[183] 1. Der Mensch sammelt Erfahrungen durch Beobachtung der Veränderungen in seiner Umgebung. Die für ihn interessantesten und lehrreichsten Veränderungen sind jedoch jene, welche er durch sein Eingreifen, durch seine willkürlichen Bewegungen beeinflussen kann. Diesen gegenüber hat er nicht nötig, sich rein passiv zu verhalten, er kann sie aktiv seinen Bedürfnissen anpassen; dieselben haben für ihn auch die größte ökonomische, praktische und intellektuelle Wichtigkeit. Darin ist der Wert des Experimentes begründet.
Wenn wir beobachten, wie ein Kind, welches die erste Stufe der Selbständigkeit erreicht hat, die Empfindlichkeit seiner eigenen Glieder prüft, wie es von seinem Spiegelbilde, oder von seinem eigenen Schatten im hellen Sonnenschein befremdet, durch Bewegungen die Bedingungen desselben zu ermitteln sucht, wie es sich im Werfen nach einem Ziele übt; so müssen wir sagen, daß die instinktive Neigung zum Experimentieren dem Menschen angeboren ist, und daß er ebenso die Grundmethode des Experiments, die Methode der Variation, ohne viel nach derselben zu suchen, in sich vorfindet. Wenn diese Schätze dem Erwachsenen zeitweilig wieder abhanden kommen und sozusagen wieder neu entdeckt werden müssen, so wird dies dadurch verständlich, daß dieser meist für einen engeren Interessenkreis durch die Gesellschaft erzogen, in denselben gebannt ist und gleichzeitig eine Menge fertiger und vermeintlich über die Prüfung erhabener Ansichten, um nicht zu sagen Vorurteile, übernommen hat.
Der Intellekt kann beim Experimentieren in verschiedenem Grade beteiligt sein. Ich konnte dies beobachten, als ich vor[183] Jahren, von einer Lähmung der rechten Hand betroffen, vieles, was man sonst mit beiden Händen tut, mit einer Hand verrichten mußte, wenn ich nicht unausgesetzt von fremder Hilfe abhängig sein wollte. Indem ich die Bewegungen mit der Richtung auf ein bestimmtes Ziel, wohl auch planlos und ungestüm, variierte, befand ich mich bald ohne viel Nachdenken, nur durch Festhalten, Angewöhnen des Förderlichen, im Besitze einer Menge kleiner Erfindungen. So lernte ich das Aufschneiden der Bücher und anderes. Entschieden durch Nachdenken aber fand ich ein Verfahren mit Zirkel, Lineal und mit Hilfe eines Gewichtes, als Ersatz der zweiten Hand, geometrische Zeichnungen auszuführen, sowie alle jene Kunstgriffe, für welche die Bewegungen meiner Hand überhaupt nicht ausreichten. Es ist kaum zu zweifeln, daß die Grenze zwischen dem instinktiven und dem durch Denken geleiteten Experiment keine scharfe ist. Hauptsächlich Ergebnisse des ersteren sind wohl die meisten in die prähistorische Zeit zurückreichenden Erfindungen, welche, wie Spinnen, Flechten, Weben, Knotenschlingen u.s.w. den Eindruck des Tiefdurchdachten machen und als deren biologische Vorläufer wir den Nestbau der Vögel und Affen ansehen können. Dieselben rühren wahrscheinlich größtenteils von Frauen her, und sind vermutlich halb spielend gewonnen worden, indem das zufällig sich ergebende Vorteilhafte oder Gefällige erst nachträglich mit Absicht festgehalten wurde. Ist einmal ein Anfang gemacht, so führt Denken und Vergleichung leicht zu vollkommeneren Versuchen.241[184]
2. Das Experiment ist nicht ausschließliches Eigentum des Menschen. Man kann auch Experimente der Tiere beobachten, und zwar in verschiedenen Stufen der Entwicklung. Die ungestümen Bewegungen eines Hamsters, die den Deckel einer Büchse, in welcher er Futter wittert, bei aller Planlosigkeit endlich doch zum Fallen bringen, stellen wohl die roheste Stufe vor. Interessanter sind schon die Hunde C. Lloyd Morgans, welche nach mehreren Versuchen einen Stock mit schwerem Knopf zu tragen, denselben nicht mehr in der Mitte, sondern nahe am schweren Ende (im Schwerpunkt) fassen, und ebenso nach fruchtlosen Anstrengungen den in der Mitte gefaßten Stock durch eine schmale Tür zu bringen, denselben an einem Ende packen und hindurchziehen. Diese Tiere zeigen aber dennoch wenig Fähigkeit, die Erfahrung eines Falles für den nächsten gleichartigen zu verwerten. Kluge Pferde sah ich durch Stampfen sorgfältig einen bedenklichen Steg untersuchen, und Katzen die Wärme der dargebotenen dampfenden Milch durch Eintauchen der Pfote erproben. Vom bloßen Prüfen durch die Sinnesorgane, dem Wenden der Körper, Wechsel des Standpunktes bis zu wesentlicher Änderung der Umstände, von der passiven Beobachtung zum Experiment, ist der Übergang ein ganz allmählicher.242 Was die Tiere vom Menschen hier unterscheidet, ist vor allem die Enge des Interessenkreises. Eine junge Katze untersucht neugierig ihr Spiegelbild, sieht wohl auch hinter dem Spiegel nach, wird aber sofort gleichgültig, sobald sie merkt, daß sie nicht mit einer körperlichen Katze zu tun hat. Das Turteltauben-Männchen erreicht nicht einmal diese Stufe. Es ist im stände, wie ich oft beobachtet habe, viertelstundenlang vor seinem eigenen Spiegelbild zu gurren und Komplimente mit den zwei etikettemäßigen Schritten auszuführen, ohne die Täuschung zu merken. Welche Niveaudifferenz! wenn man dann ein vierjähriges Kind beobachtet, welches spontan mit Verwunderung und Interesse bemerkt, daß[185] eine zur Kühlung ins Wasser versenkte Weinflasche verkürzt erscheint. Ein anderes Kind in nahe gleichem Alter verwunderte sich über die stereoskopischen Erscheinungen, die sich beim zufälligen Schielen vor einer Tapete ergaben.243
Das durch Denken geleitete Experiment begründet die Wissenschaft, erweitert mit Bewußtsein und Absicht die Erfahrung. Man darf aber deshalb die Funktion von Instinkt und Gewohnheit im Experiment nicht unterschätzen. Man kann die Menge der Umstände, die bei einem Versuch mitspielen, unmöglich sogleich denkend überschauen. Wem die Fähigkeit fehlt, das Ungewöhnliche festzuhalten, und die Bewegungen der Hand dem Bedürfnis rasch anzupassen, wird schlechten Erfolg haben bei den Verrichtungen, welche die Vorstufe eines planmäßig eingeleiteten Experimentes begründen. Man experimentiert ganz anders auf einem Gebiete, mit dem man durch längere Beschäftigung vertraut geworden. Wenn man nach einer längeren Pause auf dieses Gebiet zurückkehrt, so kann man bemerken, wie das meiste von dem, was nicht begrifflich fixiert wurde, das feine Gefühl für die Bedeutung der Nebenumstände, die Geschicklichkeit der Hand, meist wieder neu erworben werden muß.
3. Außer dem physischen Experiment gibt es noch ein anderes, welches auf höherer intellektueller Stufe in ausgedehntem Maße geübt wird – das Gedankenexperiment. Der Projektenmacher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber,244 der Dichter sozialer oder technischer Utopien experimentiert in Gedanken. Aber auch der solide Kaufmann, der ernste Erfinder oder Forscher tut dasselbe. Alle stellen sich Umstände vor, und knüpfen an diese Vorstellung die Erwartung, Vermutung gewisser Folgen; sie machen eine Gedankenerfahrung. Während aber die ersteren in der Phantasie Umstände kombinieren, die in Wirklichkeit nicht zusammentreffen, oder diese Umstände von Folgen begleitet denken, welche nicht an dieselben gebunden[186] sind, werden letztere, deren Vorstellungen gute Abbilder der Tatsachen sind, in ihrem Denken der Wirklichkeit sehr nahe bleiben. Auf der mehr oder weniger genauen unwillkürlichen Abbildung der Tatsachen in unseren Vorstellungen beruht ja die Möglichkeit der Gedankenexperimente. Wir können ja in der Erinnerung noch Einzelheiten finden, die wir bei unmittelbarer Beobachtung der Tatsache keiner Aufmerksamkeit gewürdigt haben. Wie wir in der Erinnerung einen Zug entdecken, der uns den bisher verkannten Charakter eines Menschen plötzlich entschleiert, so bietet uns das Gedächtnis auch neue bisher unbemerkte Eigenschaften von physikalischen Tatsachen, und verhilft uns zu Entdeckungen.
Unsere Vorstellungen haben wir leichter und bequemer zur Hand, als die physikalischen Tatsachen. Wir experimentieren mit den Gedanken sozusagen mit geringeren Kosten. So dürfen wir uns also nicht wundern, daß das Gedankenexperiment vielfach dem physischen Experiment vorausgeht, und dasselbe vorbereitet. So sind ja die physikalischen Untersuchungen des Aristoteles großenteils Gedankenexperimente, in welchen die in der Erinnerung und namentlich in der Sprache, aufbewahrten Erfahrungsschätze verwertet werden. Das Gedankenexperiment ist aber auch eine notwendige Vorbedingung des physischen Experimentes. Jeder Experimentator, jeder Erfinder muß die auszuführende Anordnung im Kopfe haben, bevor er dieselbe in die Tat übersetzt. Kennt Stephenson auch den Wagen, die Schienen, die Dampfmaschine aus Erfahrung, so muß er doch die Kombination des auf Schienen ruhenden, durch die Dampfmaschine getriebenen Wagens in Gedanken vorgebildet haben, bevor er an die Ausführung schreiten kann. Nicht minder muß Galilei die Anordnung zur Untersuchung der Fallbewegung in der Phantasie vor sich sehen, bevor er dieselbe verwirklicht. Jeder Anfänger im Experimentieren erfährt, daß ein ungenügender Voranschlag, Nichtbeachtung der Fehlerquellen u.s.w. für ihn nicht minder tragikomische Folgen hat, als das sprichwörtliche »Vorgetan und Nachbedacht« im praktischen Leben.
4. Wenn die physische Erfahrung reicher geworden ist, und dieselben sinnlichen Elemente zahlreiche mannigfaltigere und dafür schwächere psychische Associationen gewonnen haben, so kann[187] das Spiel der Phantasie beginnen, in welchem über die wirklich eintretenden Associationen durch die ausschlaggebende momentane Stimmung, Umgebung und Gedankenrichtung entschieden wird. Wenn sich nun der Physiker fragt, was unter mannigfaltig kombinierten Umständen im möglichst genauen Anschluß an die physische Erfahrung zu erwarten ist, so kann dies natürlich nicht wesentlich neu und verschieden sein, von dem was die physische Einzelerfahrung bieten könnte. Indem der Physiker immer auf die Wirklichkeit reflektiert, unterscheidet sich ja seine Tätigkeit von der freien Dichtung. Aber der einfachste Gedanke des Physikers, welcher irgend eine physische sinnliche Einzelerfahrung betrifft, deckt diese nicht genau. Er enthält gewöhnlich weniger als die Erfahrung, welche derselbe nur schematisch nachbildet, zuweilen auch eine unabsichtliche Zutat. Die Umschau in der Erinnerung an die Erfahrungen und die Fiktion neuer Kombinationen von Umständen wird also darüber belehren können, wie genau die Erfahrungen durch die Gedanken dargestellt werden, und wie weit diese Gedanken untereinander übereinstimmen. Es handelt sich hier um einen logisch-ökonomischen Läuterungsprozeß, um Klärung des gedanklich geformten Inhalts der Erfahrungen. Welche Umstände bei einem Erfolg maßgebend sind, was zusammenhängt, welche Umstände voneinander unabhängig sind, wird durch eine solche Umschau viel klarer, als es durch die Einzelerfahrung werden kann. Es wird uns hierbei deutlich, auf welche Weise wir unsere Bequemlichkeit mit der Notwendigkeit, den Erfahrungen gerecht zu werden, vereinigen können, welche Gedanken die einfachsten sind, die zugleich mit sich selbst und mit der Erfahrung in umfassendster Weise in Übereinstimmung gebracht werden können. Dies erreichen wir durch Variation der Tatsachen in Gedanken.
Der Ausfall eines Gedankenexperimentes, die Vermutung, die wir an die in Gedanken variierten Umstände knüpfen, kann so bestimmt und entschieden sein, daß dem Autor – mit Recht oder Unrecht – jede weitere Prüfung durch das physische Experiment unnötig scheint.245 Je schwankender, unbestimmter aber[188] dieser Ausfall ist, desto mehr drängt das Gedankenexperiment zu dem physischen Experiment als seiner natürlichen Fortsetzung, welche nun ergänzend, bestimmend einzugreifen hat. Auf Fälle der letzteren Art kommen wir noch zurück. Hier sollen zunächst einige Beispiele der ersteren Art betrachtet werden.
5. Umstände, die man in Bezug auf einen gewissen Erfolg als einflußlos erkannt hat, kann man in Gedanken beliebig variieren, ohne diesen Erfolg zu ändern. Man gelangt aber durch geschickte Handhabung dieses Verfahrens zu Fällen, welche auf den ersten Blick von dem Ausgangsfall wesentlich verschieden scheinen, also zur Verallgemeinerung der Auffassung. Stevin und Galilei üben dieses Verfahren meisterhaft bei ihrer Behandlung des Hebels und der schiefen Ebene. Auch Poinsot246 benutzt diese Methode in der Mechanik. Er fügt einem Kraftsystem A ein System B und C hinzu, wobei aber C so gewählt wird, daß es sowohl A als auch B das Gleichgewicht hält. Die Überlegung nun, daß es auf die Auffassung des Beschauers nicht ankommt, führt dazu, A und B als äquivalent zu erkennen, obgleich sie sonst sehr verschieden sein können. Huygens' den Stoß betreffende Entdeckungen beruhen auf Gedankenexperimenten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß die Bewegung der umgebenden Körper für die Stoßenden so gleichgültig sei, wie der Standpunkt des Beschauers, ändert er diesen und die (relative) Bewegung der Umgebung. Er gelangt auf diese Weise, von dem einfachsten, speziellsten Fall ausgehend, zu bedeutenden Verallgemeinerungen. Ein Beispiel dieses Verfahrens bieten ferner die Betrachtungen der Dioptrik, wobei ein Strahl bald als diesem, bald als jenem Bündel von bekannten Eigenschaften angehörig aufgefaßt wird.
6. Auch die für einen Erfolg maßgebenden Umstände in Gedanken zu variieren ist nützlich, und am ergiebigsten ist die kontinuierliche Variation, welche uns eine vollständige Übersicht der möglichen Fälle verschafft. Es ist kein Zweifel, daß Gedankenexperimente dieser Art die größten Umwandlungen in unserem Denken herbeigeführt, und die bedeutendsten Forschungswege eröffnet haben. Wenn auch die Legende von Newtons[189] fallendem Apfel, die Euler noch für richtig hält, nicht buchstäblich zu nehmen ist, so waren es doch Gedankenprozesse ganz ähnlich denjenigen, die Euler247 und auch Gruithuisen248 so vortrefflich darzulegen weiß, welche allmählich von der Auffassung des Kopernikus zu jener Newtons übergeleitet haben, und die Elemente derselben lassen sich, wenn auch bei verschiedenen Personen, und in weit voneinander entlegenen Zeiten, sogar historisch nachweisen.
Der Stein fällt zur Erde. Lassen wir dessen Entfernung von der Erde wachsen. Wir müßten uns Gewalt antun, um diesem kontinuierlichen Wachstum eine Diskontinuität der Erwartung entgegenzusetzen. Auch in der Entfernung des Mondes wird der Stein nicht plötzlich sein Fallbestreben verlieren. Der große Stein fällt so wie der kleine. Der Stein werde so groß wie der Mond. Auch der Mond strebt zur Erde zu fallen. Der Mond möge wachsen bis er so groß wird, wie die Erde. Nun würde unsere Vorstellung die zureichende Bestimmtheit verlieren, wenn wir annehmen wollten, daß nur das eine zum andern gezogen wird, nicht aber umgekehrt. Die Anziehung ist also gegenseitig. Sie bleibt aber auch gegenseitig bei ungleichen Körpern, denn der eine Fall geht in den andern kontinuierlich über. Man sieht, daß hier nicht bloß logische Momente wirksam sind. Logisch wären die angedeuteten Diskontinuitäten ganz wohl denkbar. Aber wie unwahrscheinlich ist es, daß ihr Bestehen sich nicht durch irgend welche Erfahrung verraten hätte. Wir ziehen auch die Auffassung vor, die uns eine geringere psychische Anstrengung bereitet, wenn sie mit der Erfahrung vereinbar ist.
Ein Stein fällt neben dem andern. Der Mond besteht aus Steinen. Die Erde besteht aus Steinen. Jeder Teil zieht jeden andern an. Einfluß der Massen. Mond und Erde sind nicht wesentlich verschieden von anderen Weltkörpern. Die Gravitation ist allgemein. Die Keplersche Bewegung ist eine Wurfbewegung, aber mit von der Entfernung abhängiger Fallbeschleunigung. Die Fallbeschleunigung, auch die irdische, ist überhaupt von der Entfernung abhängig. Die Keplerschen Gesetze[190] sind nur ideale Fälle (Störungen). Hier tritt das begrifflichlogische Moment, die Forderung der Übereinstimmung der Gedanken mit sich selbst hervor.
Wie man sieht, ist die Grundmethode des Gedankenexperimentes, ebenso wie jene des physischen Experimentes, die Methode der Variation. Durch wenn möglich kontinuierliche Variation der Umstände wird das Geltungsbereich einer an dieselben geknüpften Vorstellung (Erwartung) erweitert; durch Modifikation und Spezialisierung der ersteren wird die Vorstellung modifiziert, spezialisiert, bestimmter gestaltet; und diese beiden Prozesse wechseln.
Galilei ist in dieser Art von Gedankenexperimenten Meister. Das Schweben spezifisch sehr schweren Staubes in der Luft und im Wasser klärt er auf, indem er einen Würfel durch drei Schnitte in 8 kleinere Würfel geteilt denkt, wobei das treibende Gewicht gleich bleibt, aber der Querschnitt und mit diesem der Widerstand verdoppelt wird, so daß letzterer bei mehrmaliger Wiederholung der Operation ungeheuer vergrößert wird. Ähnlich denkt sich Galilei ein Tier mit Beibehaltung der geometrischen Ähnlichkeit in allen Dimensionen gleichmäßig vergrößert, um zu zeigen, daß dieses unter seinem im kubischen Verhältnisse wachsendem Gewicht zusammenbrechen müßte, indem die Festigkeit der Knochen in einem viel geringeren Verhältnis steigt.
Das bloße Gedankenexperiment genügt oft, um eine nach dem Augenschein vermeintlich erschaute Regel ad absurdum zu führen. Wenn der Körper von größerem Gewicht wirklich die Eigenschaft hätte rascher zu fallen, so müßte nach Galilei die Verbindung eines schwereren mit einem leichteren Körper, wodurch ein noch schwererer Körper entsteht, wieder langsamer fallen, weil der schwerere Körper durch den leichteren verzögert würde. Die vermeintliche Regel ist also nicht haltbar, indem sie sich selbst widerspricht. Derartige Überlegungen spielen in der Wissenschaft eine große historische Rolle.
7. Betrachten wir einen andern Prozeß dieser Art. Körper von gleicher Temperatur ändern diese durch gegenseitige Einwirkung nicht. Der wärmere Körper A (eine glühende Eisenkugel) erwärmt den kälteren B (ein Thermometer) auch auf Distanz durch Strahlung, z.B. bei dem bekannten Versuch mit[191] den conaxialen Hohlspiegeln. Setzt man mit Pictet statt A ein Blechkästchen mit einer Kältemischung, so wird B abgekühlt. Das ist ein physisches Experiment, an welches Gedankenexperimente anknüpfen. Gibt es auch Kältestrahlen? Ist der neue Fall nicht derselbe, wie der vorige, nur daß A und B ihre Rolle getauscht haben? In beiden Fällen erwärmt der wärmere Körper den kälteren. Es sei A wärmer als B, die Temperaturen mögen dann gleich werden und endlich nehme A eine niedere Temperatur an als B. Welcher Körper strahlt in dem Mittelfall dem andern Wärme zu? Ändert sich das Verhalten der Körper plötzlich beim Durchgang durch die Temperaturgleichheit? Beide Körper strahlen unabhängig voneinander und nehmen unabhängig voneinander auf. Bewegliches Wärmegleichgewicht (Prevost). Verschiedene Körper von gleicher Temperatur strahlen nach den Versuchen Leslies und Rumfords ungleiche Wärmemengen aus. Soll das bewegliche Gleichgewicht fortbestehen, wie es in der Tat besteht, so muß der doppelt ausstrahlende auch doppelt aufnehmen.
Ein wichtiger Vorgang besteht darin, daß man einen oder mehrere Umstände, welche quantitativ auf ein Ergebnis Einfluß haben, in Gedanken quantitativ vermindert und schließlich zum Verschwinden bringt, so daß die übrigen Umstände als allein maßgebend angesehen werden. Es ist dieser Prozeß physisch oft nicht durchführbar, und man kann denselben daher als Idealisierung oder Abstraktion bezeichnen. Indem man sich den Bewegungswiderstand eines auf horizontaler Bahn angestoßenen Körpers, oder die Verzögerung eines auf wenig geneigter schiefen Ebene aufsteigenden Körpers, bis zum Verschwinden abnehmend denkt, kommt man zu der Vorstellung des ohne Widerstand gleichförmig bewegten Körpers. In Wirklichkeit kann dieser Fall nicht dargestellt werden. Deshalb bemerkt Apelt mit Recht, daß das Gesetz der Trägheit durch Abstraktion entdeckt worden sei. Das Gedankenexperiment, kontinuierliche Variation, hat aber hierzu geführt. Alle allgemeinen physikalischen Begriffe und Gesetze, der Begriff des Strahles, die dioptrischen Gesetze, das Mariottesche Gesetz u.s.w. werden durch Idealisierung gewonnen. Sie nehmen dadurch jene einfache und zugleich allgemeine, wenig bestimmte Gestalt an, welche es ermöglicht, eine[192] beliebige, auch kompliziertere Tatsache durch synthetische Kombination dieser Begriffe und Gesetze zu rekonstruieren, d.h. sie zu verstehen. Solche Idealisierungen sind bei den Carnotschen Betrachtungen der absolut nichtleitende Körper, die volle Temperaturgleichheit der sich berührenden Körper, die nichtumkehrbaren Prozesse, bei Kirchhoff der absolut schwarze Körper u.s.w.
8. Die unabsichtlich gewonnene instinktive rohe Erfahrung gibt uns wenig bestimmte Bilder der Welt. Sie lehrt uns z.B., daß die schweren Körper nicht von selbst aufwärts steigen, daß gleich warme Körper einander gegenübergestellt gleich warm bleiben u.s.w. Das scheint dürftig, ist aber dafür um so sicherer, steht auf sehr breiter Grundlage. Das planmäßig ausgeführte quantitative Experiment gibt viel reichere Einzelheiten. Die an dem letzteren geschulten quantitativen Vorstellungen gewinnen aber ihre sicherste Stütze, wenn wir sie zu jenen rohen Erfahrungen in Beziehung setzen. So paßt Stevin seine quantitativen Vorstellungen über die schiefe Ebene, und Galilei die seinigen über den Fall, jener Erfahrung über die schweren Körper durch mustergültige Gedankenexperimente an. Fourier wählt jene Strahlungsgesetze und Kirchhoffdie Beziehung zwischen Absorption und Emission, welche zu der angeführten Wärmeerfahrung passen.
Durch solche versuchsweise Anpassung einer quantitativen Vorstellung an die verallgemeinerte Erfahrung über die schweren Körper (das Prinzip des ausgeschlossenen perpetuum mobile) findet S. Carnot seinen folgenreichen Wärmesatz, und stellt hiermit das großartigste Gedankenexperiment an. Seine Methode ist von unerschöpflicher Fruchtbarkeit geworden, seit James Thomson und William Thomson sich derselben zu bemächtigen wußten.
9. Von der Art und dem Ausmaß der aufgenommenen Erfahrung hängt es ab, ob ein Gedankenexperiment als solches mit einem bestimmten Ausfall zum Abschluß gebracht werden kann. Der kältere Körper nimmt von dem berührten wärmeren Körper Wärme auf. Ein schmelzender oder siedender Körper befindet sich in diesem Fall, wird aber hierbei doch nicht wärmer. Hiernach ist es für Black nicht zweifelhaft, daß die Wärme bei[193] Umwandlung eines Körpers in Dampf oder Flüssigkeit »latent« wird. So weit reicht das Gedankenexperiment. Allein die Quantität der latenten Wärme kann Black nur durch ein physisches Experiment bestimmen, wenn dieses auch in der Form sogar sich an das Gedankenexperiment anschließt. Die Existenz des mechanischen Wärmeäquivalents enthüllt sich Mayer und Joule durch Gedankenexperimente. Den Zahlenwert muß Joule durch ein physisches Experiment ermitteln, während Mayer sogar diesen, sozusagen, aus erinnerten Zahlen abzuleiten vermag.
Wenn ein Gedankenexperiment kein bestimmtes Ergebnis hat, d.h. wenn sich an die Vorstellung gewisser Umstände keine sichere eindeutig bestimmte Erwartung eines Erfolges knüpft, so pflegen wir in der Zeit zwischen dem intellektuellen und physischen Experiment uns aufs Raten zu verlegen, d.h. wir nehmen versuchsweise eine nähere zureichende Bestimmung des Erfolges an. Dieses Raten ist kein unwissenschaftliches Verfahren. Wir können vielmehr diesen natürlichen Vorgang an klassischen historischen Beispielen erläutern. Bei näherem Zusehen wird es uns sogar klar, daß dieses Raten oft allein dem physischen Experiment, der natürlichen Fortsetzung des Gedankenexperimentes, die Form zu geben vermag. Bevor Galilei die Fallbewegung experimentell untersucht, von welcher er durch Beobachtung und Überlegung nur weiß, daß die Geschwindigkeit zunimmt, verlegt er sich aufs Raten in Bezug auf die Art der Zunahme. Durch die Prüfung der Folgerungen aus der Annahme wird sein Experiment erst möglich. Es liegt dies daran, daß der analytische Schluß von dem Fallraumgesetz auf das bedingende Geschwindigkeitsgesetz schwieriger war als der umgekehrte synthetische Schluß. Häufig ist ja der analytische Vorgang, wegen seiner Unbestimmtheit, sehr schwierig, und die Situation, in der sich Galilei befand, wiederholt sich bei den späteren Forschern noch oft. Auch die Richmannsche Mischungsregel ist erraten, und durch Experimente nachträglich bestätigt, ebenso die Sinusperiodizität des Lichtes und viele andere wichtige physikalische Auffassungen.
10. Die Methode, den Erfolg einer Versuchsanordnung erraten zu lassen, hat auch einen hohen didaktischen Wert. Ich hatte als Gymnasiast durch kurze Zeit einen ausgezeichneten Lehrer,[194] H. Phillipp, der durch dieses Verfahren die Aufmerksamkeit aufs höchste zu spannen wußte,249 und auch bei einem andern tüchtigen Schulmann, F. Pisko, habe ich bei Gelegenheit eines Besuches seiner Schule dasselbe Verfahren beobachtet. Nicht nur der Schüler, sondern auch der Lehrer gewinnt ungemein durch diese Methode. Letzterer lernt hierbei seine Schüler besser als auf eine andere Weise kennen. Während einige auf das nächstliegende Wahrscheinlichste raten, vermuten andere ungewöhnliche wunderbare Erfolge. Meist wird auf das geläufige, associativ Naheliegende geraten. So wie der Sklave in Platons »Menon« glaubt, daß die Verdopplung der Quadratseite auch die Quadratfläche verdoppelt, wird man von dem Elementarschüler leicht hören, daß die Verdopplung der Pendellänge auch die Schwingungsdauer verdoppelt, und der Fortgeschrittene wird weniger auffallende, aber analoge Mißgriffe machen. Durch solche Mißgriffe wird aber das Gefühl für die Unterschiede des logisch, physisch und associativ Bestimmten oder Naheliegenden geschärft, man lernt endlich das Erratbare von überhaupt nicht Erratbarem unterscheiden. Die hier getrennt beschriebenen Prozesse, und die hierbei unterschiedenen Fälle, kommen bei der denkenden Überlegung in reicher Abwechslung nacheinander, wohl auch zugleich kombiniert vor. Hält man sich gegenwärtig, wieviel die Erinnerung beim Aufbau des Wissens leistet, so wird Platons Ansicht verständlich, welcher meinte, daß alles Nachforschen und Erlernen nichts sei, als ein Erinnern (an ein früheres Leben). Allerdings enthält diese Ansicht neben einer bedeutenden Übertreibung gewisser Momente eine ebenso große Unterschätzung anderer. Auch jede gegenwärtige Einzelerfahrung kann sehr wichtig sein, und wenn wir auch das frühere Leben, nach moderner Auffassung die Stammesgeschichte, welche dem Leib ihre Spuren aufgeprägt hat, nicht für nichts achten, so ist doch noch viel wichtiger die individuelle Erinnerung an das gegenwärtige Leben.
11. Das Experimentieren in Gedanken ist nicht nur für den Forscher von Beruf wichtig, sondern auch der psychischen Entwicklung[195] überhaupt sehr förderlich. Wie wird dasselbe eingeleitet? Wie kann es sich zu einer mit Absicht, Bewußtsein und Verständnis gebrauchten Methode entwickeln? So wie jede Bewegung, bevor dieselbe eine willkürliche werden konnte, zufällig als Reflexbewegung eintreten mußte, so kommt es auch hier darauf an, daß einmal durch passende Umstände ein unabsichtliches Variieren der Gedanken eingeleitet werde, damit dieses durchschaut, und zu einer bleibenden Gepflogenheit werde. Dies geschieht am natürlichsten durch das Paradoxe. Nicht nur lernt man durch das Paradoxe am besten die Natur eines Problems fühlen, welches ja eben durch den paradoxen Gehalt zu einem Problem wird, sondern die widerstreitenden Elemente lassen auch die Gedanken nicht mehr zur Ruhe kommen, und lösen eben den Prozeß aus, den wir als Gedankenexperiment bezeichnet haben. Man denke nur an eine der bekannten Vexierfragen, die man zum ersten Male hört. In ein auf der Wage äquilibriertes Gefäß mit Wasser wird ein von einem besonderen Ständer getragenes Gewicht eingetaucht. Sinkt die Wagschale oder nicht? Eine Fliege sitzt in einem verschlossenen äquilibrierten Kochfläschchen. Was geschieht, wenn sie auffliegt und im Innern des Fläschchens sich schwebend erhält? Oder man denke an einen wichtigen historischen Fall, den paradoxen Gegensatz, die scheinbare Unvereinbarkeit des Carnotschen und des Mayerschen Wärmesatzes; man denke an die Beziehungen der chromatischen Polarisation zur Interferenz, welche bei vielfacher Übereinstimmung doch wieder unvereinbar schienen. Die verschiedenen Erwartungen, welche sich an die einzelnen in verschiedenen Fällen vereinigten Umstände knüpfen, müssen notwendig beunruhigend und eben dadurch auch klärend und fördernd wirken. Clausius und W. Thomson haben in dem einen, Young und Fresnel in dem andern Falle die Wirkung des Paradoxen empfunden. Durch die Analyse fremder und eigener Arbeiten kann sich jeder überzeugen, wie aller Erfolg und Mißerfolg hauptsächlich davon abhängt, ob an paradoxen Punkten die ganze Kraft angewendet wurde oder nicht.
12. Die eigentümliche kontinuierliche Variation, welche in einigen der zuvor betrachteten Gedankenexperimente auftritt, erinnert lebhaft an die kontinuierliche Änderung der Gesichtsphantasmen,[196] welche J. Müller250 so schön beschrieben hat. Man wird finden, daß entgegen der Ansicht Müllers die kontinuierliche Änderung der Gesichtsphantasmen ganz wohl mit den Associationsgesetzen vereinbar ist, ja zum Teil geradezu als eine Erinnerungserscheinung, Nachahmung der perspektivischen Wandlung der Bilder, aufgefaßt werden kann. Wenn das Auftreten von Tonfolgen, Melodieen und Harmonieen in der Phantasie nicht befremdet, und den Associationsgesetzen nicht widersprechend gefunden wird, so wird es sich wohl mit den Gesichtsphantasmen ebenso verhalten. Das spontane hallucinatorische Element soll in allen diesen Fällen nicht in Abrede gestellt werden. Eigenleben der Organe und Anregung durcheinander, Erinnerung, wirken hier wohl zusammen. Übrigens ist zwischen Hallucination und schöpferischer Phantasie der Künstler und Forscher doch noch zu unterscheiden. In der Hallucination mögen sich die Bilder an einen grob sinnlichen Erregungszustand anschließen, bei der schöpferischen Phantasie gruppieren sie sich um einen herrschenden hartnäckig wiederkehrenden Gedanken. Daß das Phantasieren des Künstlers der Hallucination näher steht als jenes des Forschers wurde schon bemerkt.251
13. Es ist kaum zu zweifeln, daß das Gedankenexperiment nicht nur im Gebiete der Physik, sondern in allen Gebieten von Wichtigkeit ist, selbst dort, wo der Fernerstehende es am wenigsten vermuten würde, in der Mathematik. Euler mit seiner Forschungsweise, mit deren Fruchtbarkeit die Kritik keineswegs gleichen Schritt hält, macht ganz den Eindruck eines Experimentators, der[197] ein neues Gebiet zum erstenmal sondiert. Auch wenn die Darstellung einer Wissenschaft rein deduktiv ist, darf man sich durch die Form nicht täuschen lassen. Wir haben es hier mit einer Gedankenkonstruktion zu tun, welche an die Stelle der vorausgegangenen Gedankenexperimente getreten ist, nachdem der Erfolg derselben dem Autor vollkommen bekannt und geläufig war. Jede Erklärung, jeder Beweis, jede Deduktion ist ein Ergebnis dieses Vorganges.
Die Geschichte der Wissenschaft läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Mathematik, Arithmetik und Geometrie, aus der zufälligen Aufsammlung einzelner Erfahrungen an zählbaren und meßbaren körperlichen Objekten sich entwickelt hat. Indem nun die physischen Erfahrungen in Gedanken oft und oft gegeneinander gehalten wurden, ergab sich erst die Einsicht in deren Zusammenhang. Und jedesmal, so oft uns diese Einsicht momentan nicht gegenwärtig ist, hat unser mathematisches Wissen den Charakter einmal erworbener Erfahrung. Auch wird jeder, der einmal forschend Mathematik getrieben oder Aufgaben gelöst, die Integration einer Gleichung versucht hat, zugeben, daß Gedankenexperimente der definitiven Gedankenkonstruktion vorausgehen. Die historisch wichtige und fruchtbare »Methode der unbestimmten Koeffizienten« ist eigentlich eine experimentelle Methode. Nachdem die Reihen für sin x, cos x, ex gefunden waren, ergaben sich durch den Versuch, die symbolischen Ausdrücke für exi und e-xi in Reihenform zu entwickeln, wie von selbst die Ausdrücke
cos x = (exi+e-xi)/2,
sin x = (exi-e-xi)/2i,
welche lange eine bloß symbolische, aber rechnerisch gut verwertbare Bedeutung behielten, bevor man deren eigentlichen Sinn anzugeben vermochte.
Wer einen Kreis beschreibt bemerkt, daß zu jedem von einer bestimmten Anfangslage nach links geschwenktem Radius ein gleich viel nach rechts geschwenkter Radius existiert, daß der Kreis in Bezug auf jene willkürliche Anfangslage, also allseitig symmetrisch ist. Jeder Durchmesser ist eine Symmetrale; alle von demselben halbierten Sehnen, auch jene von der Länge Null, die Tangente, stehen auf demselben senkrecht. Zwei gegen[198] die Symmetrale gleich geschwenkte Durchmesser bezeichnen mit ihren Enden immer die Ecken eines symmetrisch einschreibbaren Rechteckes. Mit Überraschung mag der antike Forscher oder mancher moderne Anfänger so erfahren haben, daß der Winkel im Halbkreise immer ein rechter ist. Einmal auf die Beziehung von Zentri- und Peripheriewinkel aufmerksam, entdeckt man durch Bewegung des Scheitelpunktes in der Peripherie, daß von jedem Punkte derselben derselbe Bogen unter gleichem Gesichtswinkel erscheint, was auch dann noch gilt, wenn der Scheitel von außen oder innen bis an das Ende des Kreisbogens rückt. Der eine Schenkel des Peripheriewinkels wird hierbei zur Sehne, der andere zur Tangente an dem Endpunkte des Bogens. Der Satz, betreffend die Proportionalität der Abschnitte zweier von einem Punkt durch den Kreis gezogener Sekanten, geht in den entsprechenden Tangentensatz über, wenn man die beiden Durchschnittspunkte der einen Sekante gegeneinander rücken und zusammenfallen läßt. Je nachdem man sich den Kreis mit dem Zirkel beschrieben, oder durch einen starren Winkel mit stets durch zwei feste Punkte geführten Schenkeln erzeugt denkt, oder darauf achtet, daß zwei Kreise immer als ähnlich und ähnlich liegend angesehen werden können, ergeben sich immer neue Eigenschaften. Die Veränderung, Bewegung der Figuren, kontinuierliche Deformation, Verschwindenlassen und unbegrenzte Vergrößerung einzelner Elemente sind auch hier die Mittel, welche die Forschung beleben, neue Eigenschaften kennen lehren und die Einsicht in deren Zusammenhang fördern. Man muß wohl annehmen, daß gerade auf diesem so einfachen fruchtbaren und leicht zugänglichen Gebiet die Methode des physischen und des Gedankenexperimentes sich zuerst entwickelt und von da aus auf die Naturwissenschaften übertragen hat. Diese Ansicht wäre gewiß viel populärer, wenn der elementarmathematische Unterricht, namentlich der geometrische, sich nicht vorzugsweise in so starren dogmatischen Formen bewegen, wenn der Vortrag nicht in einzelnen abgerissenen Sätzen fortschreiten würde, wobei die Kritik in so monströser Weise hervorgekehrt und die heuristischen Methoden in so unverantwortlicher Art verdeckt werden. Die große scheinbare Kluft zwischen Experiment und Deduktion besteht in Wirklichkeit nicht.[199] Immer handelt es sich um ein Zusammenstimmen der Gedanken mit den Tatsachen und der Gedanken untereinander. Zeigt ein Versuch nicht den erwarteten Ausfall, so mag das für den Erfinder oder für den konstruierenden Techniker sehr nachteilig sein, der Forscher wird darin nur den Beweis erblicken, daß seine Gedanken den Tatsachen nicht genau entsprechen. Gerade eine solche sich deutlich aussprechende Inkongruenz kann zu neuen Aufklärungen und Entdeckungen führen.
14. Der enge Anschluß des Denkens an die Erfahrung baut die moderne Naturwissenschaft. Die Erfahrung erzeugt einen Gedanken. Derselbe wird fortgesponnen, und wieder mit der Erfahrung verglichen und modifiziert, wodurch eine neue Auffassung entsteht, worauf der Prozeß sich aufs neue wiederholt. Eine solche Entwicklung kann mehrere Generationen in Anspruch nehmen, bevor sie zu einem relativen Abschluß gelangt.
Man hört häufig sagen, das Forschen könne nicht gelehrt werden. Dies ist auch in gewissem Sinne richtig. Die Schablonen der formalen und auch der induktiven Logik können nicht viel nützen, denn die intellektuellen Situationen wiederholen sich nicht genau. Aber die Beispiele der großen Forscher sind sehr anregend, und Übung im Experimentieren in Gedanken nach dem Muster derselben, wozu hier eine kleine Anleitung gegeben wurde, ist gewiß sehr förderlich. Die späteren Generationen haben auch wirklich auf diese Weise eine Förderung der Forschung erfahren, denn Aufgaben, welche früheren Forschern große Schwierigkeiten bereitet haben, werden jetzt mit Leichtigkeit gelöst.[200]
240 | Teile dieses Artikels wurden schon publiziert in Poskes Zeitschr. f. physik. u. chem. Unterricht. 1897. Januarheft. |
241 | Recht zweckmäßige Mittel ergeben sich mitunter durch das bloße Probieren. Ich sah einem Dienstmädchen zu, welches einen großen Teppich unter einen schweren Speisetisch legen sollte, der von einer Person nicht getragen werden konnte. Im Augenblick stand der Tisch auf dem Teppich, ohne verschoben worden zu sein. Das Mädchen behauptete nicht nachgedacht zu haben. Der Teppich wurde fast ganz zusammengerollt vor den Tisch gelegt, der Tisch an dieser Seite gehoben, und während das aufgerollte Ende des Teppichs mit einem Fuße festgehalten wurde, erhielt die Rolle durch den andern Fuß einen Stoß, so daß sie unter den Tisch bis zur Gegenseite rollend sich aufwickelte. Eine analoge Prozedur an der andern Seite vollendete die Aufgabe. – Als ich, auf den Gebrauch einer Hand angewiesen, den Fenstervorhang aufziehen wollte, konnte dies wegen der Länge der Schnur nur in mehreren Absätzen geschehen. Plötzlich befand ich mich aber, ohne mit Bewußtsein und Absicht nachgedacht zu haben, im Besitz eines bequemeren Verfahrens. Meine Hand kletterte an der Schnur ein Stück in die Höhe, indem sie die Schnur abwechselnd mit Daumen und Zeigefinger einerseits faßte, und dann wieder mit den drei übrigen Fingern umschlang. War die größtmögliche Höhe erreicht, so wurde die Schnur herabgezogen und die Operation wiederholt. |
242 | Der Hund meiner Schwester sprang einmal entsetzt über die Kälte des frisch gelüfteten Lagerkissens in die Höhe, prüfte seither immer dessen Temperatur mit der Pfote und wartete, bis es richtig zimmerwarm war. |
243 | Die Weite des Interessenkreises ist es vor allem, welche nach meiner Meinung die Überlegenheit der Intelligenz eines 3-4 jährigen Kindes über jene des klügsten Tieres bedingt. Ich kann es kaum verstehen, wie jemand, der mit Kindern und Tieren verkehrt hat, an wirkliche Zahlbegriffe, an wirkliches Rechnen eines Pferdes denken kann. Vgl. die S. 72 erwähnte Schrift von Th. Zell. |
244 | Vgl. E. Zola, Le Roman expérimental. Paris 1898. |
245 | Mit Recht warnt Duhem (Théorie physique, S. 331) davor, Gedankenexperimente so darzustellen, als ob es physische Experimente wären, also Postulate für Tatsachen auszugeben. |
246 | Poinsot, Élémens de Statique. 10me édit. Paris 1861. |
247 | Euler, Lettres à une Princesse d'Allemagne. London 1775. |
248 | F. Gruithuisen, Die Naturgeschichte im Kreise der Ursachen und Wirkungen. München 1810. |
249 | Leider verdarb sich dieser geniale Didaktiker fast seinen ganzen Erfolg durch seine mangelhafte Pädagogik, durch seine beispiellose Ungeduld. |
250 | J. Müller, Die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 1826. |
251 | Ohne übrigens den Wert der Associationsgesetze für die Psychologie zu unterschätzen, kann man doch deren ausschließliche Geltung mit Recht bezweifeln. Es gibt im Nervensystem neben den vom Individuum erworbenen temporären organischen Verkehrswegen auch angeborne bleibende (wenigstens nicht vom Individuum erworbene), wie die Reflexbewegungen lehren, und letztere sind sogar für die nichtindividuellen Funktionen viel wichtiger. Ein Prozeß kann in einem Organ von einem Nachbarorgan aus auf den beiden genannten Wegen eingeleitet werden, wahrscheinlich aber unter Umständen auch spontan in dem Organ auftreten. Ist der Prozeß besonders energisch, so wird er sich vermutlich vom Ursprungsorte auf allen zu Gebote stehenden Wegen ausbreiten. Es scheint mir, daß alles dies sein psychisches Gegenbild haben müßte. |
Ausgewählte Ausgaben von
Erkenntnis und Irrtum
|
Buchempfehlung
Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.
196 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro