Seelenaffekte

[104] Wärme entfaltet der Geist, wenn die Flamme des Zorns in ihm lodert

Und die Glut der Empörung ihm heftiger blitzt aus den Augen,

Während zumeist der Genösse der Furcht, der erkältende Windhauch,

Schauder erregt in den Gliedern und Schultern in allen Gelenken;

Endlich die Luft wirkt jene beruhigte Seelenverfassung,

Die sich im heiteren Blick und im Frieden des Herzens bekundet.

Doch mehr Wärme besitzen die heftigen Temperamente,

Deren erregbares Herz gar leicht im Zorne emporwallt.

So ist vor allem geartet der grimmig wütende Löwe,

Dessen Gebrüll und Gestöhn die Brust ihm droht zu zersprengen,[104]

Da sein Herz nicht vermag die Fluten des Zornes zu fassen.

Doch in der Seele des Hirsches regiert die Kälte des Windes;

Der bringt schnell den erkältenden Hauch in dem Leibe zur Herrschaft,

Wo er ein Zittern und Beben in sämtlichen Gliedern hervorruft.

Doch in des Ochsen Natur herrscht mehr die ruhige Luft vor,

Nie erregt ihn zu stark des Zorns aufsprühende Fackel

Und verbreitet in ihm die Schatten verdüsternden Qualmes;

Doch auch die eisigen Pfeile des Schreckens bewirken kein Starrsein:

Seine Natur liegt zwischen dem grausamen Leu und dem Hirsche.

So steht's auch mit dem Menschengeschlecht. Denn wenn auch die Bildung

Einzelne gleich abschleift, so läßt sie bei jedem doch Spuren

Seiner ureignen Natur in seinem Geiste bestehen.

Niemals lassen sich Laster so ganz mit den Wurzeln entfernen:

Stets wird dieser geneigter zu heftigem Zorne sich zeigen,

Jener wird allzurasch von der Angst ergriffen, ein Dritter

Endlich läßt sich mitunter zuviel von den ändern gefallen.

Auch sonst müssen sich vielfach der Menschen verschiedne Naturen

Mannigfach unterscheiden wie ihre entsprechenden Sitten;

Doch die verborgenen Gründe dafür kann jetzt ich nicht sagen,

Noch die Benennungen finden für alle die mancherlei Formen

Jener Atome, die diese Verschiedenheit geben den Dingen.

Nur dies glaub' ich dabei als sicher vertreten zu können,

Daß es nur wenige Reste des angeborenen Wesens

Gibt, die sich nicht durch Vernunft vollständig beseitigen ließen.

So steht nichts uns im Wege, ein göttliches Leben zu führen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 104-105.
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