Über Wille und Aufmerksamkeit

[152] Viel ist auf diesem Gebiet noch zu fragen und viel noch zu klären,

Wenn wir dieses Problem vollständig erledigen wollen.

Da ist die wichtigste Frage: Weshalb denkt unser Verstand just

Das alsbald, was zu denken ihm grade die Lust ist gekommen?

Schauen die Bilder vielleicht auf unseren Willen und stellt sich[152]

Uns, wenn wir wollen, sofort das entsprechende Bild zur Verfügung?

Mag sich der Wunsch auf das Meer, auf die Erde, den Himmel uns richten,

Oder Versammlung des Volks, Aufzüge, Bankette und Schlachten,

Schafft das etwa aufs Wort die Natur und liefert uns alles?

Aber es denkt doch der Geist an der nämlichen Stelle und Gegend

Bei verschiednen Personen auch ganz verschiedene Dinge.

Sehen wir ferner im Takt die Bilder des Traumes marschieren.

Sehn wir sie wie im Tanz die gelenkigen Glieder bewegen,

Wenn sie gelenkig die Arme zur Wechselbewegung erheben

Und das Spiel mit dem Fuße dazu harmonisch begleiten,

Sind da die Bildet nicht gar kunststrotzende Tanzvirtuosen,

Daß sie zur nächtlichen Zeit so zierlich zu spielen imstand sind?

Oder ist folgender Grund wohl richtiger? Weil in dem einen

Zeitraum, wo wir empfinden, das heißt wo ein Wörtchen wir sprechen,

Viele Momente versteckt sind, die nur die Berechnung ermittelt,

Daher kommt's, daß in jedem Moment und von jeglicher Art uns

Bilder an jeglichem Orte bereit zur Verfügung sich stellen.

So beweglich und zahlreich erscheint uns die Menge der Dinge.

Denn wenn das frühere Bild uns verschwand und ein neues mit andrer

Stellung entstand, so scheint uns das erste die Haltung zu ändern.

Da sie nun ferner so zart sind, erscheinen dem Geiste genau nur

Die, worauf er sich spannt; drum schwinden ihm sämtliche Bilder

Außer denen, auf die er sich selber schon innerlich einstellt:

Darauf stellt er nun für der sich ein in der Hoffnung, die Bilder,

Die aus jeglichem Dinge sich bilden, zu sehn: so geschieht's auch.

Siehst du nicht auch, wie das Auge sich spannt und den Willen darauf lenkt,

Wenn es begonnen den Blick auf zarte Gebilde zu richten?

Ohn' ein solches Bemühn ist deutliches Sehen nicht möglich.

Kann man doch selbst erfahren, daß deutlich erkennbare Dinge,

Wenn sie der Geist nicht beachtet, so gut wie dem Blicke entrückt sind

Während der ganzen Zeit und in weiteste Ferne verschlagen.

Weshalb soll es nun wunderbar sein, daß dem Geiste das andre

Alles verloren geht, nur das nicht, worauf er sich einstellt?

Ferner fügen wir oft den kleinsten Erscheinungen größte

Wahnvorstellungen zu und verstricken uns selbst so in Täuschung.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 152-153.
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