Das Unendliche

[55] Doch nachdem ich gelehrt, daß des Urstoffs dichteste Körper

Ununterbrochen und unzerstört durch die Ewigkeit fliegen,

Laß mich entwickeln nunmehr, ob die Summe derselben begrenzt ist[55]

Oder auch nicht, ob weiter das Leere, das oben wir fanden,

Und der Raum und der Ort, in dem sich die Dinge bewegen,

Aller Wege und völlig nach allen Seiten begrenzt ist

Oder sich endlos weitet in unergründliche Tiefe!

Hiernach hat alles, was ist, nach keinerlei Richtungen irgend

Welche Begrenzung. Es müßte ja dann auch ein Äußerstes haben;

Aber ein Äußerstes gibt es nur dann, wenn irgendein Körper

Jenseits, der es begrenzt, vorhanden ist. Aber man sieht schon

Hiernach den Punkt, wo weiter das Wesen der Sinne nicht zureicht.

Weiter nun muß man gestehn, daß es nichts gibt außer dem Weltall;

So gibt's auch kein Äußerstes hier, kein Maß und kein Ende,

Auch ist's einerlei für den Raum, wohin du dich stellest.

Denn von dem Ort, wo gerade sich jeder befindet, erstreckt sich

Überallhin gleichweit das unendliche All in die Runde.

Denkst du nun aber begrenzt den ganzen vorhandenen Weltraum

Und du vermöchtest zum letzten und äußersten Ende des Weltalls

Vorzudringen und dort die beflügelte Lanze zu schleudern,

Willst du da lieber behaupten, mit kräftigem Schwünge geschleudert

Fliege sie weiter nun fort nach dem einmal gegebenen Zielpunkt,

Oder vermeinst du, daß irgendein Halt sie zu hemmen vermöge?

Denn eins oder das andre verbleibt dir nur zuzugestehen.

Jedes von beiden verschließt dir den Ausweg. Also das All muß

(Dies ist der zwingende Schluß) ohn' Ende sich weiter erstrecken.

Denn mag irgendein Halt die beflügelte Lanze verhindern,

Bis an das Ziel zu gelangen und dort am Ende zu ruhen,

Oder fliegt sie so fort: nie nahm sie vom Ende den Ausflug.

So verfolg' ich dich stets, und wo du auch immer das Ende

Setzest der Welt, da frag' ich: was soll aus der Lanze nun werden?

Also folgt: in dem All ist nirgends ein Ende zu finden,

Und da Raum ist zur Flucht, so erweitert sich immer der Fluchtweg.

Wäre nun außerdem die gesamte Masse des Weltraums

Ringsumher umschlossen von festverrammelten Schranken

Und so endlich begrenzt, dann wäre die Masse des Stoffes

Überallher durch ihr schweres Gewicht in die Tiefe gesunken,

Und nichts könnte geschehn hier unter dem Dache des Himmels,

Ja es fehlte sogar mit dem Himmel die strahlende Sonne.

Denn zusammengeklumpt lag' unten der sämtliche Weltstoff,

Wo er sich niedergeschlagen seit unermeßlichen Zeiten.

Doch nun gibts in der Tat für die Körper der Urelemente

Nirgends ein Ausruhn. Gibt es doch nirgends ein völliges Unten.[56]

Wo sie sich könnten vereinen und festere Sitze gewinnen.

Alles regt sich und rühret sich stets in beständ'ger Bewegung

Überallher, ja es schnellen von unten die Körper des Urstoffs

Aus dem unendlichen Räume hervor und ersetzen die Lücken,

Endlich liegt doch vor Augen, wie eins von dem ändern begrenzt wird.

Luft grenzt ab das Gebirge, und Berg grenzt wieder die Luft ab,

Land grenzt ab sich vom Meer, und das Meer grenzt wieder das Land ab.

Aber das Weltall freilich, da gibts nichts, was es umschlösse,

Also das Wesen des Raums und die gähnende Tiefe des Leeren

Dehnt sich so weit, daß der funkelnde Blitz, selbst wenn er im Fallen

Ewige Zeiten gebrauchte, doch niemals käme zum Ende,

Daß er sogar nicht einmal die noch übrige Strecke verkürzte,

So unendlich erstreckt sich die unermeßliche Weite,

Welche den Dingen den Raum nach jeglicher Seite gewähret.

Weiterhin hält die Natur das Verbot: die Gesamtheit der Dinge

Darf sich nicht selber die Schranken errichten; sie läßt drum den Körper

Sich durch das Leere begrenzen und wieder das Leere durch jenen.

So ist wechselseitig Unendlichkeit allem verbürget.

Oder wenn eins von den beiden Prinzipien Schranken erhielte,

Würde das andre durch seine Natur sich schrankenlos weiten.

[Denn wenn beispielsweise das Leere im Raums beschränkt ist,

Kann es nicht in sich fassen unendliche Stoffelemente;

Wären diese hingegen beschränkt und das Leere unendlich,]

Würden nicht Meer, nicht Land, nicht das leuchtende Himmelsgewölbe,

Weder das Menschengeschlecht noch die heiligen Leiber der Götter

Auch nur ein winziges Weilchen das Leben zu fristen vermögen.

Denn dann würde die Masse des Stoffs aus dem eignen Verbande

Ausgetrieben sich frei im unendlichen Leeren zerstreuen,

Oder vielmehr sie könnte ja gar nicht sich sammeln und etwas

Schaffen, dieweil das Zerstreute sich nimmer vereinigen ließe,

Denn nicht mit Absicht haben die Urelemente der Dinge

Jedes der Reihe gemäß sich zusammengeordnet mit Spürsinn

Oder durch einen Vertrag die Bewegungen sämtlich vereinbart,

Sondern da viele von ihnen auf vielerlei Weise sich ändernd

Aus dem Unendlichen schwirren, wenn Stöße sie jagen, durch's All hin,

Kommen sie, allerlei Art der Bewegung und Bindung versuchend,

Endlich dabei wohl auch zu solchen Gestaltungen, wie sie

Unser bestehendes All zu seiner Erschaffung bedurfte;[57]

Und nachdem es einmal in die rechte Bewegung geraten,

Hielt es sich auch im Gang in unzähligen Weltperioden,

Und sorgt stets, daß das gierige Meer mit reichlichem Zustrom

Aus den Gewässern der Flüsse gespeist wird, daß auch die Erde

Sonnenwärme belebt und die neu entsproßnen Geschöpfe

Stetig gedeihn, und des Äthers umkreisende Feuer nicht ausgehn,

All dies wäre nicht möglich, wofern nicht reichlicher Urstoff

Aus dem unendlichen Raum sich könnte beständig erheben,

Um die erlittnen Verluste zur richtigen Zeit zu ersetzen.

Denn wie der Speise beraubt die Natur der beseelten Geschöpfe

Schwindet dahin und den Körper verliert, so müßte auch alles

Übrige schnell zerstieben, sobald sich der Stoff ihm versagte,

Weil ihn irgendein Hemmnis vom richtigen Wege gelenket.

Auch der Stöße Gewalt, die von außen her überall eindringt,

Kann nicht ganz jedwede Atomenvereinigung retten.

Denn sie können wohl häufig ein Teilchen verfest'gen und halten,

Bis noch andere kommen und dadurch dem Ganzen Ersatz wird;

Doch sie müssen zuweilen auch rückwärts weichen und hierdurch

Raum und Zeit zur Flucht darbieten den Stoffelementen,

Die dann frei von Verbindungszwang sich zu tummeln vermögen.

Drum muß immer von neuem so vieles erstehn zum Ersatze.

Aber damit es nun doch auch an Stößen nicht selber noch fehle,

Braucht man von überallher unendliche Fülle des Urstoffs.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 55-58.
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