Beständiger Zu- und Abfluß der Bilderfilme

[133] Doch jetzt höre, wie leicht und wie rasch sich die Bilder entwickeln

Und wie beständig ihr Strom von den Dingen herfließt und sich ablöst,

[Daß du nicht etwa beginnst an unserer Lehre zweifeln.]

Immer ist reichlicher Stoff an der Oberfläche der Dinge,

Den sie entsenden können, vorhanden. Und trifft er auf andre

Dinge, so geht er hindurch, wie durch Schleier; doch trifft er auf Rauhes,

Etwa auf Felsstein oder auf Holz: dann spaltet der Strom sich,

Und so kann sich dabei kein richtiges Abbild ergeben;

Stellt sich jedoch ein glänzender Stoff, der dicht ist, entgegen,

Wie man besonders beim Spiegel es sieht, dann zeigt sich was andres:

Weder vermögen die Bilder hindurchzugehn wie durch Schleier

Noch sich zu spalten; denn davor bewahrt sie die Glätte der Fläche.

So kommt's, daß uns der Spiegel die Bilder in Fülle zurückwirft.

Stellst du auch jeden Moment ein andres beliebiges Ding hin,

Immer erscheint dir sogleich auf der spiegelnden Fläche das Abbild.[133]

So erkennst du, daß ständig ein Strom von dünnen Geweben

Und von dünnen Figuren der Oberfläche entquelle;

Also entstehn in kürzester Frist so zahllose Bilder,

Daß man wohl hier von schneller Geburt zu sprechen ein Recht hat.

Und wie in kürzester Frist die Sonne unzählige Strahlen

Ausschickt, daß sich beständig die Welt mit dem Lichte erfülle,

Also müssen der Bilder unzählige ähnlich sich lösen

Von den verschiedensten Dingen und in der verschiedensten Weise

Und nach jeglicher Richtung in einem Moment sich bewegen.

Stellen wir nämlich den Spiegel beliebigen Räumen entgegen,

Wirft er die Dinge zurück mit ähnlichen Formen und Farben.


Ferner, wenn eben noch herrschte die heiterste Himmelsbläue,

Bricht oft plötzlich herein so scheußlich stürmisches Wetter,

Daß man vermeint, aus dem Acheron sei die Finsternis alle

Aufgestiegen und fülle die riesigen Himmelsgewölbe.

So schlimm droht uns von oben ein schwärzliches Schreckensgesichte,

Wenn sich des Regengewölks abscheuliche Nacht hat erhoben.

Welch ein winziger Teil nun von diesen Dingen das Bild sei,

Das kann niemand uns sagen noch auch mit Zahlen erklären.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 133-134.
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