Zweiunddreissigstes Kapitel.
Von den wahren und falschen Vorstellungen

[409] § 1. (Die Wahrheit und der Irrthum gehören eigentlich nur Sätzen an.) Obgleich die Wahrheit und der Irrthum eigentlich nur den Sätzen zukommen, so werden doch oft auch Vorstellungen wahr oder falsch genannt (denn welche Worte würden nicht in einem[409] weitern Sinne und in einiger Abweichung von ihrer strengen und eigentlichen Bedeutung gebraucht?); obgleich in solchem Falle immer ein geheimer oder verschwiegener Satz den Grund zu solcher Benennung abgeben dürfte, wie die besondern Fälle, wo dies vorkommt, ergeben werden: weil alle Vorstellungen eine gewisse Bejahung oder Verneinung enthalten, welche diese Bezeichnung veranlasst. Denn die Vorstellungen sind nur Erscheinungen oder Auffassungen in der Seele, und können deshalb eigentlich und an sich nicht wahr oder falsch genannt werden, so wenig wie dies von dem Namen für ein Ding gesagt werden kann.

§ 2. (Die metaphysische Wahrheit enthält einen geheimen Satz.) In einem metaphysischen Sinne können allerdings Vorstellungen und Worte wahr genannt werden, wie man dies von allen vorhandenen Dingen sagen kann, d.h. dass sie wirklich so sind, wie sie sind. Indess ist selbst bei solchen Aassprüchen eine geheime Beziehung auf unsere Vorstellungen enthalten, die dann als der Maassstab dieser Wahrheit gelten, und so steckt in solchen Gedanken ein Satz, der allerdings in der Regel nicht beachtet wird.

§ 3. (Keine Vorstellung, als blosse Erscheinung in der Seele, ist wahr oder falsch.) Allein ich frage hier nicht in diesem metaphysischen Sinne nach der Wahrheit oder dem Irrthum der Vorstellungen, sondern in dem gewöhnlichen Sinne dieser Worte, und deshalb können die Vorstellungen als blosse Auffassungen oder Erscheinungen in der Seele nicht falsch sein. Die in der Seele auftretende Vorstellung von Centauren ist so wenig falsch, wie das Wort Centaur falsch ist, wenn es ausgesprochen oder auf Papier geschrieben wird. Die Wahrheit und der Irrthum liegen immer in einer Bejahung oder Verneinung, sei es in Gedanken oder Worten, und deshalb sind die Vorstellungen nicht eher falsch, als bis die Seele sie zu einem Urtheil benutzt, d.h. bis sie etwas damit verneint oder bejaht.

§ 4. (Die Vorstellungen werden wahr oder falsch, wenn sie auf einen Gegenstand bezogen werden.) Wird eine Vorstellung aber auf einen ihr äusserlichen Gegenstand bezogen, so kann sie dann wahr oder falsch genannt werden, da man dann bei[410] solcher Beziehung stillschweigend ihre Uebereinstimmung mit der Sache voraussetzt, und je nachdem diese Voraussetzung wahr oder falsch ist, werden auch die Vorstellungen so benannt. Die häufigsten Fälle dieser Art sind die folgenden:

§ 5. (Gewöhnlich werden die Vorstellungen auf die Vorstellungen Anderer, oder auf das wirkliche Sein oder auf das angenommene wirkliche Wesen bezogen.) Erstens: Wenn man annimmt, dass die eigene Vorstellung der in anderer Personen Seele bestehenden und ebenso genannten entspricht, wenn man z.B. will oder meint, dass die eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Mässigkeit, Religion dieselben seien wie die, welche Andere mit diesen Worten bezeichnen. Zweitens: Wenn man meint, dass eine Vorstellung, die man hat, einem daseienden Dinge entspreche. Nimmt man z.B. an, dass die Vorstellung von Mensch und von Centaur wirkliche Substanzen bezeichnen, so ist die eine wahr und die andere falsch, da die eine dem vorhandenen Gegenstande entspricht, und die andere nicht. Drittens: Wenn man eine seiner Vorstellungen auf die wirkliche Verfassung und Wesenheit eines Dinges bezieht, von der all seine Eigenschaften abhängen. Auf diese Weise sind der grösste Theil, wo nicht alle unsere Vorstellungen von Substanzen falsch.

§ 6. (Der Grund für solche Beziehungen.) Man neigt sehr zur stillschweigenden Annahme solcher Beziehungen der eigenen Vorstellungen; die nähere Prüfung ergiebt indess, dass dies hauptsächlich, wenn nicht ausschliesslich mit den zusammengesetzten begrifflichen Vorstellungen geschieht. Die Seele strebt von Natur nach Kenntnissen; da sie nun bemerkt, dass sie darin nur langsam vorwärts kommen, und ihre Arbeit kein Ende nehmen würde, wenn sie nur mit den einzelnen Dingen beginnen und dabei stehen bleiben wollte, so ist, um diesen Weg zum Erkennen abzukürzen und jede Auffassung umfassender zu machen, das Nächste, was sie thut, um ihre Kenntnisse leichter auszubreiten, sei es durch die Betrachtung der zu erkennenden Dinge selbst oder durch Vergleichung mit andern, dass sie dieselben in Bündel bindet und in Arten ordnet, damit das, was man von einigen weiss, mit Sicherheit auf alle dieser[411] Art ausgedehnt werden kann, und die Seele so in ihrem Geschäft der Erwerbung von Kenntnissen in grossen Schritten vorschreite. Deshalb sammelt man, wie ich anderwärts gezeigt habe, die Dinge unter zusammenfassende Vorstellungen, und giebt ihnen Kamen und sondert sie in genera und species, d.h. in Gattungen und Arten.

§ 7. Giebt man also aufmerksam auf die Bewegungen der Seele Acht, und beobachtet man den gewöhnlich eingeschlagenen Weg zur Erlangung von Kenntnissen, so wird man finden, dass, wenn die Seele eine Vorstellung gewonnen hat, die sie beim Nachdenken oder im Gespräch brauchen kann, das Erste, was sie thut, ist, sie zu verallgemeinern und ihr einen Namen zu geben; dann wird sie in das Vorrathshaus des Gedächtnisses gelegt, als enthielte sie das Wesen dieser Art von Dingen, was durch den Namen bezeichnet werde. Daher kommt es, dass, wenn Jemand etwas Neues sieht, was er nicht kennt, er gleich fragt, was es ist, womit er nur den Namen meint, als wenn dieser Name die Kenntniss der Art oder ihres Wesens mit sich führte, obgleich man allerdings ihn als das Zeichen davon und allgemein als damit verbunden anzusehen pflegt.

§ 8. (Der Grund zu solchen Beziehungen.) Da indess die allgemeine Vorstellung in der Seele Etwas zwischen dem bestehenden Dinge und dem ihm gegebenen Namen ist, so beruht auf diesen Vorstellungen sowohl die Richtigkeit unserer Kenntnisse, wie die Angemessenheit und Verständlichkeit der Sprache. Deshalb sind die Menschen so zu der Annahme geneigt, dass die allgemeinen Vorstellungen in ihrer Seele den Dingen ausserhalb, auf die sie bezogen werden, entsprechen, und dass diese Vorstellungen dieselben sind, welche nach dem Gebrauch und der Eigenthümlichkeit der Sprache mit den Worten bezeichnet sind, die sie ihren Vorstellungen geben. Ohne diese zwiefache Uebereinstimmung ihrer Vorstellungen würden sie dieselben sowohl für inhaltslos wie im Gespräch mit Andern für unverständlich halten.

§ 9. (Einfache Vorstellungen können in Bezug auf andere desselben Namens falsch sein, allein sie sind dem am wenigsten ausgesetzt.) Ich sage also zunächst, dass, wenn die Wahrheit einer Vorstellung nach ihrer Uebereinstimmung mit den Vorstellungen[412] Anderer, die sie mit demselben Namen bezeichnen, beurtheilt wird, einzelne wohl falsch sein können. Indess sind die einfachen Vorstellungen diesem Irrthume am wenigsten ausgesetzt, da man sich durch die Sinne und die tägliche Beobachtung leicht über die einfachen Vorstellungen, die durch gebräuchliche Worte bezeichnet werden, vergewissern kann; denn ihre Zahl ist nicht gross, und Zweifel und Irrthümer können hier leicht durch die Gegenstände, an denen sie sich zeigen, beseitigt werden. Deshalb irrt man sich selten in den Namen der einfachen Vorstellungen, und nennt das Grüne nicht roth und das Bittere nicht süss. Noch weniger werden Worte für Vorstellungen verschiedener Sinne verwechselt, und keine Farbe durch einen Geschmack bezeichnet u.s.w. Hieraus erhellt, dass die mit einem Namen bezeichnete einfache Vorstellung in der Regel dieselbe ist, die auch Andere haben und beim Gebrauch dieses Namens meinen.

§ 10. (Die Vorstellungen von gemischten Zuständen sind noch am meisten in diesem Sinne falsch.) Zusammengesetzte Vorstellungen sind eher in diesem Sinne falsch, und die von gemischten Zuständen mehr als die von Substanzen; weil bei letztem (namentlich bei solchen, die mit bekannten, nicht geborgten Kamen bezeichnet werden) einzelne hervortretende sinnliche Eigenschaften, wodurch die eine Art sich von der andern unterscheidet, bei sorgfältigem Gebrauch der Worte vor Anwendung derselben auf Arten der Substanzen schützen, zu denen sie nicht gehören. Dagegen ist man bei den gemischten Zuständen viel unsicherer, weil bei Handlungen sich nicht so leicht bestimmen lässt, ob sie gerecht oder grausam, freigebig oder verschwenderisch zu nennen sind. Deshalb können diese Vorstellungen, wenn sie auf die, welche Andere unter demselben Namen haben, bezogen werden, falsch sein, und die Vorstellung, die Jemand mit Gerechtigkeit benennt, müsste vielleicht einen andern Namen erhalten.

§ 11. (Oder sie können wenigstens für falsch gehalten werden.) Mögen indess die Vorstellungen von gemischten Zuständen leichter wie andere von denen Anderer unter gleichen Samen abweichen oder nicht, so wird wenigstens diese Art der Unrichtigkeit gemeinhin diesen Vorstellungen von gemischten Zuständen mehr[413] zugeschrieben; denn wenn man die Vorstellungen, die Jemand von der Gerechtigkeit, oder Dankbarkeit oder von dem Ruhme hat, für falsch hält, so geschieht es nur, weil mit diesen Worten ein Anderer eine andere Vorstellung verbindet und jene damit nicht übereinstimmt.

§ 12. (Und weshalb?) Es wird dies daher kommen, dass die Begriffe gemischter Zustände von den Menschen aus einer Anzahl einfacher Vorstellungen beliebig gebildet werden; das Wesen jeder Art ist deshalb das Werk des Menschen, und der sinnliche Maassstab dafür ist nur der Name oder die Definition dieses Namens; so kann man die Vorstellungen gemischter Zustände an keinen andern Maassstab halten als an die Vorstellungen Derer, die deren Namen in ihrem richtigsten Sinne gebrauchen; je nachdem sie mit diesen stimmen oder nicht, gelten sie für wahr oder falsch. So viel über die Wahrheit und Unwahrheit der Vorstellungen in Bezug auf ihre Namen.

§ 13. (In Bezug auf wirklich vorhandene Dinge können nur die Vorstellungen von Substanzen falsch sein.) Wenn zweitens die Wahrheit oder Unwahrheit der Vorstellungen auf wirklich bestehende Dinge bezogen wird, und diese als Maassstab der Wahrheit dabei gelten, so können nur die Vorstellungen von Substanzen falsch genannt werden.

§ 14. (Erstens sind die einfachen Vorstellungen in diesem Sinne nicht falsch, und weshalb nicht?) Erstens sind die einfachen Vorstellungen nur solche Auffassungen, als wir, nach der Art, wie Gott uns geschaffen hat, empfangen, und wie die den äussern Gegenständen verliehenen Kräfte sie in uns auf den Wegen und nach den Gesetzen hervorbringen können, die der Weisheit und Güte Gottes entsprechen, wenn wir sie auch nicht fassen können. Deshalb besteht ihre Wahrheit nur in solchen in uns hervorgebrachten Erscheinungen, welche diesen Kräften entsprechen müssen, welche in die äussern Gegenstände gelegt sind, da sie sonst in uns nicht hervorgebracht werden könnten; indem sie also diesen Kräften entsprechen, sind sie, was sie sein sollen, d.h. wahre Vorstellungen. Auch unterliegen sie nicht dem Vorwurfe der Falschheit, wenn man (wie es meistentheils geschieht) diese Vorstellungen als in den Dingen[414] selbst enthalten annimmt. Denn Gott hat sie in seiner Weisheit als Zeichen des Unterschiedes in die Dinge gelegt, damit man sie von einander unterscheiden Könne, und so eintretenden Falls unter denselben für seine Zwecke wählen könne; deshalb ändert es nicht die Natur einer einfachen Vorstellung, ob man meint, die Vorstellung von Blau sei in dem Veilchen selbst oder blos in der Seele, und in dem Veilchen selbst sei nur die Kraft, dieselbe durch sein Gewebe, welches die Lichttheilchen in einer bestimmten Weise zurückwirft, hervorzubringen. Denn wenn das Gewebe eines Gegenstandes regelmässig und beständig dieselbe Vorstellung von Blau in der Seele hervorbringt, so kann man da durch den Gegenstand mittelst der Augen von andern Dingen unterscheiden, mag das entscheidende Zeichen, das wirklich in dem Veilchen besteht, nur ein besonderes Gewebe seiner Theile oder eine Farbe selbst sein, welcher die in der Seele befindliche Vorstellung genau gleicht, und – wenn sie wegen dieser Erscheinung Blau genannt wird, so ist es gleichviel, ob diese wirkliche Farbe oder nur ein besonderes Gewebe in dein Gegenstande diese Vorstellung erweckt, da das Wort Blau eigentlich nur das Erkennungszeichen bedeutet, was bei dem Veilchen nur durch die Augen wahrnehmbar ist. Denn was dabei eigentlich im Gegenstande enthalten ist, dies genau zu wissen, geht über unsere Kräfte, und würde uns vielleicht auch weniger nützen, selbst wenn man die Kräfte dazu hätte.

§ 15. (Wenn auch die Vorstellung von Blau bei dem einen Menschen von der bei dem andern verschieden sein sollte.) Auch würde man die einfachen Vorstellungen nicht deshalb für falsch halten können, wenn durch einen verschiedenen Bau der Organe derselbe Gegenstand in den Seelen verschiedener Menschen gleichzeitig verschiedene Vorstellungen hervorbrächte; wenn z.B. die bei dem Einen durch ein Veilchen hervorgebrachte Vorstellung der bei einem Andern durch eine gelbe Ringelblume hervorgebrachten gleich wäre, und umgekehrt. Denn dies kann niemals festgestellt werden; da die Seele des Einen nicht in den Leib des Andern eintreten kann, um zusehen, welche Vorstellungen durch dessen Organe hervorgebracht werden, und deshalb würden selbst in solchem Falle weder die Vorstellungen noch die Namen[415] verwechselt werden, oder Eines von Beiden falsch werden. Denn alle Gegenstände mit dem Gewebe eines Veilchens brächten dann die Vorstellung hervor, die er Blau nennte, und alle mit dem Gewebe einer Ringelblume die, welche er regelmässig Gelb nennte; welcher Art nun auch diese Vorstellungen in seiner Seele wären, so wäre er doch im Stande, dadurch die Dinge für seine Zwecke ebenso regelmässig zu unterscheiden, und diese Unterschiede zu erkennen und durch die Zeichen kennbar zu machen, welche die Worte Blau und Gelb gewähren, als wenn seine von diesen beiden Blumen empfangenen Vorstellungen genau dieselben mit denen des Andern wären. Indess möchte ich doch annehmen, dass die bei mehreren Menschen durch denselben Gegenstand hervorgebrachten Sinneswahrnehmungen wohl immer beinah gleich und nicht zu unterscheiden seien; dafür liessen sich viele Gründe anführen, indess gehört dies nicht zu meiner jetzigen Aufgabe, und ich will daher den Leser nicht damit belästigen, sondern ihn nur erinnern, dass die entgegengesetzte Annahme, selbst wenn man sie beweisen könnte, für die Vermehrung der Kenntnisse oder die Bequemlichkeiten des Lebens ohne Nutzen sein würde; deshalb braucht man sich damit nicht zu bemühen.

§ 16. (Erstens sind einfache Vorstellungen in diesem Sinne nicht falsch, und weshalb?) Aus dem über die einfachen Vorstellungen Gesagten ergiebt sich, dass von den einfachen Vorstellungen keine in Bezug auf die äusserlich vorhandenen Dinge falsch sein kann. Denn die Wahrheit dieser Vorstellungen besteht, wie gesagt, nur darin, dass sie den Kräften in den äusserlichen Gegenständen entsprechen, die solche Vorstellungen in uns hervorbringen können; und da jede, so wie sie in der Seele ist, der Kraft, die sie hervorgebracht hat, angemessen ist und nur diese darstellt, so kann sie in dieser Hinsicht oder auf solches Muster bezogen, nicht falsch sein. Blau und Gelb, Bitter und Süss können niemals falsche Vorstellungen sein; diese Auffassungen der Seele sind gerade so, wie sie es sind, und entsprechen den Kräften, die Gott zu deren Hervorbringung bestimmt hat; deshalb sind sie in Wahrheit das, was sie sind und sein sollen. Die Worte derselben können allerdings falsch gebraucht werden, allein dies macht die Vorstellungen[416] nicht falsch, z.B. wenn Jemand, der die Sprache nicht versteht, das Scharlach Purpurroth nennen sollte.

§ 17. (Zweitens sind die Zustände nicht falsch.) Zweitens können auch die zusammengesetzten Vorstellungen von Zuständen in Beziehung auf das Wesen der Dinge nicht falsch sein, weil solche Vorstellungen sich auf kein bestehendes und von der Natur gebildetes Muster beziehen; denn sie sollen keine Vorstellung weiter enthalten, als sie haben. Habe ich z.B. die Vorstellung von dem Benehmen eines Menschen, dass er sich solche Speisen, Getränke und Kleider versagt, die seine Vermögensverhältnisse gestatten und seine Stellung verlangt, so habe ich keine falsche Vorstellung, sondern sie stellt nur ein Handeln vor, wie ich es wahrnehme oder mir einbilde; deshalb ist sie weder falsch noch wahr. Wenn ich aber dieses Benehmen Mässigkeit oder Tugend nenne, so kann die Vorstellung falsch genannt werden, weil dann angenommen wird, dass sie mit der nach dem Sprachgebrauch mit diesen Worten bezeichneten Vorstellung stimme, und dass sie dem Gesetze entspreche, was den Maassstab für Tugend und Laster abgiebt.

§ 18. (Drittens wenn die Vorstellungen von Substanzen falsch sind.) Drittens können die zusammengesetzten Vorstellungen von Substanzen, weil sie sich alle auf vorhandene Dinge als Muster beziehen, falsch sein. Dass sie sämmtlich falsch seien, wenn man sie als die Darstellungen des unbekannten Wesens der Dinge nimmt, ist so offenbar, dass ich darüber nichts zu sagen brauche. Ich übergehe daher diese chimärische Meinung und betrachte sie als Zusammenfassungen einfacher Vorstellungen, die von Verbindungen solcher Bestimmungen, wie sie dauernd in den Dingen bestehen, entlehnt sind. Von diesen Mustern gelten sie als Abbilder, und in dieser ihrer Beziehung auf vorhandene Dinge sind sie falsch, und zwar: 1) wenn sie einfache Vorstellungen verbinden, die in den vorhandenen Dingen sich so nicht vereint vorfinden; wenn z.B. mit der Gestalt und Grösse eines Pferdes das Bellen eines Hundes verbunden wird; solche Verbindung dieser drei Vorstellungen besteht nirgends in der Natur, und man kann sie daher eine falsche Vorstellung von einem Pferde nennen. 2) sind Substanz-Vorstellungen in dieser Beziehung falsch, wenn von der[417] Verbindung einfacher Vorstellungen, die wirklich besteht, eine einzelne durch Verneinung abgetrennt wird, die regelmässig damit verbunden ist; wenn z.B. mit der Ausdehnung, Dichtheit, Schmelzbarkeit, dem Eigengewicht und der gelben Farbe des Goldes die Verneinung einer grössern Festigkeit als bei Blei und Kupfer in Gedanken verbunden wird, so kann diese Vorstellung ebenso falsch genannt werden, als wenn damit die Vorstellung einer völligen unbeschränkten Festigkeit verbunden wird; in beiden Fällen wird die Vorstellung des Goldes aus solchen zusammengesetzt, die in der Natur nicht vereint sind, und deshalb ist sie falsch. Lässt man dagegen die Vorstellung der Festigkeit bei dieser zusammengesetzten Vorstellung nur weg, verbindet sie also nicht und trennt sie nicht, so kann das Uebrige eher für eine unvollständige und nichtentsprechende Vorstellung, als für eine falsche gelten; denn sie enthält zwar nicht alle in der Natur verbundenen Vorstellungen, aber doch auch keine, die nicht wirklich zusammen beständen.

§ 19. (Die Wahrheit und der Irrthum setzen immer eine Bejahung oder Verneinung voraus.) Ich habe dem Sprachgebrauch nachgegeben und gezeigt, in welchem Sinne und aus welchem Grunde die Vorstellungen mitunter wahr und falsch genannt werden; sieht man sich jedoch diese Fälle genauer an, so kommen sie von einem Urtheile, was man macht oder vermeintlich macht, und was wahr oder falsch ist, da die Wahrheit und der Irrthum immer eine ausdrückliche oder stillschweigende Bejahung oder Verneinung befassen, und mithin nur da anzutreffen sind, wo Zeichen so verbunden werden, wie es den damit bezeichneten Dingen entspricht oder widerstreitet. Die hauptsächlich angewendeten Zeichen sind entweder Vorstellungen oder Worte, mittelst deren man in Gedanken oder im Sprechen Sätze bildet. Die Wahrheit ist da vorhanden, wo diese Zeichen so verbunden oder getrennt werden, wie die Dinge, die sie bezeichnen, es selbst sind; der Irrthum liegt in dem Gegentheile, wie später ausführlich gezeigt werden soll.

§ 20. (Die Vorstellungen an sich sind weder wahr noch falsch.) Eine Vorstellung, die mit einem vorhandenen Dinge oder mit der Vorstellung eines Andern stimmt oder nicht stimmt, kann daher deshalb[418] allein nicht eigentlich falsch genannt werden; denn wenn diese Vorstellungen nur das in den äussern Dingen Bestehende enthalten, so können nie nicht für falsch gelten, da sie doch Etwas genau wiedergeben, und selbst wenn sie in ihrem Inhalte etwas von den bestehenden Dingen abweichen, kann man sie keine falschen Darstellungen nennen oder als Vorstellungen von Dingen nehmen, die sie nicht darstellten. Vielmehr liegt der Irrthum und die Unrichtigkeit darin:

§ 21. (Aber sie gelten als falsch, 1) wenn sie der Vorstellung eines Andern entsprechend genommen werden, und es nicht sind.) Erstens dass die Seele, welche eine solche Vorstellung hat, sie für dieselbe erachtet und nimmt, die ein Anderer mit demselben Worte verbindet, oder dass sie dieselbe für übereinstimmend mit der gewöhnlichen Bedeutung oder Definition dieses Wortes hält, obgleich es nicht der Fall ist. Dieser Irrthum kommt bei den gemischten Zuständen am meisten vor, obgleich auch andere Vorstellungen ihm unterworfen sind.

§ 22. (2, wenn sie den bestehenden Dingen für entsprechend gehalten werden, und es nicht sind.) Zweitens dass die Seele eine zusammengesetzte Vorstellung aus einer solchen Zahl von einfachen Vorstellungen gebildet hat, wie sie die Natur nicht verbunden hat, und sie dennoch für übereinstimmend mit einer Art von wirklich bestehenden Dingen hält; z.B. wenn sie das Gewicht des Zinnes mit der Farbe, Schmelzbarkeit und Festigkeit des Goldes verbindet.

§ 23. (3, wenn sie für entsprechend gehalten wird, und es nicht ist.) Drittens, wenn die Seele in ihrer zusammengesetzten Vorstellung eine Anzahl einfacher Vorstellungen verbunden hat, die wirklich so verbanden in der Natur bestehen, aber andere, die auch untrennbar davon sind, weggelassen hat, und sie nun diese Vorstellung als die vollständige für eine Art/wirklich bestehender Dinge nimmt, obgleich sie es nicht ist; z.B. wenn sie die Vorstellungen von Substanz, von hell, hämmerbar, sehr schwer und schmelzbar verbindet, und diese Verbindung für die vollständige Vorstellung des Goldes hält, obgleich seine besondere Festigkeit und seine Auflösbarkeit[419] in Königswasser von jenen Eigenschaften ebenso untrennbar sind, wie jene von einander.

§ 24. (4, wenn sie für die Vorstellung des wirklichen Wesens gehalten wird.) Viertens ist der Irrthum noch grösser, wenn man meint, die zusammengesetzte Vorstellung enthalte das wirkliche Wesen eines bestehenden Dinges, obgleich sie nur einige seiner Eigenschaften enthält, die aus dessen wirklichem Wesen und seiner Beschaffenheit abfliessen. Ich sage: nur einige seiner Eigenschaften, da diese meist in thätigen und leidenden Vermögen in Bezug auf andere Dinge bestehen, und da die von dem betreffenden Körper bekannten Vermögen nur ein Theil von denen sind, die ein Mensch, der den Körper vielfach geprüft und untersucht hat, kennt, und da selbst alle Vermögen, die der erfahrenste Mensch davon kennt, doch nur eine kleine Zahl von denen wirklich in dem Körper bestehenden und aus seiner innern und wesentlichen Verfassung abfliessenden Kräften sind, Das Wesen eines Dreiecks liegt in einem beschränkten Gebiete und besteht aus wenig Vorstellungen; drei einen Raum einschliessende gerade Linien machen sein Wesen aus, und doch sind der daraus abfliessenden Eigenschaften so viele, dass sie nicht sämmtlich erkannt und hergezählt werden können. So mag auch bei Substanzen ihr wirkliches Wesen nur ein beschränktes Gebiet befassen, obgleich die daraus hervorgehenden Eigenschaften zahllos sind.

§ 25. (Wenn die Vorstellungen falsch sind.) Fasse ich also Alles zusammen, so hat der Mensch von den äussern Dingen nur Begriffe durch die Vorstellungen in seiner Seele (die er beliebig nennen kann), und er kann allerdings Vorstellungen bilden, die weder mit dem Wesen der Dinge noch mit den mit dem Worte verbundenen gebräuchlichen Vorstellungen überein stimmen; aber er kann Keine falsche Vorstellung eines Dinges bilden, das ihm nur durch seine Vorstellung bekannt ist. Wenn ich z.B. eine Vorstellung von den Beinen, Armen und dem Körper eines Menschen bilde, und damit einen Pferdekopf und Hals verbinde, so mache ich keine falsche Vorstellung von Etwas, weil sie überhaupt Nichts ausserhalb meiner Seele vorstellt; nenne ich sie aber einen Menschen oder einen Tartaren, und meine ich, dass ich damit ein ausser[420] mir bestehendes Ding vorstelle, oder dass diese Vorstellung mit der von Andern mit diesem Wort verbundenen übereinstimme, so irre ich in beiden Fällen. Aus diesem Grunde wird die Vorstellung falsch genannt, obgleich in Wahrheit das Falsche nicht in ihr liegt, sondern in dem innerlichen Satze, welcher ihr eine Uebereinstimmung oder Aehnlichkeit zutheilt, die sie nicht hat. Wenn ich aber von einer solchen Vorstellung weder annehme, dass ihr ein Daseiendes entspreche, noch dass ihr der Name Mensch oder Tartar zukomme, und ich sie nur so nenne, so kann meine Benennung phantastisch genannt werden, aber mein Urtheil ist nicht irrig, und die Vorstellung ist nicht falsch.

§ 26. (Vorstellungen werden besser richtig oder unrichtig genannt.) Ueberhaupt glaube ich, dass Vorstellungen in Beziehung entweder auf die eigentliche Bedeutung ihres Namens oder auf die Wirklichkeit der Dinge am passendsten richtige oder unrichtige Vorstellungen zu nennen sind, je nachdem sie mit ihren Mustern, auf die sie bezogen werden, übereinstimmen oder nicht. Will Jemand sie aber wahr oder falsch nennen, so mag er es thun, da Jedem freisteht, die Dinge mit den Worten zu benennen, die er für die besten hält; allein der Natur der Sprache nach werden diese Ausdrücke kaum passend sein, da sie in dieser oder jener Weise einen innern Satz enthalten. Die Vorstellungen in der Seele können an sich nicht falsch sein; die zusammengesetzten ausgenommen, welche unverträgliche Eigenschaften vereinen. Alle andern Vorstellungen sind an sich richtig, und das Wissen von ihnen ist ein richtiges und wahres Wissen; nur wenn man sie auf Etwas als ihr Muster und Vorbild bezieht, können sie unrichtig werden, soweit sie mit diesem Vorbilde nicht übereinstimmen.[421]

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 409-422.
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Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
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