichts gewonnen werden kann; während umgekehrt der redliche Mann nichts wagt gegenüber dem unendlichen Glücke, das er gewinnt, wenn seine Erwartung eintrifft. Hat der gute Mensch Recht, so ist er ewig glücklich; hat er geirrt, so ist er nicht elend; er fühlt nichts. Hat dagegen der Böse Recht, so ist er nicht glücklich, und hat er geirrt, so ist er unendlich elend. Es muss ein ganz schlechtes Urtheilsvermögen sein, was hier nicht sofort sieht, welche Seite den Vorzug verdient. Ich habe nichts über die Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit des jenseitigen Lebens gesagt, da ich hier nur das falsche Urtheil aufdecken wollte, das Jeder, selbst nach seinen eigenen Grundsätzen sein sie, welche sie wollen, fällen muss, wenn er nur mit einiger Ueberlegung die kurzen Freuden eines lasterhaften Lebens wählt, obgleich er weiss und sicher ist, dass ein zukünftiges Leben wenigstens möglich ist.

§ 71. (Wiederholung.) Ich schliesse hier diese Untersuchung über die menschliche Freiheit. Bei der frühem Darstellung war ich Anfangs selbst deshalb besorgt,[296] und einer meiner scharfsinnigen Freunde vermuthete, als ich sie veröffentlichte, dass sie einen Fehlgriff enthalte, obgleich er mir denselben nicht näher angeben konnte. Ich habe deshalb dieses Kapitel einer genauern Durchsicht unterworfen, dabei allerdings ein kleines und kaum bemerkbares Versehen gefunden, was ich verbessert und dabei ein anscheinend gleichgültiges Wort mit einem andern vertauscht habe. Diese Entdeckung führte mich zu der Auffassung, welche ich jetzt in dieser zweiten Auflage der gelehrten Welt vorlege und welche in der Kürze dahin geht: »Die Freiheit ist die Macht zu handeln oder nicht zu handeln, wie die Seele es bestimmt.« Die Kraft, welche die wirkenden Vermögen in dem einzelnen Falle in Bewegung oder Ruhe versetzt, ist das, was man Willen nennt. Das, was in dem Reiche der freiwilligen Handlungen den Willen zu einer Aenderung seiner Wirksamkeit bestimmt, ist ein gegenwärtiges Unbehagen, welches in dem Begehren enhalten oder wenigstens immer damit verknüpft ist. Das Begehren wird immer durch das Uebel erweckt, und will es fliehen, indem die gänzliche Befreiung von Schmerz einen nothwendigen Bestandtheil unsers Glücks bildet. Dagegen erweckt kein Gut, sogar kein grösseres Gut regelmässig das Begehren, sofern es keinen nothwendigen Theil unsers Glücks ausmacht, oder nicht dafür gehalten wird; denn Alles, was man begehrt, ist nur, glücklich zu sein. Obgleich indess dieses allgemeine Verlangen nach Glück fortwährend und unveränderlich wirkt, so kann doch die Befriedigung des einzelnen Begehrens und dessen Einfluss auf den Willen in Bezug auf die entsprechende Handlung so lange gehemmt werden, bis man reiflich erwogen hat, ob das begehrte anscheinende Gut einen wirklichen Theil des Glückes ausmacht und sich mit demselben verträgt oder nicht. Das schliessliche Urtheil nach solcher Prüfung bestimmt den Menschen, der nicht frei sein könnte, wenn sein Wille von etwas Anderem, als seinem eigenen durch sein Urtheil geleiteten Begehren bestimmt würde. Ich weiss, dass vielfach die Freiheit in die Unentschiedenheit des Menschen vor dem Entschlusse gesetzt wird; indess wünschte ich, dass die, welche so viel Gewicht auf diese sogenannte vorgängige Unentschiedenheit legen, deutlicher gesagt hätten, ob diese angebliche Unentschiedenheit auch dem Denken und Urtheilen[297] des Verstandes, ebenso wie dem Willensentschluss vorhergehe. Denn es zwischen diese Beiden zu stellen, ist schwer; d.h. unmittelbar nach dem Urtheil des Verstandes und vor dem Willensentschluss, weil letzterer unmittelbar auf jenes Urtheil folgt. Setzt man aber die Freiheit in eine Unentschiedenheit vor dem Denken und Urtheilen des Verstandes, so versetzt man damit die Freiheit in einen Zustand von Dunkelheit, in der man nichts von ihr sehen und sagen kann; wenigstens wird sie dann einem Wesen beigelegt, dem die Fähigkeit für sie abgeht; da kein Wesen der Freiheit fähig ist, wenn man ihm das Denken und Urtheilen nimmt. Ich bin in Worten nicht peinlich und sage deshalb gern mit denen, die es vorziehen, dass die Freiheit in der Unentschiedenheit besteht; aber in der, welche nach dem Urtheile des Verstandes noch bleibt, ja selbst nach dem Willensentschluss, und deshalb ist diese keine Unentschiedenheit des Menschen (denn hat er einmal entschieden, was das Beste ist, d.h. zu handeln oder nicht zu handeln, so ist er nicht mehr unentschieden), sondern eine Unentschiedenheit der wirkenden Kräfte, welche nach, wie vor dem Willensentschluss gleich fähig bleiben, zu wirken oder nicht zu wirken und sonach in einem Zustande sind, den man Unentschiedenheit nennen mag. So weit diese Unentschiedenheit reicht, ist der Mensch frei, aber nicht weiter. So habe ich z.B. das Vermögen, meine Hand zu bewegen oder sie ruhen zu lassen; dieser wirkenden Kraft ist es gleichgültig, ob sie meine Hand bewegt oder nicht, und ich bin deshalb in dieser Beziehung vollkommen frei. Bestimmt mein Wille diese Kraft zur Rohe, so bleibe ich doch frei, weil diese Gleichgültigkeit jener Kraft für das Handeln oder Nichtzuhandeln immer bleibt; die Kraft, meine Hand zu bewegen, ist nicht gänzlich durch den Willensentschluss, welcher gegenwärtig die Ruhe anordnet, aufgehoben; vielmehr ist diese Kraft, zu handeln oder nicht zu handeln, genau noch so, wie zuvor; wie sich leicht ergiebt, wenn der Wille sie auf die Probe stellt und das Gegentheil anordnet. Wird aber die Hand während der Ruhe plötzlich gelähmt, so ist die Unentschiedenheit dieser Kraft verloren, und damit auch meine Freiheit; ich bin nun in dieser Hinsicht nicht mehr frei, sondern gezwungen, meine Hand in Ruhe zu lassen. Wird[298] umgekehrt meine Hand durch einen Krampf bewegt, so ist auch damit die Unentschiedenheit dieser Kraft aufgehoben und meine Freiheit verloren; denn ich bin gezwungen, meine Hand zu bewegen. Ich habe dies beigefügt, um zu zeigen, in welcher Art von Unentschiedenheit die Freiheit mir zu bestehen scheint; nur diese und keine andere, wirkliche oder eingebildete, kann ich anerkennen.

§ 72. Wahre Begriffe über die Natur und den Umfang der Freiheit sind so wichtig, dass man mir hoffentlich diese Abschweifung verzeihen wird, zu welcher mein Streben nach Klarheit mich verleitet hat. Die Begriffe von Willen, Wollen, Freiheit und Nothwendigkeit kamen mir von selbst in diesem Kapitel über die Kraft in den Weg. In einer frühem Ausgabe dieser Schrift gab ich darüber eine Darstellung, wie sie meiner damaligen Einsicht entsprach; jetzt gestehe ich als ein Freund der Wahrheit, der nicht eigensinnig an seine Lehren hängt, gern, dass ich meine Ansicht etwas geändert habe, da ich Grund dazu vorfand. In der ersten Darstellung folgte ich der Wahrheit mit unbeugsamem Gleichmuthe, wohin sie auch mich führen mochte; allein ich bin weder so eitel, um mir Untrüglichkeit einzubilden, noch so unredlich, dass ich meinen Irrthum verhüllen möchte, um meinen Ruf zu schützen. Deshalb habe ich in dem gleichen autrichtigen Streben nach Wahrheit mich nicht gescheut, das zu veröffentlichen, wozu eine strengere Untersuchung mich geführt hat. Möglicherweise werden Manche meine frühere Darstellung, und Andere (wie ich bereits erfahren habe) diese letzte für die richtige halten und Manche keine von Beiden. Ueber solche Gegensätze der Ansichten werde ich mich nicht verwundern; denn unparteiische und gründliche Ausführungen sind bei grossen Streitfragen selten; auch sind genaue Untersuchungen über dergleichen hohe Begriffe nicht leicht; namentlich wenn die Untersuchung lang wird. Ich wäre daher Jedermann dankbar, der mit diesen oder andern Gründen diese Frage der Freiheit zur vollen Lösung brächte und sie von den jetzt noch vorhandenen Schwierigkeiten befreite.

Bevor ich dieses Kapitel schliesse, ist es vielleicht zweckmässig und klärt die Begriffe über Kraft, wenn man sich eine etwas genauere Uebersicht von dem Begriffe[299] der Handlung durch Nachdenken verschafft. Ich habe bereits gesagt, dass man Vorstellungen nur von zwei Arten des Handelns hat, nämlich von der Bewegung und von dem Denken. Obgleich beide Handlungen heissen und dafür gelten, so werden sie bei näherer Betrachtung doch nicht immer als solche angesehen werden können. Denn, irre ich mich nicht, so giebt es für beide Arten Fälle, die bei genauerer Betrachtung sich eher als ein Leiden, wie Handeln erweisen. Sie sind deshalb eher die Wirkungen der leidenden Kraft in den Personen, die jetzt ihretwegen als handelnde Wesen angesehen werden. In diesen Fällen erhält nämlich die Substanz, welche sich bewegt oder denkt, den Eindruck, wodurch sie in diese Thätigkeit versetzt wird, lediglich von Aussen und sie handelt daher nur so in Folge ihres Vermögens, einen solchen Eindruck von einem äusserlich Wirksamen zu empfangen. Solche Kraft ist aber keine eigentliche thätige Kraft, sondern blos eine leidende Fähigkeit in der Person. Dagegen setzt sieh manchmal die Substanz oder das wirkende Wesen durch seine eigene Kraft in Thätigkeit; dies ist dann die eigentliche thätige Kraft. Jede Besonderung einer Substanz, durch die sie eine Wirkung hervorbringt, heisst Thätigkeit; wenn z.B. eine dichte Substanz vermittelst der Bewegung die sinnlichen Vorstellungen einer andern Substanz erregt oder verändert; deshalb nennt man diese Besonderung der Bewegung Thätigkeit; allein, näher betrachtet, ist diese Bewegung des dichten Körpers nur ein Leiden, was er von einem äussern Wirkenden empfangen hat. Deshalb besteht die thätige Kraft der Bewegung nur in jenen Substanzen, welche die Bewegung bei sich selbst oder bei einer andern ruhenden Substanz anfangen können. Ebenso heisst bei dem Denken die Kraft, Vorstellungen oder Gedanken von der Wirksamkeit einer äusserlichen Substanz zu empfangen, eine Kraft des Denkens; allein sie ist nur eine leidende Kraft oder eine Empfänglichkeit; Wenn man dagegen nicht vorhandene Vorstellungen nach Belieben hervorruft und mit andern beliebigen vergleicht, so ist dies eine thätige Kraft. Diese Erklärung schützt vielleicht vor Irrthümern über die Kräfte und Thätigkeiten, in welche man durch die Sprachlehren und die gewöhnlichen Sprachformen gerathen kann, weil die von den[300] Sprachlehrern als Aktiven behandelten Zeitworte nicht immer eine Thätigkeit bezeichnen. Sagt man z.B.: Ich sehe den Mond oder einen Stern, oder: Ich fühle die Sonnenhitze, so wird dies zwar durch das Aktivum des Zeitworts ausgedrückt, aber bezeichnet keine Thätigkeit meiner, wodurch ich auf diese Dinge einwirke, sondern nur meine Aufnahme der Vorstellungen von Licht, Rundung und Hitze, wobei ich mich nicht thätig, sondern nur leidend verhalte und bei der Stellung meiner Augen oder meines Körpers diese Vorstellung in mich aufnehmen muss. Wende ich aber meine Augen anders wohin oder gehe ich aus den Strahlen der Sonne, so bin Ich wahrhaft thätig, weil ich mich nach meiner eigenen Wahl, durch meine innere Kraft in Bewegung setze. Solche Bewegung ist die Wirkung einer thätigen Kraft.

§ 73. Somit habe ich in kurzer Darstellung eine Uebersicht unserer ursprünglichen Vorstellungen gegeben, aus denen alle übrigen sich ableiten und bilden. Wollte ich dies als Philosoph in Betracht nehmen und die bestimmenden Ursachen so wie das erforschen, woraus die übrigen gebildet werden, so würden sie sich leicht auf nur wenige ursprüngliche zurückführen lassen. Diese sind: Ausdehnung, Dichtheit und Beweglichkeit oder das Vermögen, bewegt zu werden; diese empfängt man durch die Sinne von den Körpern; ferner: Auffassung oder die Kraft aufzufassen und zu denken; Bewegung oder die Kraft zu bewegen, die man durch die Selbstwahrnehmung der Seele empfängt. Man gestatte mir diese zwei neuen Worte, um jedes Missverständniss in Gebrauch anderer zweideutigen zu vermeiden. Fügt man noch das Dasein, die Dauer und die Zahl hinzu, welche beiden Arten des Wahrnehmens angehören, so hat man vielleicht die sämmtlichen Urvorstellungen, von welchen die übrigen sich ableiten; denn aus denselben dürfte die Natur der Farben, Töne, Geschmäcke und Gerüche und aller andern Vorstellungen erklärt werden können, wenn unsere Vermögen scharf genug wären, um die verschiedenen Ausdehnungen und Bewegungen der kleinsten Körper zu bemerken, welche diese Empfindungen in uns hervorbringen. Allein meine Absicht geht nur auf die Untersuchung des Wissens, was die Seele von den Dingen durch diejenigen Vorstellungen und Erscheinungen[301] hat, wozu Gott sie befähigt hat, und auf die Art, wie die Seele zu diesem Wissen gelangt; aber nicht auf deren Ursachen und die Weise ihrer Entstehung. Deshalb werde ich nicht gegen diese meine Absicht mich auf die philosophische Untersuchung der besondern Verfassung der Körper und auf die Gestaltung ihrer Theile einlassen, durch welche sie die Vorstellungen ihrer sinnlichen Eigenschaften in uns hervorbringen. Ich gehe nicht weiter auf diese Ermittelung ein, vielmehr genügt zu meinem Zweck die Beobachtung, dass Gold und Saffran die Kraft haben, in uns die Vorstellung des Gelben und Schnee und Milch die Vorstellung des Weissen hervorzubringen. Diese kann man durch das Gesicht erlangen, ohne dass man das Gewebe der betreffenden Körper oder die besondere Gestalt und Bewegung der Theilchen prüft, welche durch ihr Zurückprallen diese besondern Empfindungen in uns bewirken; obgleich man, wenn man über die blossen Vorstellungen in der Seele hinaus die Ursachen derselben aufsucht, in den sinnlichen Gegenständen nichts Anderes, was diese verschiedenen Vorstellungen in uns erweckt, sich vorstellen kann, als die verschiedene Masse, Gestalt, Zahl, Gewebe und Bewegung ihrer nicht mehr wahrnehmbaren kleinsten Theile.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 246-302.
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Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
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