Vorwort

[5] Ohne im geringsten Philosoph zu sein oder auch nur heißen zu wollen, hat der Naturforscher ein starkes Bedürfnis, die Vorgänge zu durchschauen, durch welche er seine Kenntnisse erwirbt und erweitert. Der nächstliegende Weg hierzu ist, das Wachstum der Erkenntnis im eigenen Gebiet und in den ihm leichter zugänglichen Nachbargebieten aufmerksam zu betrachten, und vor allem die einzelnen den Forscher leitenden Motive zu erspähen. Diese müssen ja ihm, welcher den Problemen so nahe gestanden, die Spannung vor der Lösung und die Entlastung nach derselben so oft miterlebt hat, leichter als einem andern sichtbar sein. Das Systematisieren und Schematisieren wird ihm, der fast an jeder größeren Problemlösung immer noch Neues erblickt, schwerer, erscheint ihm immer noch verfrüht, und er überläßt es gern den darin geübteren Philosophen. Der Naturforscher kann zufrieden sein, wenn er die bewußte psychische Tätigkeit des Forschers als eine methodisch geklärte, verschärfte und verfeinerte Abart der instinktiven Tätigkeit der Tiere und Menschen wiedererkennt, die im Natur- und Kulturleben täglich geübt wird.

Die Arbeit der Schematisierung und Ordnung der methodologischen Kenntnisse, wenn sie im geeigneten Entwicklungsstadium des Wissens und in zureichender Weise ausgeführt wird, dürfen wir nicht unterschätzen.1 Es ist aber zu betonen, daß[5] die Übung im Forschen, sofern sie überhaupt erworben werden kann, viel mehr gefördert wird durch einzelne lebendige Beispiele, als durch abgeblaßte abstrakte Formeln, welche doch wieder nur durch Beispiele konkreten, verständlichen Inhalt gewinnen. Deshalb waren es auch besonders Naturforscher, wie Kopernikus, Gilbert, Kepler, Galilei, Huygens, Newton, unter den neueren J. F. W. Herschel, Faraday, Whewell, Maxwell, Jevons u. a., welche dem Jünger der Naturforschung mit ihren Anleitungen wirkliche Dienste geleistet haben. Hochverdienten Männern, wie J. F. Fries und E. F. Apelt, denen manche Teile der naturwissenschaftlichen Methodik so ausgiebige Förderung verdanken, ist es nicht gelungen, sich von vorgefaßten philosophischen Ansichten ganz zu befreien. Diese Philosophen, wie selbst der Naturforscher Whewell, sind durch ihre Anhänglichkeit an Kantsche Gedanken zu recht wunderlichen Auffassungen sehr einfacher naturwissenschaftlicher Fragen gedrängt worden. Die folgenden Blätter werden darauf zurückkommen. Unter den älteren deutschen Philosophen ist vielleicht nur F. E. Beneke als derjenige zu nennen, welcher sich von solchen vorgefaßten Meinungen ganz frei zu machen wußte. Rückhaltlos bekennt er seine Dankesschuld an die englischen Naturforscher.

Im Winter 1895/96 hielt ich eine Vorlesung über »Psychologie und Logik der Forschung«, in welcher ich den Versuch machte, die Psychologie der Forschung nach Möglichkeit auf autochthone Gedanken der Naturwissenschaft zurückzuführen. Die vorliegenden Blätter enthalten im wesentlichen eine Auswahl des dort behandelten Stoffes in freier Bearbeitung. Ich hoffe hiermit jüngeren Fachgenossen, insbesondere Physikern, manche Anregung zu weiteren Gedanken zu bringen, und dieselben zugleich auf von ihnen wenig kultivierte Nachbargebiete hinzuweisen, deren Beachtung doch jedem Forscher über das eigene Denken reiche Aufklärung bietet.

Die Durchführung wird natürlich mit mancherlei Mängeln behaftet sein. Obgleich ich mich nämlich stets für die Nachbargebiete meines Spezialfaches und auch für Philosophie lebhaft interessierte, so konnte ich selbstverständlich manche dieser Gebiete, und so besonders das letztgenannte, doch nur als[6] Sonntagsjäger durchstreifen. Wenn ich hierbei das Glück hatte, mit meinem naturwissenschaftlichen Standpunkt namhaften Philosophen, wie Avenarius, Schuppe, Ziehen u. a., deren jüngeren Genossen Cornelius, Petzoldt, v. Schubert-Soldern u. a., auch einzelnen hervorragenden Naturforschern recht nahe zu kommen, so mußte ich mich hiermit von andern bedeutenden Philosophen, wie es die Natur der gegenwärtigen Philosophie notwendig mit sich bringt, wieder sehr entfernen.2 Ich muß mit Schuppe sagen: Das Land des Transscendenten ist mir verschlossen. Und wenn ich noch das offene Bekenntnis hinzufüge, daß dessen Bewohner meine Wißbegierde gar nicht zu reizen vermögen, so kann man die weite Kluft ermessen, welche zwischen vielen Philosophen und mir besteht. Ich habe schon deshalb ausdrücklich erklärt, daß ich gar kein Philosoph, sondern nur Naturforscher bin. Wenn man mich trotzdem zuweilen, und in etwas lauter Weise, zu den ersteren gezählt hat, so bin ich hierfür nicht verantwortlich. Selbstverständlich will ich aber auch kein Naturforscher sein, der sich blind der Führung eines[7] einzelnen Philosophen anvertraut, so wie dies etwa ein Molièrescher Arzt von seinem Patienten erwartet und fordert.

Die Arbeit, welche ich im Interesse der naturwissenschaftlichen Methodologie und Erkenntnispsychologie auszuführen versucht habe, besteht in folgendem. Zunächst habe ich getrachtet, nicht etwa eine neue Philosophie in die Naturwissenschaft einzuführen, sondern eine alte abgestandene aus derselben zu entfernen, ein Bestreben, das übrigens auch von manchen Naturforschern recht übelgenommen wird. Unter den vielen Philosophemen, die im Laufe der Zeit aufgetreten sind, befinden sich nämlich manche, welche die Philosophen selbst als Irrtümer erkannt oder doch so durchsichtig dargelegt haben, daß sie von jedem Unbefangenen leicht als solche erkannt werden konnten. Diese haben sich in der Naturwissenschaft, wo sie einer weniger aufmerksamen Kritik begegneten, länger lebend gehalten, so wie eine wehrlose Tierspecies auf einer abgelegenen Insel von Feinden verschont bleibt. Solche Philosopheme, welche in der Naturwissenschaft nicht nur nutzlos sind, sondern schädliche müßige Pseudoprobleme erzeugen, haben wohl nichts Besseres verdient, als beseitigt zu werden. Habe ich damit etwas Gutes getan, so ist dies eigentlich das Verdienst der Philosophen. Sollten sie dieses von sich weisen, so wird die künftige Generation vielleicht gegen sie gerechter sein, als sie selbst es sein wollten. Ferner habe ich im Verlauf von mehr als 40 Jahren, als von keinem System befangener naiver Beobachter, im Laboratorium und Lehrsaal Gelegenheit gehabt, die Wege zu erschauen, auf welchen die Erkenntnis fortschreitet. Ich habe versucht, dieselben in verschiedenen Schriften darzulegen. Aber auch, was ich da erblickt habe, ist nicht mein ausschließliches Eigentum. Andere aufmerksame Forscher haben oft dasselbe oder sehr Naheliegendes wahrgenommen. Wäre die Aufmerksamkeit der Naturforscher nicht so sehr von den sich drängenden Einzelaufgaben der Forschung in Anspruch genommen gewesen, so daß manche methodologische Funde wieder in Vergessenheit geraten konnten, so müßte, was ich an Erkenntnispsychologie zu bieten vermag, seit langer Zeit schon in gesichertem Besitz der Naturforscher sich befinden. Eben darum glaube ich, daß meine Arbeit nicht verloren sein wird. Vielleicht erkennen sogar[8] die Philosophen einmal in meinem Unternehmen eine philosophische Läuterung der naturwissenschaftlichen Methodologie und kommen ihrerseits einen Schritt entgegen. Wenn dies aber auch nicht geschieht, hoffe ich doch den Naturforschern genützt zu haben.

Herr Dr. W. Pauli, Privatdocent für interne Medizin, hatte die besondere Freundlichkeit, eine Korrektur zu lesen, wofür ich ihm hiermit meinen herzlichen Dank ausspreche.


Wien, im Mai 1905.

D. V.[9]


Vorwort zur zweiten Auflage.

Der Text der zweiten Auflage unterscheidet sich nur unwesentlich von jenem der ersten. Zu eingreifender Umarbeitung fehlte sowohl die Zeit als der Anlaß. Manche kritische Bemerkungen wurden mir auch zu spät bekannt, um dieselben noch berücksichtigen zu können.

Verweisungen auf Schriften verwandten Inhalts, welche gleichzeitig mit oder unmittelbar nach der ersten Auflage dieses Buches erschienen sind, habe ich in Form von Anmerkungen hinzugefügt. Eine nähere Verwandtschaft meiner Grundansichten zu jenen Jerusalems offenbart sich durch dessen Buch »Der kritische Idealismus und die reine Logik« (1905); dieselbe ist wohl enger, als wir beide, auf verschiedenem spezialwissenschaftlichen Boden stehend, vorher annehmen konnten; sie dürfte auf die gemeinsame Anregung durch die Biologie, insbesondere durch die Entwicklungslehre zurückzuführen sein. Manche Berührungspunkte und reiche Anregung fand ich auch in Stöhrs origineller Arbeit »Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung« (1905). Sehr erfreut war ich durch Duhems Werk »La théorie physique, son objet et sa structure« (1906). So weit gehende Übereinstimmung hoffte ich bei Physikern noch nicht zu finden. Duhem weist jede metaphysische Auffassung physikalischer Fragen ab; er sieht in der begrifflich-ökonomischen Fixierung des Tatsächlichen das Ziel der Physik; er hält die historisch-genetische Darstellung der Theorien für die einzig richtige und didaktisch zweckmäßige. Das sind Ansichten, die ich in Bezug auf Physik seit reichlich drei Decennien vertrete. Die Übereinstimmung ist mir um so wertvoller, als Duhem ganz unabhängig zu denselben Ergebnissen gelangt ist. Während[10] ich aber, wenigstens in dem vorliegenden Buch, hauptsächlich die Verwandtschaft des vulgären und des wissenschaftlichen Denkens hervorhebe, beleuchtet Duhem besonders die Unterschiede des vulgären und des kritisch-physikalischen Beobachtens und Denkens, so daß ich sein Buch meinen Lesern als ergänzende und aufklärende Lektüre wärmstens empfehlen möchte. In dem Folgenden werde ich oft auf Duhems Äußerungen zu verweisen und nur selten, in untergeordneten Punkten, eine Meinungsdifferenz zu bemerken haben.

Herr Dr. James Moser, Privatdocent an der hiesigen Universität, hatte die besondere Freundlichkeit, eine Korrektur zu lesen, wofür ich ihm auch hier herzlich danke.


Wien, im April 1906.

D. V.


In Ausführung einer letzten Anordnung des am 19. Februar 1916 verschiedenen Autors wurde diese dritte Ausgabe nur nach den schriftlichen Vermerken im Handexemplare korrigiert, ergänzt und mit einem Anhang versehen, der auch eine Zusammenstellung der Zitate in alter und neuer Auflage enthält.


Haar bei München, März 1917.

L. M.[11]


1

Eine systematische Darstellung, welcher ich in allem Wesentlichen zustimmen kann, in welcher auch strittige psychologische Fragen, deren Entscheidung für die Erkenntnistheorie nicht dringend und nicht unbedingt nötig ist, sehr geschickt ausgeschaltet sind, gibt Prof. Dr. H. Kleinpeter (Die Erkenntnistheorie der Gegenwart. Leipzig, J. A. Barth, 1905).

2

In je einem Kapitel der »Mechanik« und der »Analyse« habe ich die mir bekannt gewordenen Einwendungen gegen meine Ansichten beantwortet. Hier muß ich nur einige Bemerkungen über Hönigswalds »Zur Kritik der Machschen Philosophie« (Berlin 1903) einfügen. Es gibt vor allem keine Machsche Philosophie, sondern höchstens eine naturwissenschaftliche Methodologie und Erkenntnispsychologie, und beide sind, wie alle naturwissenschaftlichen Theorien vorläufige, unvollkommene Versuche. Für eine Philosophie, die man mit Hilfe fremder Zutaten aus diesen konstruieren kann, bin ich nicht verantwortlich. Daß meine Ansichten mit den Kantschen Ergebnissen nicht stimmen können, mußte, bei der Verschiedenheit der Ansätze, die sogar einen gemeinsamen Boden für die Diskussion ausschließen (vgl. Kleinpeters »Erkenntnistheorie« und auch die vorliegende Schrift), für jeden Kantianer und auch für mich von vornherein feststehen. Ist denn aber die Kantsche Philosophie die alleinige unfehlbare Philosophie, daß es ihr zusteht, die Spezialwissenschaften zu warnen, daß sie ja nicht auf eigenem Gebiet, auf eigenen Wegen zu leisten versuchen, was sie selbst vor mehr als hundert Jahren denselben zwar versprochen, aber nicht geleistet hat? Ohne also im mindesten an der guten redlichen Absicht von Hönigswald zu zweifeln, glaube ich doch, daß eine Auseinandersetzung etwa mit den »Empiriokritikern« oder mit den »Immanenten«, mit welchen er doch noch mehr Berührungspunkte finden konnte, für ihn und andere bessere Früchte getragen hätte. Sind die Philosophen einmal untereinander einig, so wird die Verständigung mit den Naturforschern nicht mehr so schwer fallen.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917.
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