Sonnenwende. Mondbahn

[187] Auch hierüber vermißt man die einfache, wahre Erklärung,

Weshalb im Winter die Sonne, sobald sie die Sommerbezirke

Hinter sich läßt, zu der Wende des Steinbocks geht und von da aus

Wieder zum Ruhpunkt kehrt, zu der Sonnenwende des Krebses,

Und warum denn der Mond durch die nämlichen Strecken im Monat

Läuft, zu welcher die Sonne in ihrer Bewegung ein Jahr braucht.

Hierfür, sag' ich, vermißt man ein einfaches Wort der Erklärung.

Möglich ist zwar vor allen den ändern die alte Erklärung,

Die Demokrit einst gab, ein Mann von geheiligtem Ansehn.

Nämlich er sagt: Je näher Gestirne der Erde sich hielten,

Desto weniger könne der himmlische Wirbel sie fassen,

Dessen Schnelle nach unten zu schwinden beginne und dessen

Kräftige Wirkung sich mindre. Drum komme allmählich die Sonne

Gegen die letzten Gestirne der Tierkreisbahn in den Rückstand,

Da sie viel niedriger läuft als die heißen Gestirne der Höhe.

Aber der Mond noch mehr; je tiefer sein Lauf sich hinabsenkt

Fern von dem Himmelsgewölbe und weiter der Erde sich nähert,

Um so weniger kann er die Sterne erreichen im Wettlaut.

Ferner je matter die Kraft, mit der er die eigene Kreisbahn

Unter der Sonne verfolgt, um so schneller erreichen ihn ringsum

Sämtliche Tierkreiszeichen und eilen am Monde vorüber.

Deshalb gewinnt es den Schein, als ob er zu diesen Gestirnen

Rascher zurück sich bewege, weil diese ihn wieder erreichen.

Möglich ist auch die Erklärung, es wechsle ein doppelter Luftstrom

Ab in geregelter Zeit aus entgegengesetzten Bezirken,

Welcher die Sonne vermag aus den Tierkreiszeichen des Sommers

Bis zu der Winterwende und eisigen Kälte zu treiben

Und sie dann wieder zurück von dem eisigen Schatten des Frostes

Bis zu dem Sommerbezirk und den heißen Gestirnen zu führen.

Ähnlich darf man sich denken, der Mond und jene Planeten,

Die in längeren Jahren die längeren Bahnen vollenden,[187]

Könnten im Wechselstrome der Luft vollenden den Kreislauf.

Siehst du nicht schon bei den Wolken die oberen Schichten den untern

Oft mit verschiedenem Wind entgegengesetzt sich bewegen?

Wie vermöchten nicht auch in des Äthers gewaltigen Bahnen

Jene Gestirne zu ziehen von Wechselströmen getrieben?

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 187-188.
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