[126] 1. Es ist nun notwendig den Begriff als psychologisches Gebilde näher in Augenschein zu nehmen. Wer sich gegenwärtig hält, daß er sich einen Menschen, der weder jung noch alt, weder groß noch klein ist, kurz einen allgemeinen Menschen nicht vorstellen kann, wer überlegt, daß jedes vorgestellte Dreieck entweder rechtwinklig, spitzwinklig oder stumpfwinklig, demnach kein allgemeines Dreieck ist, der kommt leicht zu dem Gedanken, daß solche psychische Gebilde, die wir Begriffe nennen, nicht existieren, daß es abstrakte Vorstellungen überhaupt nicht gibt, was mit besonderer Lebhaftigkeit insbesondere Berkeley verfochten hat. Diese Überlegung führt auch leicht zu der von Roscellinus vertretenen Ansicht, daß die allgemeinen Begriffe (Universalien) nicht als Sachen bestünden, sondern nur »flatus vocis« seien, während die Gegner seines »Nominalismus«, die »Realisten«, die allgemeinen Begriffe als in den Dingen begründet ansahen. Daß allgemeine Begriffe nicht bloße Worte seien, wie noch kürzlich ein geachteter Mathematiker behauptet hat, geht deutlich genug daraus hervor, daß sehr abstrakte Sätze verstanden und in konkreten Fällen richtig angewendet werden. Die unzählichen Anwendungen des Satzes: »Die Energie bleibt konstant« mögen ein Beispiel dafür abgeben. Man würde sich aber vergebens bemühen, beim Sprechen oder Hören dieses Satzes einen momentanen konkreten anschaulichen Vorstellungsinhalt im Bewußtsein zu finden, welcher den Sinn desselben vollständig decken würde. Diese Schwierigkeiten verschwinden, wenn wir dem Umstande Rechnung tragen, daß der Begriff kein Augenblicksgebilde ist, wie eine einfache konkrete sinnliche Vorstellung, wenn wir bedenken, daß jeder Begriff seine zuweilen recht lange und ereignisreiche psychologische Bildungsgeschichte[126] hat, und daß sein Inhalt ebensowenig durch einen Augenblicksgedanken explicite dargelegt werden kann.169
2. Man kann annehmen, daß ein Hase sich bald im Besitze der typischen Vorstellung170 eines Krautkopfes, eines Menschen, eines Hundes oder Rindes befindet, daß er durch den ersten angelockt wird, den zweiten und dritten flieht, gegen das vierte sich gleichgültig verhält, infolge der nächsten Associationen, welche sich an die betreffenden Wahrnehmungen oder die zugehörigen typischen Vorstellungen knüpfen. Je reicher aber die Erfahrung dieses Tieres wird, desto mehr gemeinsame Reaktionen der Objekte je eines dieser Typen werden ihm bekannt, Reaktionen, die nicht alle zugleich in seiner Vorstellung lebendig werden können. Wird das Tier durch ein Objekt angelockt, welches einem Krautkopf ähnlich ist, so wird sofort eine prüfende Tätigkeit ausgelöst; das Tier wird durch Beschnuppern, Benagen u.s.w. sich überzeugen, ob das Objekt wirklich die bekannten erwarteten Reaktionen: Geruch, Geschmack, Konsistenz u.s.w. darbietet. Durch eine menschenähnliche Vogelscheuche im ersten Moment erschreckt, kommt das aufmerksam beobachtende Tier bald zur Einsicht, daß hier wichtige Reaktionen des Typus Mensch, die Bewegung, die Ortsveränderung, das aggressive Verhalten u.s.w. fehlen. Hier knüpfen sich schon an die typische Vorstellung zunächst latent oder potentiell die nach und nach aufgespeicherten Erinnerungen an eine Menge von Erfahrungen oder Reaktionen, welche bei einer prüfenden Tätigkeit auch nur nach und nach ins Bewußtsein treten können. Hierin scheint mir nun das[127] Charakteristische des Begriffs im Gegensatz zu einer individuellen Augenblicksvorstellung zu liegen. Die letztere entwickelt sich durch associative Bereicherung ganz allmählich zu ersterem, so daß wir einen kontinuierlichen Übergang vor uns haben. Ich glaube hiernach, daß man Anfänge der Begriffsbildung den höheren Tieren nicht absprechen kann.171
3. Der Mensch bildet seine Begriffe in derselben Weise wie das Tier, wird aber durch die Sprache und durch den Verkehr mit den Genossen, welche beiden Mittel dem Tier nur geringe Hilfe leisten, mächtig unterstützt. In dem Wort besitzt er eine sinnlich allgemein faßbare Etikette des Begriffes, auch in Fällen, in welchen die typische Vorstellung unzureichend wird oder überhaupt nicht mehr existiert. Ein Wort deckt allerdings nicht immer einen Begriff. Kinder und Jugendliche Völker, die noch einen geringen Vorrat von Wörtern haben, gebrauchen ein Wort zur Bezeichnung einer Sache oder eines Vorganges, bei nächster Gelegenheit aber zur Bezeichnung einer andern Sache oder eines andern Vorganges, welche mit ersteren irgend eine Ähnlichkeit der Reaktion darbieten.172 Dadurch schwankt und wechselt die Bedeutung der Worte. Untergegebenen Umständen ist aber die Zahl der biologisch wichtigen Reaktionen, auf welche die überwiegende Mehrheit achtet, eine geringe, und dadurch wird der Gebrauch der Worte wieder stabilisiert. Jedes Wort dient dann zur Bezeichnung einer Klasse von Objekten (Sachen oder Vorgängen) bestimmter Reaktion. Die Mannigfaltigkeit der biologisch wichtigen Reaktionen ist viel geringer als die Mannigfaltigkeit des Tatsächlichen. Dadurch wurde der Mensch zuerst in die Lage versetzt, das Tatsächliche begrifflich zu klassifizieren. Dies Verhältnis bleibt bestehen, wenn ein Stand oder ein Beruf einem Tatsachengebiet den Blick zuwendet, welches kein unmittelbares biologisches Interesse mehr darbietet. Auch da ist die Mannigfaltigkeit der für den besonderen Zweck wichtigen Reaktionen geringer als die Mannigfaltigkeit des Tatsächlichen. Die Reaktionen sind aber jetzt andere, als in dem früheren Falle, weshalb jeder Stand oder Beruf seine eigene begriffliche Klassifikation[128] vornimmt. Der Handwerker, der Arzt, der Jurist, der Techniker, der Naturforscher bildet seine eigenen Begriffe, gibt den Worten durch umschreibende Einschränkung (Definition) eine von der Vulgärsprache verschiedene, engere Bedeutung, oder wählt zur Begriffsbezeichnung gar neue Worte. Ein solches, etwa naturwissenschaftliches Begriffswort hat nun den Zweck, an die Verbindung aller in der Definition bezeichneten Reaktionen des definierten Objektes zu erinnern, und diese Erinnerungen wie an einem Faden ins Bewußtsein zu ziehen. Man denke etwa an die Definition des Wasserstoffes, der Bewegungsquantität eines mechanischen Systems oder des Potentials in einem Punkt. Natürlich kann jede Definition wieder Begriffe enthalten, so daß erst die letzten, untersten begrifflichen Bausteine in sinnenfällige Reaktionen als deren Merkmale aufgelöst werden können. Wie schnell und wie leicht eine solche Auflösung gelingt, hängt von der genauen Kenntnis und Geläufigkeit des Begriffes ab, und wie weit sie notwendig ist, wird durch den verfolgten Zweck bestimmt. Überlegt man, wie diese Begriffe sich gebildet haben, daß Jahre und Jahrhunderte an deren Bildung gearbeitet haben, so wird man sich nicht wundern, daß deren Inhalt nicht durch eine individuelle Augenblicksvorstellung zu erschöpfen ist.
4. Welche Begriffe zu bilden und wie dieselben gegeneinander abzugrenzen sind, darüber hat nur das praktische oder wissenschaftliche Bedürfnis zu entscheiden. In die Definition werden die Reaktionen aufgenommen, welche zur Bestimmung des Begriffes hinreichen. Andere Reaktionen, von denen es schon bekannt und geläufig ist, daß sie an die in den Definitionen enthaltenen unabänderlich gebunden sind, braucht man nicht besonders anzuführen. Die Definition würde dadurch nur mit Überflüssigem belastet. Es kann aber allerdings vorkommen, daß die Auffindung solcher weiterer Reaktionen eine Entdeckung vorstellt. Bestimmen die neuen Reaktionen für sich allein ebenfalls den Begriff, so können dieselben gleichfalls zur Definition dienen. Wir definierenden Kreis als die ebene Kurve, deren sämtliche Punkte von einem bestimmten Punkte gleichen Abstand haben. Andere Eigenschaften des Kreises zählen wir nicht auf, z.B. die Gleichheit aller Peripheriewinkel über einem beliebigen Bogen, das konstante Verhältnis der Abstände eines[129] jeden Kurvenpunktes von zwei bestimmten Punkten seiner Ebene u.s.w. Jede der beiden genannten Eigenschaften für sich allein definiert aber ebenfalls den Kreis. Dieselbe Tatsache oder Gruppe von Tatsachen kann nach Umständen das Interesse und die Aufmerksamkeit auf verschiedene Reaktionen, auf verschiedene Begriffe leiten. Ein Kreis kann als Durchschnitt projektivischer Büschel, als Kurve von konstanter Krümmung, ein kreisförmiger Faden als Kurve gleicher Spannung, als Umfang der eingeschlossenen Fläche u.s.w. in Betracht kommen. Einen Eisenkörper können wir ansehen als Komplex von Sinnesempfindungen, als Gewicht, als Masse, als Wärme- oder Elektrizitätsleiter, als Magneten, als starren oder elastischen Körper, als chemisches Element u.s.w.
5. Jeder Beruf hat seine eigenen Begriffe. Der Musiker liest seine Partitur, so wie der Jurist seine Gesetze, der Apotheker seine Rezepte, der Koch sein Kochbuch, der Mathematiker oder Physiker seine Abhandlung liest. Was für den Berufsfremden ein leeres Wort oder Zeichen ist, hat für den Fachmann einen ganz bestimmten Sinn, enthält für ihn die Anweisung zu genau begrenzten psychischen oder physischen Tätigkeiten, welche ein psychisches oder physisches Objekt von ebenso umschriebener Reaktion in der Vorstellung zu erzeugen oder vor die Sinne zu stellen vermag, wenn er die betreffenden Tätigkeiten wirklich ausführt. Hierzu ist es aber unerläßlich, daß er die genannten Tätigkeiten wirklich geübt, und sich in denselben die nötige Geläufigkeit erworben, daß er in dem Beruf mit gelebt hat.173 Bloße Lektüre erzieht ebensowenig einen Fachmann, wie das bloße Anhören einer noch so guten Vorlesung. Es fehlt da jede Nötigung zur Prüfung der aufgenommenen Begriffe auf ihre Richtigkeit, die bei direkter Berührung mit den Tatsachen im Laboratorium durch die empfindlichen begangenen Fehler sich sofort einstellt.
Begriffe, welche auf durch Hörensagen unvollständig und oberflächlich bekannte Tatsachen gegründet sind, gleichen Gebäuden aus morschem Material, die bei der ersten Störung haltlos zusammenstürzen. Ungeduldiges Drängen zu verfrühter[130] Abstraktion174 beim Unterricht kann deshalb nur schädlich wirken. So entstandene Begriffe enthalten potentiell nur schlecht umschriebene und schattenhafte Individualbilder, die besonders leicht zu Irrtum verführen werden.
6. Am deutlichsten offenbart sich die Natur des Begriffes demjenigen, der eben anfängt das Gebiet einer Wissenschaft zu beherrschen. Die Kenntnis der zu Grunde liegenden Tatsachen hat er sich nicht instinktiv angeeignet, sondern er hat aufmerksam, sorgfältig und absichtlich beobachtet. Von den Tatsachen zu den Begriffen und umgekehrt hat er den Weg oft zurückgelegt, und dieser ist ihm in lebhafter Erinnerung, so daß er ihn jederzeit zu durchschreiten und auf jedem Punkt zu verweilen im stände ist. Anders verhält es sich mit den weniger bestimmten Begriffen, welche von den Worten der Vulgärsprache bezeichnet werden.175 Hier hat sich alles instinktiv ohne unser absichtliches Zutun ergeben, sowohl die Kenntnis der Tatsachen als auch die Begrenzung der Bedeutung der Worte. Durch vielfache Übung ist uns das Sprechen, Hören und Verstehen der Sprache so geläufig geworden, daß alles beinahe automatisch verläuft. Wir halten uns bei der Analyse der Bedeutung der Worte nicht mehr auf, und die sinnlichen Vorstellungen, welche der Rede zu Grunde liegen, treten kaum in Andeutungen oder gar nicht mehr ins Bewußtsein. Kein Wunder also, daß ein Mensch, plötzlich gefragt, was er bei einem Worte, namentlich von abstrakterer Bedeutung,[131] in seinem Bewußtsein vorfindet? sehr oft antwortet: »Nichts als das Wort!«176 Eine Phrase braucht aber nur Zweifel oder Wiederspruch zu erregen, so holen wir sofort das an das Wort geknüpfte potentielle Wissen aus der Tiefe der Erinnerung hervor. Man lernt eben sprechen und die Sprache verstehen, so wie man gehen lernt. Die einzelnen Momente einer geläufigen Tätigkeit werden für das Bewußtsein verwischt. Wenn nun ein tüchtiger Gelehrter den Ausspruch tut: »Ein Begriff ist nur ein Wort«, so beruht dies gewiß auf mangelhafter psychologischer Selbstbeobachtung. Er verwendet die Begriffsworte infolge langer Übung richtig, so wie wir Löffel, Gabel, Schlüssel und Feder richtig verwenden, fast ohne daß uns deren langsam erlernter Gebrauch bewußt wird. Er kann das potentielle Wissen des Begriffs erwecken, ist aber dazu nicht immer genötigt.
7. Betrachten wir nun noch etwas genauer den Prozeß der Abstraktion, durch welchen Begriffe zu stände kommen. Die Dinge (Körper) sind für uns verhältnismäßig stabile Komplexe von aneinander gebundenen, voneinander abhängigen Sinnesempfindungen. Nicht alle Elemente dieses Komplexes sind aber von gleicher biologischer Wichtigkeit. Ein Vogel nährt sich z.B. von roten, süßen Beeren. Die für ihn biologisch wichtige Empfindung »süß«, für welche sein Organismus in angeborener Weise eingestellt ist, hat zur Folge, daß derselbe Organismus die associative Einstellung auf das auffallende und fernwirkende Merkmal »rot« erwirbt. Mit anderen Worten: Der Organismus wird für die beiden Elemente süß und rot mit einer viel empfindlicheren Reaktion ausgestattet, es wird denselben vorzugsweise die Aufmerksamkeit zugewendet, dagegen von anderen Elementen des Komplexes Beere abgewendet. In dieser Teilung der Einstellung, des Interesses,177 der Aufmerksamkeit besteht nun wesentlich der Prozeß der Abstraktion. Dieser Prozeß bedingt es, daß in dem [132] Erinnerungsbild Beere nicht alle Empfindungsmerkmale des sinnlich physischen Komplexes Beere in gleicher Stärke ausgeprägt sind, wodurch sich das erstere schon der Eigentümlichkeit des Begriffes nähert. Selbst die beiden beachteten sinnlichen Merkmale süß und rot können in dem physischen Komplex Beere noch in sehr beträchtlichem Spielraum variieren – man denke z.B. an die Varation der Wellenlängen und Farben des Spektrums, die wir sämtlich als rot bezeichnen – ohne daß das psychische Gebilde Beere hiervon Notiz nimmt. Wir können eben annehmen, daß alle mit dem Worte rot bezeichneten Empfindungsvariationen oder Empfindungsmischungen durch den einfachen, vielleicht einmal isolierbaren physiologischen Grundempfindungsprozeß rot vorzugsweise charakterisiert sind.178 So entspricht also schon in so primitiven Fällen der unerschöpflichen sinnlich-physischen Mannigfaltigkeit eine sehr eingeschränkte gleichmäßige sinnlich-psychische Reaktion und hiermit eine entschiedene Tendenz zur begrifflichen Schematisierung.
8. Denken wir uns die in einer Gegend wachsenden, genießbaren und ungenießbaren Beerenarten zahlreicher und schwerer unterscheidbar, so müssen die leitenden Erinnerungsbilder an Merkmalen reicher und mannigfaltiger werden. Für den primitiven Menschen schon kann sich sogar die Notwendigkeit ergeben, besondere mit klar bewußter Absicht auszuführende Proben, Prüfungsmittel im Gedächtnis zu behalten, um brauchbare von unbrauchbaren Objekten zu unterscheiden, wenn die bloße sinnliche Betrachtung hierzu nicht mehr ausreicht. Dies ist besonders der Fall, sobald an die Stelle der wenigen einfachen unmittelbaren biologischen Ziele, wie Beschaffung der Nahrung u.s.w., die viel zahlreicheren und mannigfaltigeren technischen und wissenschaftlichen Zwischenziele treten. Hier sehen wir den Begriff von seinem einfachsten Rudiment bis zur höchsten Stufe, dem wissenschaftlichen Begriff, sich entwickeln, wobei jede höhere Stufe die tieferen als Grundlage benützt.
9. Auf der höchsten Stufe der Entwicklung ist der Begriff[133] das an das Wort, den Terminus, gebundene Bewußtsein von den Reaktionen, die man von der bezeichneten Klasse von Objekten (Tatsachen) zu erwarten hat. Nur allmählich und nacheinander können aber diese Reaktionen und die oft komplizierten psychischen und physischen Tätigkeiten, durch welche erstere hervorgerufen werden, als anschauliche Vorstellung hervortreten. Man kann eine genießbare Frucht durch Farbe, Geruch und Geschmack erkennen. Daß aber Walfisch und Delphin zur Klasse der Säuger gehören, läßt sich nicht durch den Anblick, sondern nur durch eine eingehende anatomische Untersuchung feststellen. Ein Blick kann oft über den biologischen Wert eines Objektes entscheiden. Ob aber ein mechanisches System einen Gleichgewichts- oder Bewegungsfall vorstellt, kann nur durch eine komplizierte Tätigkeit entschieden werden. Man mißt alle Kräfte und alle zugehörigen miteinander verträglichen kleinen Verschiebungen im Sinne der Kräfte, multipliziert jede Maßzahl der Kraft mit der Maßzahl der zugehörigen Verschiebung und summiert diese Produkte. Ergibt diese Summe, d.h. die Arbeit, mit Rücksicht auf die Zeichen der Produkte, den Wert Null oder einen negativen Wert, so hat man einen Gleichgewichtsfall vor sich, wenn dies nicht zutrifft, einen Bewegungsfall. Natürlich hat die Entwicklung des Begriffes Arbeit eine lange Geschichte, welche mit dem Studium der einfachsten Fälle (Hebel u.s.w.) beginnt, welche von der naheliegenden Bemerkung ausgeht, daß nicht nur die Gewichte, sondern auch die Verschiebungsgrößen auf den Vorgang von Einfluß sind. Wer aber das Bewußtsein hat, daß er die genannte Prüfung jederzeit korrekt ausführen kann, wer weiß, daß der Gleichgewichtsfall mit der Summe Null, der dynamische Fall mit einer positiven Summe auf diese Prüfung reagiert, der besitzt den Begriff Arbeit und kann durch denselben den statischen vom dynamischen Fall unterscheiden. So läßt sich jeder physikalische oder chemische Begriff darlegen. Das Objekt entspricht dem Begriff, wenn es auf Ausführung einer Prüfung, die man im Sinne hat, die erwartete Reaktion gibt. Die Prüfung kann je nach den Umständen im bloßen Beschauen oder in einer verwickelten psychischen oder technischen Operation, die hierauf erfolgende Reaktion in einer einfachen Sinnesempfindung oder in einem komplizierten Vorgang bestehen.[134]
10. Dem Begriff fehlt die unmittelbare Anschaulichkeit aus zwei Gründen. Erstens umfaßt derselbe eine ganze Klasse von Objekten (Tatsachen), deren Individuen nicht auf einmal vorgestellt werden können. Dann sind die gemeinsamen Merkmale der Individuen, um die es sich im Begriff allein handelt, in der Regel solche, zu deren Kenntnis wir im Verlaufe der Zeit nacheinander gelangen und deren anschauliche Vergegenwärtigung ebenfalls beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt. Das Gefühl der Geläufigkeit und sicheren Reproduzierbarkeit, der potentiellen Anschaulichkeit muß hier die aktuelle Anschaulichkeit ersetzen.179 Eben diese beiden Umstände machen aber den Begriff wissenschaftlich so wertvoll und geeignet, große Gebiete von Tatsachen in Gedanken zu repräsentieren und symbolisieren. Der Zweck des Begriffes ist es, in der verwirrenden Verwicklung der Tatsachen sich zurecht zu finden.
11. So wie es biologisch wichtig ist, durch Beobachtung den Zusammenhang von Reaktionen – Aussehen einer Frucht und deren Nährwert – zu konstatieren, so geht auch jede Naturwissenschaft darauf aus, Beständigkeiten des Zusammenhanges oder der Verbindung der Reaktionen, der Abhängigkeit der Reaktionen voneinander aufzufinden. Eine Klasse von Objekten (ein Tatsachengebiet) A gibt z.B. die Reaktionen a, b, c. Weitere Beobachtung lehrt etwa noch die Reaktionen d, e, f kennen. Wenn es sich nun zeigt, daß a, b, c das Objekt A für sich allein eindeutig charakterisiert, und ebenso d, e, f dasselbe Objekt eindeutig charakterisiert, so ist damit die Verbindung der Reaktion a, b, c mit der Reaktion d, e, f an dem Objekt A festgestellt. Es verhält sich hier ähnlich wie bei einem Dreieck, das durch die beiden Seiten a, b und den eingeschlossenen Winkel γ, ebensowohl aber durch die dritte Seite c und die beiden Winkel α, β bestimmt sein kann, woraus folgt, daß am Dreieck letztere Trias an erstere gebunden und aus derselben ableitbar ist. Der Zustand einer gegebenen Gasmasse ist durch das Volumen v und den Druck p, aber auch durch das Volumen v und die absolute Temperatur T bestimmt. Demnach besteht zwischen den drei Bestimmungsstücken p, T, v eine Gleichung (pv/T = konst.),[135] welche jede der drei Größen aus den beiden anderen Bestimmungsstücken des Gases abzuleiten erlaubt. Als weitere Beispiele der Abhängigkeit der Reaktionen voneinander mögen die Sätze dienen: »In einem System, das bloße Leitungsvorgänge zuläßt, bleibt die Wärmemenge konstant.« – »In einem mechanischen System ohne Reibung ist die Änderung der lebendigen Kraft in einem Zeitelement durch die in demselben Zeitelement geleistete Arbeit bestimmt.« – »Derselbe Körper, welcher mit Chlor Kochsalz erzeugt, bildet mit Schwefelsäure Glaubersalz.«
12. Die Bedeutung der begrifflichen Fassung für die wissenschaftliche Forschung ergibt sich leicht. Durch Unterordnung einer Tatsache unter einen Begriff vereinfachen wir dieselbe, indem wir alle für den verfolgten Zweck unwesentlichen Merkmale außer acht lassen. Zugleich bereichern wir aber dieselbe durch Zuteilung aller Merkmale der Klasse.180 Die beiden erwähnten ordnenden, vereinfachenden ökonomischen Motive der Permanenz und der zureichenden Differenzierung können erst am begrifflich gegliederten Stoff recht zur Geltung kommen.181
13. Wem der Begriff als ein luftiges Idealgebilde erscheint, dem nichts Tatsächliches entspricht, mag folgende Überlegung anstellen. Als selbständige physische »Sachen« bestehen die abstrakten Begriffe allerdings nicht. Allein wir reagieren tatsächlich auf Objekte derselben Begriffsklasse psycho-physiologisch in gleicher, auf Objekte verschiedener Klasse in verschiedener Weise, wie dies besonders deutlich wird, wenn es sich um biologisch wichtige Objekte handelt. Die Empfindungselemente, auf welche sich die Begriffsmerkmale in letzter Linie zurückführen lassen, sind physische und psychische Tatsachen. Die Beständigkeit der Verbindung der Reaktionen aber, welche die physikalischen Sätze darlegen, sind die höchste Substanzialität, welche die Forschung bisher enthüllen konnte, beständiger als alles, was man Substanz genannt hat. Der Gehalt der Begriffe an tatsächlichen Elementen darf uns aber doch nicht verführen, diese psychischen Gebilde, welche einer Korrektur immer noch fähig und auch bedürftig sind, mit den darzustellenden Tatsachen selbst zu identifizieren.[136]
14. Unser Leib, und namentlich unser Bewußtsein, ist ein verhältnismäßig abgeschlossenes, isoliertes System von Tatsachen. Dieses System antwortet auf die Vorgänge in der physikalischen Umgebung nur in einem beschränkteren Spielraum, und nach wenigen Richtungen. Es verhält sich ähnlich wie ein Thermometer, das nur auf Wärmevorgänge, wie ein Galvanometer, das nur auf Stromvorgänge reagiert, kurz ähnlich wie ein nicht sehr vollkommener physikalischer Apparat. Was uns nun auf den ersten Blick als ein Mangel erscheint: die geringe Verschiedenheit der Reaktion auf große und vielseitige Variationen in der physikalischen Umgebung, das ermöglicht die erste rohe begriffliche Klassifikation der Vorgänge in der Umgebung, welche durch fortgesetzte Korrekturen an Feinheit gewinnt. Schließlich lernen wir die Eigentümlichkeiten, die Konstanten und Fehlerquellen des Bewußtseinsapparates ebenso berücksichtigen und eliminieren, wie jene anderer Apparate. Wir sind ebensolche Dinge, wie die Dinge der physikalischen Umgebung, die wir durch uns selbst auch kennen lernen.
15. Die maßgebende Rolle der Abstraktion bei der Forschung liegt auf der Hand. Es ist weder möglich, alle Einzelheiten einer Erscheinung zu beachten, noch hätte dies einen gesunden Sinn. Wir beachten eben die Umstände, die für uns ein Interesse haben und diejenigen, von welchen erstere abhängig zu sein scheinen. Die erste Aufgabe, die sich dem Forscher darbietet, ist es also, durch Vergleichung verschiedener Fälle die voneinander abhängigen Umstände in seinen Gedanken hervorzuheben, und alles, wovon das Untersuchte unabhängig scheint, als für den vorliegenden Zweck nebensächlich oder gleichgültig auszusondern. In der Tat ergeben sich die wichtigsten Entdeckungen durch diesen Prozeß der Abstraktion. Dies hebt Apelt182 trefflich hervor, indem er sagt: »Das zusammengesetzte Besondere steht immer früher vor unserem Bewußtsein, als das einfachere Allgemeine. In den abgesonderten Besitz des letzteren kommt der Verstand immer erst durch Abstraktion. Die Abstraktion ist daher die Methode der Aufsuchung der Prinzipien.« Diese Ansicht vertritt Apelt insbesondere in bezug auf das Trägheitsgesetz[137] und das Gesetz der Relativität der Bewegung, die wir hier gleich als Beispiele der Entdeckung durch Abstraktion näher betrachten wollen. Zur vollen Erkenntnis des Trägheitsgesetzes ist Galilei sehr spät und durch allerlei Umwege gelangt. Nachdem Apelt183 dies besprochen, sagt er: »Wie und wann aber auch Galilei darauf gekommen sein mag, so ist doch so viel gewiß, daß die Erkenntnis dieses Gesetzes nicht, wie Whewell zu zeigen sich bemüht, der Induktion, sondern der Abstraktion ihren Ursprung verdankt.« Whewell184 spricht allerdings von der »Induktion, welcher das erste Gesetz der Bewegung seinen Ursprung verdankt«, allein er erwähnt sofort die Kreiselexperimente von Hooke mit successive vermindertem Widerstand, und sagt dann: »Die allgemeine Regel wurde aus dem konkreten Experiment herausgezogen.« Whewell scheint also trotz des unpassend gewählten Ausdrucks derselben Ansicht zu sein wie Apelt, nur daß er die Wichtigkeit der Bekanntschaft mit verschiedenen Fällen als Vorbedingung zur Betätigung der Abstraktion weit besser hervorhebt als Apelt. Im übrigen nehmen beide a priori gegebene Verstandesbegriffe an, und beide werden dadurch zu sonderbaren, unnötigen, gezwungenen Auffassungen verführt. Apelt185 scheint das Trägheitsgesetz selbstverständlich (!), es leuchtet von selbst ein, wenn man nur den »richtigen« Begriff von Materie mitbringt, deren Grundeigenschaft die »Leblosigkeit« ist, welche Veränderung durch andere als »äußere Einwirkung« ausschließt. Auch Whewell186 führt das Trägheitsgesetz darauf zurück, daß nichts ohne Ursache (!) geschehen kann. Wäre der Mensch nicht vorzugsweise ein psychologisches, sondern nur ein logisches Wesen, so hätte sich die Abstraktion, welche zum Trägheitsgesetz führt, wie ich anderwärts187 gezeigt habe, in sehr einfacher Weise ergeben. Sind einmal die Kräfte als beschleunigungsbestimmende Umstände erkannt, so folgt sofort, daß ohne Kräfte nur [138] unbeschleunigte, also geradlinige und gleichförmige Bewegungen denkbar sind. Die Geschichte, und selbst heutige Diskussionen lehren geradezu pleonastisch, daß sich das Denken nicht von selbst in so glatten logischen Bahnen bewegt; gehäufte variierte Fälle, allerlei Schwierigkeiten, bei sich durchkreuzenden und widersprechenden Überlegungen, müssen die Abstraktion beinahe erzwingen. Whewell188 bemerkt richtig, daß ein Bewegungsfall ohne Kräfte in Wirklichkeit nicht vorkommt. Indem also die Wissenschaft abstrahiert, idealisiert sie auch ihre Objekte. Zur Charakteristik von Apelts189 Standpunkt diene noch folgende Stelle: »Niemand ist dem Grundsatze der Relativität aller Bewegung vielleicht näher gekommen als Kepler bei den zahlreichen Umformungen seiner Konstruktionen aus dem einen in das andere Weltsystem, aber das Verdienst, dieses Gesetz zuerst erkannt zu haben, gebührt Galilei. Und wie und wodurch hat er es erkannt? Nicht durch einen Beweis aus Tatsachen, sondern durch bloßes Nachdenken über die Natur der Bewegung (!) und über das Verhältnis unserer Beobachtung der Bewegung zum Raum (!), der selbst zwar ein Gegenstand der reinen Anschauung, aber dennoch kein Gegenstand der Beobachtung für uns ist.« »Der Grundsatz der Relativität aller Bewegung dagegen kann nur eingesehen, aber nicht bewiesen werden: man ist von seiner Wahrheit unmittelbar überzeugt, sobald man ihn in abstracto gefaßt und verstanden hat, ohne daß er eines anderen Satzes weder zu seinem Verständnis noch zu seiner Begründung bedürfte.« Deshalb meint Apelt, konnte wohl der abstrahierende Galilei, nicht aber der induzierende Kepler den Grundsatz finden. Ich bin nun der Meinung, daß Galilei den fraglichen Grundsatz allerdings durch Abstraktion erkannt hat, aber durch Vergleichung beobachteter Fälle. Nachdem er die Bewegung frei fallender Körper durchschaut und analysiert hatte, mußte ihm auffallen, daß die Fallbewegung neben einem ruhenden Turm ebenso vorzugehen scheint, wie die Fallbewegung neben dem Mastbaum eines schnell bewegten Bootes für den Beobachter auf demselben, wodurch sich zunächst die bekannte Auffassung[139] der Wurfbewegung als Kombination einer gleichförmigen Horizontalbewegung mit einer beschleunigten Fallbewegung ergab. Die weiteren Verallgemeinerungen und Anwendungen bereiteten keine Schwierigkeiten mehr. – Apelt190 hat sogar die Neigung, Galileis Entdeckung des Fallgesetzes für eine deduktive zu halten. Aus Galileis Schriften geht aber deutlich hervor, daß er die Form des Fallgesetzes als Hypothese aufgestellt, vermutet, richtig erraten und durch das Experiment bestätigt hat. Eben indem er sich auf die Beobachtung stützt, wird Galilei zum Begründer der modernen Physik.
16. Newtons in den Prinzipien aufgestellte »leges motus«, auf die wir noch an einem anderen Orte zurückkommen, sind überhaupt vorzügliche Beispiele der Entdeckung durch Abstraktion. Lex I (Trägheitsgesetz) wurde schon berührt. Wenn wir von der Tautologie in Lex II (mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressæ) absehen, so steckt hier noch ein nicht ausdrücklich hervorgehobener Inhalt, der gerade die wichtigste durch Abstraktion gewonnene Entdeckung vorstellt. Es ist dies die Voraussetzung, daß alle bewegungsbestimmenden Umstände (»Kräfte«) beschleunigungsbestimmend sind. Wie kam man zu dieser Abstraktion, nachdem ein direkter Nachweis durch Galilei nur für die Schwere geliefert war? Woher wußte man, daß dies auch für elektrische und magnetische Kräfte gilt? Man mochte wohl denken: Allen Kräften gemeinsam ist der Druck, falls die Bewegung verhindert wird; der Druck wird immer dieselben Folgen haben, woher derselbe auch rühren mag; was für einen Druck gilt, wird auch für den anderen gelten. Diese Doppelvorstellung von der Kraft, als beschleunigungsbestimmend und als Druck, scheint mir auch die psychologische Quelle der Tautologie zu sein in dem Ausdrucke von Lex II. Ich glaube übrigens, daß man solche Abstraktionen nur richtig würdigt, wenn man dieselben als ein intellektuelles Wagnis auffaßt, das durch den Erfolg gerechtfertigt wird. Wer garantiert uns, daß wir bei unseren Abstraktionen die richtigen Umstände beachten, und gerade die gleichgültigen unbeachtet lassen? Der geniale Intellekt unterscheidet sich von dem normalen eben durch die[140] rasche und sichere Voraussicht des Erfolges einer intellektuellen Maßregel. In diesem Zuge gleichen sieh große Forscher, Künstler, Erfinder, Organisatoren u.s.w.
Um mit unseren Beispielen nicht bloß auf dem Gebiete der Mechanik zu bleiben, betrachten wir Newtons Entdeckung der Dispersion des Lichtes. Neben der feineren Unterscheidung von Lichtern verschiedener Farbe und ungleicher Brechungsexponenten im weißen Licht, hat Newton das Licht auch zuerst als aus verschiedenen voneinander unabhängigen Strahlungen bestehend erkannt. Der zweite Teil der Entdeckung scheint durch Abstraktion, der erste durch den entgegengesetzten Prozeß gewonnen zu sein; allein beide beruhen auf der Fähigkeit und Freiheit, die Umstände nach Belieben und Zweckmäßigkeit zu beachten oder außer acht zu lassen. Newtons unabhängige Lichtstrahlungen haben eine ähnliche Bedeutung, wie die Unabhängigkeit der Bewegungen voneinander, die Prevotschen unabhängigen Wärmestrahlungen, welche zur Erkenntnis des beweglichen Gleichgewichtes der Wärme führten, und viele andere Auffassungen, welche Volkmann191 als Isolation bezeichnet hat. Solche Auffassungen sind für die Vereinfachung der Wissenschaft sehr wesentlich.
17. Wenn auch Begriffe keine bloßen Worte sind, sondern ihre Wurzeln in den Tatsachen haben, muß man sich doch hüten, Begriffe und Tatsachen für gleichwertig zu halten, dieselben miteinander zu verwechseln. Aus solchen Verwechslungen gehen ebenso schwere Irrtümer hervor, wie aus jenen der anschaulichen Vorstellungen mit Sinnesempfindungen, ja die ersteren sind viel allgemeiner schädlich. Die Vorstellung ist ein Gebilde, an welchem die Bedürfnisse des Einzelmenschen wesentlich mit gebaut haben, während die Begriffe, von den intellektuellen Bedürfnissen der Gesamtmenschheit beeinflußt, das Gepräge der Kultur ihrer Zeit tragen. Wenn wir Vorstellungen oder Begriffe mit Tatsachen vermengen, so identifizieren wir Ärmeres, bestimmten Zwecken Dienendes, mit Reicherem, ja Unerschöpflichem. Wir lassen wieder die Grenze U außer acht, die wir, falls es[141] sich um Begriffe handelt, als alle beteiligten Menschen umschließend zu denken haben. Die logischen Deduktionen aus unseren Begriffen bleiben aufrecht, solange wir diese Begriffe festhalten; die Begriffe selbst müssen aber stets einer Korrektur durch die Tatsachen gewärtig sein. Endlich darf man nicht annehmen, daß unseren Begriffen absolute Beständigkeiten entsprechen, wo unsere Forschung nur Beständigkeiten der Verbindung der Reaktionen aufzufinden vermag.192
18. J. B. Stallo hat in ausführlicher Darstellung und in anderer Form, unabhängig, im wesentlichen mit dem unmittelbar zuvor Gesagten übereinstimmende Gedanken dargelegt.193 Stallos Ausführungen lassen sich kurz zusammenfassen in folgenden Sätzen: 1. Das Denken beschäftigt sich nicht mit den Dingen, wie sie an sich sind, sondern mit unseren Gedankenvorstellungen (Begriffen) von denselben. 2. Gegenstände sind uns lediglich durch ihre Beziehungen zu anderen Gegenständen bekannt. Die Relativität ist also ein notwendiges Prädikat der Gegenstände der (begrifflichen) Erkenntnis. 3. Ein besonderer Denkakt schließt niemals die Gesamtheit aller erkennbaren Eigenschaften eines Objektes in sich, sondern nur die zu einer besonderen Klasse gehörigen Beziehungen. – Aus der Nichtbeachtung dieser Sätze gehen, wie Stallo weiter ausführt, mehrere sehr verbreitete, natürliche, so zu sagen in unserer geistigen Organisation begründete Irrtümer hervor. Als solche werden aufgezählt: 1. Jeder Begriff ist das Gegenstück einer unterscheidbaren objektiven Realität; es gibt so viele Dinge, als es Begriffe gibt. 2. Die allgemeineren oder umfassenderen Begriffe und die ihnen entsprechenden Realitäten sind früher da, als die weniger allgemeinen; die letzteren Begriffe und Realitäten bilden oder entwickeln sich aus den ersteren durch Hinzufügung von Merkmalen. 3. Die Aufeinanderfolge der Entstehung der Begriffe ist identisch mit der Aufeinanderfolge[142] der Entstehung der Dinge. 4. Die Dinge existieren unabhängig von ihren Beziehungen.
In der Entgegensetzung von Materie und Bewegung, Masse und Kraft als besonderer Realitäten sieht Stallo den ersten der bezeichneten Irrtümer, in der Hinzufügung der Bewegung zur trägen Materie den zweiten. Die dynamische Gastheorie wird auf die Theorie der starren Körper gegründet, da wir mit letzteren früher vertraut geworden sind als mit den Gasen. Betrachtet man aber das starre Atom als das ursprünglich Existierende, aus dem alles abzuleiten ist, so unterliegt man der dritten der bezeichneten Täuschungen. Die Eigenschaften der Gase sind in der Tat viel einfacher als jene der Flüssigkeiten und starren Körper, wie schon J. F. Fries194 hervorgehoben hat. Als Beispiele des vierten Fehlers behandelt Stallo die Hypostasierung von Raum und Zeit, wie sie namentlich in Newtons Lehre von dem absoluten Raum und der absoluten Zeit sich offenbart.
19. In dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Stallos Buch habe ich die Übereinstimmungen und auch die Differenzen zwischen seinen und meinen Ansichten bezeichnet. Ich möchte hier nochmals betonen, daß sowohl Stallos als auch meine Ausführungen sich niemals gegen physikalische Arbeitshypothesen, sondern nur gegen erkenntnistheoretische Verkehrtheiten richten. Meine Darlegungen gehen stets von physikalischen Einzelheiten aus und erheben sich von da zu allgemeineren Erwägungen, während Stallo gerade den umgekehrten Weg einschlägt. Er spricht mehr zu den Philosophen, ich zu den Naturforschern.[143]
169 | Eine psychologische Theorie des Begriffs habe ich versucht zu geben: Analyse d. Empfindungen. 1886, 4. Aufl. 1903, S. 249-255. – Populärwissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. 1903, S. 277-280. – Prinzipien d. Wärmelehre, 2. Aufl. 1900, S. 415-422. – Vgl. ferner: H. Rickert, Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Viertelj, f. wiss. Philosoph. Bd. 18, 1894, S. 277. – H. Gomperz, Zur Psychologie d. logisch. Grundtatsachen. Wien 1897. – Th. Ribot, L'évolution des Idées générales. Paris 1897. – M. Keibel, Die Abbildtheorie u. ihr Recht in d. Wissenschaftslehre. Zeitschr. f. immanente Philos. Bd. 3, 1898. – Endlich möchte ich auf die gleichzeitig mit der ersten Auflage des vorliegenden Buches gedruckte Schrift von A. Stöhr (Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung, Wien 1905) verweisen. Gleich die ersten Seiten enthalten eine originelle Beleuchtung der Begriffslehre vom Standpunkt der Neuronentheorie. |
170 | Vgl. S. 115. |
171 | Vgl. Wärmelehre S. 416. |
172 | Vgl. Analyse S. 250. |
173 | Vgl. Analyse S. 253. |
174 | Ich hatte selbst Gelegenheit mich von der Nutzlosigkeit des Drängens zur Abstraktion zu überzeugen. Kinder, welche recht gut kleine Mengen oder Gruppen von Objekten auffassen und unterscheiden, auch auf die Frage: »wie viele Nüsse sind drei Nüsse und zwei Nüsse?« rasch und richtig antworten, werden durch die Frage: »wieviel ist zwei und drei?« in Verlegenheit gesetzt. Einige Tage später tritt die Abstraktion ganz von selbst ein. |
175 | Ich schenkte meinem Jungen im Alter zwischen 4 und 5 Jahren ein Kistchen mit Holzmodellen geometrischer Körper, die ich benannte, aber natürlich nicht definierte. Seine Anschauung wurde dadurch sehr bereichert und seine Phantasie so gestärkt, daß er, ohne das Modell zu sehen, z.B. die Ecken, Kanten und Flächen eines Würfels oder Tetraeders herzählen konnte. Auch zur Beschreibung seiner kleinen Beobachtungen benützte er die neuen Anschauungen und Namen. So nannte er eine Wurst einen krummen Zylinder. Geometrische Begriffe hatte aber der Junge doch noch nicht. Der Zylinder müßte ganz anders als üblich definiert werden, um die Wurstform als Spezialfall zu umfassen. |
176 | Vgl. die statistische Datensammlung bei Ribot, a. a. O. S. 131-145. – Ribot bringt bezüglich des »type auditif« S. 139 die ansprechende Hypothese vor, daß derselbe in der Zeit des mittelalterlichen mündlichen Unterrichts und der damals üblichen mündlichen Disputationen vielleicht vorherrschend war, und daß diesem Umstand der Ausdruck »flatus vocis« seinen Ursprung verdankt. |
177 | Ich möchte hier nochmals auf die S. 127 erwähnte Schrift von Stöhr hinweisen. Man beachte, was Stöhr »Begriffszentrum« nennt. |
178 | Man kann also ganz wohl sagen, daß die einfachen Empfindungen Abstraktionen sind, darf aber darum noch nicht behaupten, daß denselben kein tatsächlicher Vorgang zu Grunde liegt. Man denke an Druck und Beschleunigung. Vgl. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. u. 4. Aufl. S. 122. |
179 | Vgl. S. 114 d. vorl. Schr. |
180 | Analyse, 4. Aufl. S. 253. |
181 | A. a. O. S. 248 und S. 112 d. vorliegenden Schrift. |
182 | Apelt, Die Theorie der Induktion. Leipzig 1854. S. 59. |
183 | A. a. O. S. 60. |
184 | Whewell, Geschichte der induktiven Wissenschaften. Deutsch von J. J. v. Littrow. Stuttgart 1840. II. S. 31. |
185 | Apelt, a. a. O. S. 60, 61. |
186 | Whewell, The Philosophy of inductive sciences. London 1847. I. S. 216. |
187 | Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 5. Aufl. 1904. S. 140-143. |
188 | Whewell, Geschichte u.s.w., II. S. 31, u. Wohlwill, Galilei und sein Kampf für die Kopernikanische Lehre. Hamburg 1909. |
189 | Apelt, a. a. O. S. 61, 62. |
190 | Apelt, a. a. O. S. 62, 63. |
191 | Volkmann, Einführung i. d. Studium d. theoretischen Physik. Leipzig 1900. S. 28. |
192 | Diese Gedanken habe ich in »Erhaltung der Arbeit« 1872, in »Mechanik« 1883 und in »Prinzipien d. Wärmelehre« 1896 in Bezug auf Physik ausführlich dargelegt. |
193 | J. B. Stallo, The Concepts and Theories of modern Physics. 1882. – Deutsch unter dem Titel: Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. Herausgegeben von H. Kleinpeter, mit einem Vorwort von E. Mach. Leipzig 1901. Vgl. insbesondere S. 126-212. |
194 | J. F. Fries, Die mathematische Naturphilosophie. Heidelberg 1822. S. 446. |
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