[232] 1. Isolierte Tatsachen gibt es nur infolge der Beschränktheit unserer Sinne und unserer intellektuellen Mittel. Instinktiv und unwillkürlich spinnen die Gedanken eine Beobachtung fort, indem sie die Tatsache in Bezug auf ihre Teile, oder ihre Folgen, oder ihre Bedingungen ergänzen. Der Jäger findet eine Feder, und seine Phantasie führt ihm sofort das Bild des ganzen Vogels, des Nußhähers vor, der dieselbe verloren hat. Eine Meeresströmung führt fremdartige Pflanzen, Tierleichen, kunstvoll geschnitzte Hölzer herbei, und vor Kolumbus zeigt sich das ferne noch unbekannte Land, dem jene Dinge entstammen. Herodot (II, 19-27) beobachtet die regelmäßigen Nilüberschwemmungen und bildet sich die sonderbarsten Vorstellungen über die Vorgänge, mit welchen dieselben zusammenhängen möchten. Selbst den höher entwickelten Tieren ist ein solches Fortspinnen der beobachteten Tatsache in den Vorstellungen ganz geläufig, wenn auch in höchst primitiver Form. Die Katze, welche ihr Spiegelbild hinter dem Spiegel sucht, hat, wenn auch instinktiv und unbewußt, eine Hypothese über dessen Körperlichkeit gemacht, und geht eben daran, dieselbe auf die Probe zu stellen. Hiermit ist aber für sie der Prozeß zu Ende, während der Mensch im analogen Falle gerade erst hier zu staunen und zu denken beginnt.
2. In der Tat ist die naturwissenschaftliche Hypothesenbildung nur eine weitere Entwicklungsstufe des instinktiven primitiven Denkens, und wir können zwischen diesem und jener alle Übergänge aufweisen.293 In einem sehr gut bekannten Tatsachengebiete werden auch nur sehr geläufige naheliegende[232] Vermutungen auftreten, welchen man die Hypothesennatur kaum anmerkt, obwohl von einem qualitativen Unterschiede nicht die Rede sein kann. So verhält es sich in den oben angeführten Beispielen. Ob Kolumbus im Westen ein Land, oder Leverrier in einer gewissen Richtung einen störenden, dorthin ablenkenden Planeten vermutet, in beiden Fällen wird eine Beobachtung nur in ganz geläufiger Weise nach der täglichen Erfahrung des Beobachters durch die Vermutung ergänzt. Je mehr die Beobachtungen, an die wir anknüpfen, neu, ungewöhnlich und uns fremd sind, desto sonderbarer, ungewöhnlicher sind auch die Vermutungen. Doch müssen auch die hier auftretenden Vorstellungen dem Stoffe der Erfahrung entnommen sein, so wunderlich dieselben auch kombiniert sein mögen. Ein Blitzschlag und der noch seltener auftretende Meteoritenfall erzeugt den Gedanken eines geschleuderten Donnerkeils und werfender Titanen. Die Mammutfunde in Sibirien führten die Einwohner zu der Vermutung, daß man es hier mit einer riesigen in der Erde wühlenden Ratte (Mäusemutter, Wühlochse, Fen-schu der Chinesen) zu tun habe, welche sterbe, sobald sie an die Luft komme. Für Vogelklauen gehaltene Rhinoceroshörner in goldreicher, unwirtlicher Gegend gaben Anlaß zur Vorstellung der goldbewachenden Greifen, des Vogels Roch u.s.w. In bedeutender Höhe gefundene Muschellager legen die Vorstellung der Sintflut nahe.294
3. Die wissenschaftlichen Ansichten knüpfen unmittelbar an die volkstümlichen an, von welchen sie anfänglich überhaupt nicht zu trennen sind, und entwickeln sich allmählich aus diesen. Der Himmel erscheint uns aus physiologischen Gründen als eine Kugel von einem bestimmten nicht einmal sehr großen Radius. Das ist die volkstümliche und auch die erste wissenschaftliche Ansicht. Der nächtliche Anblick führt uns dazu, dieser Kugel eine Drehung zuzuschreiben, und die Sterne an derselben für befestigt und vor dem Fallen geschützt zu halten. Die ungleichen Bewegungen, die nun bei näherem Zusehen an den Planeten, an dem Monde und an der Sonne bemerkt werden, führen zur Annahme mehrerer durchsichtiger ineinander geschachtelter[233] Sphären mit verschiedenen Drehungen. So entwickelt sich allmählich die Epicykeltheorie, das ptolemäische, das antike heliozentrische und das kopernikanische System. Der Mond steht in einer Beziehung zur Flutwelle, das entgeht auch dem Volke nicht. Solange die Forscher nur mit Druck und Stoß als Bewegungsursachen vertraut sind, glauben sie an eine Luftdruckwelle, die der Mond unter sich hertreibt. Bei Vertrautheit mit Fernwirkungen wird der Druck durch einen Zug abgelöst.
4. Die Wirkung der vorläufigen Ergänzung der Tatsache in Gedanken ist zunächst eine raschere Erweiterung der Erfahrung. Der Seemann, in dessen Phantasie durch die an die Küste getriebenen Objekte das Bild des fernen Landes mit sinnlicher Lebendigkeit auftaucht, sucht nach demselben. Ob er es findet oder nicht, ob dessen Lage und Natur seiner Vorstellung entspricht, oder nicht, ob er auch statt der vermuteten indischen oder chinesischen Küste eine neue findet, auf jeden Fall hat er seine Erfahrung erweitert. Wer Körperlichkeit des Spiegelbildes erwartend dieser nachgeht, ohne sie zu finden, kennt von nun an eine neue Art von Gesichtsobjekten, welchen zwar die Körperlichkeit fehlt, deren Bedingung aber das Vorhandensein anderer körperlicher Objekte ist. Selbst in jenen Fällen, in welchen die gedankliche Ergänzung keine neuen Erfahrungen auszulösen vermag, bringt sie doch die schon gesammelten in einen übersichtlichen Zusammenhang. So verhält es sich mit der Vorstellung über das Mammut. Daß es in der Erde gefunden wird, daß sein Fleisch noch frisch ist, daß es nur tot gefunden wird, folgt alles aus der Vorstellung, die man sich über dasselbe gebildet hat. Dasselbe läßt sich an dem astronomischen Beispiel erläutern. Wenn die Ergänzung mit lebhafter sinnlicher Anschaulichkeit auftritt, und zugleich mit der Überzeugung der Auffindbarkeit des Hinzugedachten, ist sie besonders geeignet, die zur Erweiterung der Erfahrung nötige Tätigkeit hervorzurufen. Die gedankliche Ergänzung ist eine Gedankenerfahrung, welche zur Erprobung durch die physische Erfahrung antreibt.
5. Wenn wir nun die naturwissenschaftliche Hypothese näher ins Auge fassen, so sehen wir zunächst, daß alles, was durch[234] die Beobachtung noch nicht unmittelbar festgestellt werden konnte, Gegenstand einer gedanklichen Ergänzung, Vermutung, Annahme, Voraussetzung oder Hypothese sein kann. Wir können nicht direkt beobachtete Teile der Tatsache als vorhanden annehmen; der Geologe und Paläontologe wird sehr häufig in die Lage kommen, dies zu tun. Es können über die Folgen einer Tatsache Annahmen gemacht werden, wenn dieselben nicht unmittelbar eintreten, oder nicht direkt beobachtet sind. Die Formen der Gesetze einer Tatsache sind oft Gegenstand einer Annahme, da ja eigentlich nur unendlich viele Beobachtungen mit Ausschluß aller störenden Umstände das Gesetz liefern könnten. Die Annahmen aber, die man vorzugsweise als Hypothesen bezeichnet, beziehen sich auf die Bedingungen einer Tatsache, welche dieselben verständlich machen, es sind die Erklärungshypothesen. Diese wollen wir jetzt ausschließlich betrachten. »Hypothesis« heißt, altem Gebrauch entsprechend, die Summe der Bedingungen, unter welchen ein mathematischer Satz, die Thesis gilt, und aus der Hypothesis abgeleitet, d.h. demonstriert, bewiesen werden kann. Hier ist die »Hypothesis« das Gegebene, welches zudem an gar keine andere Bedingung, als die mathematische und logische Möglichkeit, gebunden ist; die Thesis ist das Erschlossene. In der Naturwissenschaft haben wir umgekehrt von der gegebenen sicheren Tatsache auszugehen, den regressiven, analytischen, unbestimmten Schluß auf die Bedingungen auszuführen. Viele Möglichkeiten bieten sich in diesem Falle dar, und dieselben sind desto zahlreicher, je unvollständiger noch die Erfahrung ist, die in diesem Gebiet noch neben der Logik viel mehr mitzusprechen hat, als in der Mathematik. Eine vorläufige versuchsweise Annahme zum Zwecke des leichteren Verständnisses von Tatsachen, welche aber dem tatsächlichen Nachweis sich noch entzieht, nennen wir eine Hypothese.295 Die Vorläufigkeit kann von sehr verschiedener[235] Dauer sein, einen Augenblick währen, wie in dem Beispiel des Spiegelbildes, oder ein Jahrhundert und ein Jahrtausend, wie im Fall der Emissionshypothese des Lichtes und des ptolemäischen Systems. Das psychologisch-logische Wesen der Hypothese wird hierdurch nicht geändert.
6. Eine entschiedene Abneigung gegen Hypothesen hat Newton an den Tag gelegt. Seine erste philosophische oder Forschungsregel lautet: »An Ursachen zur Erklärung der Natur nicht mehr zuzulassen, als wirklich sind, und zur Erklärung der Erscheinungen ausreichen.«296 Sie enthält eine deutliche Mahnung, keine Erklärungen zu erdichten, wenn das tatsächlich Bekannte zum Verständnis ausreicht. In derselben Schrift findet sich noch eine zweite für Newtons Haltung charakteristische Stelle. »Rationem vero harum gravitatis proprietatum ex phaenomenis nondum potui deducere, et hypotheses non fingo. Quidquid enim ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est, et hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occultarum, seu mechanicae, in philosophia experimentali locum non habent. In hac philosophia propositiones deducuntur ex phaenomenis, et redduntur generales per inductionem.«297 In diesem Zusammenhange kann das vielzitierte »hypotheses non fingo« zunächst, und zwar mit Recht, auf eine weitere Erklärung der Schwere bezogen werden. Newton hat die tatsächlich bestehende verkehrt quadratische Schwerebeschleunigung nachgewiesen, aus den Erscheinungen abgeleitet. Diese ist also keine Hypothese. Woher aber diese Eigenschaften der Schwere kommen, weiß er nicht, vermag es den Erscheinungen nicht zu entnehmen, und lehnt es ab, eine erdichtete Erklärung vorzubringen. Dies geht mit voller Deutlichkeit aus den zwei folgenden Stellen der Briefe Newtons an Bentley hervor. Newton schreibt:[236]
»You sometimes speak of gravity as essential and inherent to matter. Pray do not ascribe that notion to me; for the cause of gravity is what I do not pretend to know, and therefore would take more time to consider of it.« (Jan. 17, 1692-1693.)
»It is inconceivable, that inanimate brute matter should, without the mediation of something else, which is not material, operate upon, and affect other matter without mutual contact; as it must do, if gravitation, in the sense of Epicurus, be essential and inherent in it. And this is one reason, why I desired you would not ascribe innate gravity to me. That gravity should be innate, inherent and essential to matter, so that one body may act upon another at a distance through a vacuum, without the mediation of any thing else, by and through which their action and force may be conveyed from one to another, is to me so great an absurdity, that I believe no man who has in philosophical matters a competent faculty of thinking, can ever fall into it. Gravity must be caused by an agent acting constantly according to certain laws; but whether this agent be material or immaterial, I have left to the consideration of my readers.« (Febr. 25. 1692-1693.)298[237]
7. Newtons Forschungsweg und Stellung scheint also ganz klar. Er wurde zu der Annahme geführt, daß die Massen Fernwirkungen aufeinander ausüben, analog jener der Erde auf die zur selben fallenden Körper. Er nahm ferner an, daß diese Fernwirkung verkehrt proportional dem Quadrate der Entfernung sei. Als es sich aber durch die analytische Untersuchung zeigte, daß durch diese Annahmen alle Bewegungen im Planetensystem und auf der Erde wirklich dargestellt werden, hörte diese Vorstellung auf für ihn Hypothese zu sein. Sie war für Newton ein Ergebnis der Analyse der Erscheinungen. Er trennte dies scharf von der Frage, ob die Fernwirkung selbst weiter auf Einfacheres zurückgeführt, erklärt werden könne. Dies letztere allein blieb für ihn Gegenstand der Spekulation oder »Hypothese«. Es wäre gewiß eine schwere Schädigung des wissenschaftlichen Fortschritts gewesen, diese beiden Dinge als gleichwertig zu betrachten, dieselben zu konfundieren, oder die Annahme der Fernwirkung wegen ihrer wirklichen oder scheinbaren Unerklärbarkeit unausgesprochen zu lassen.
Die Auffassung aber, als ob Newtons Ablehnung von Hypothesen sich nur auf das Gebiet der Mechanik und Gravitation bezöge, ist jedoch nicht aufrecht zu halten. Denn im Gebiete der Optik, in welcher er selbst reichlich Hypothesen entwickelt, die er aber auch immer sorgfältig von dem Tatsächlichen trennt, und als solche bezeichnet, spricht er sich ebenfalls sehr abfällig über den Wert der Hypothesen aus.299
»Quemadmodum in mathematica, ita etiam in physica, investigatio rerum difficilium ea methodo, quae vocatur analytica, semper antecedere debet eam quae appellatur synthetica. Methodus analytica est, experimenta capere, phaenomena observare; indeque conclusiones generales inductione inferre, nec ex adverso ullas objectiones admittere, nisi quae vel ab experimentis vel ab[238] aliis certis veritatibus desumantur. Hypotheses enim, in philosophia quae circa experimenta versatur, pro nihilo sunt habendae.«300
8. Man hat sich viel Mühe gegeben, Newtons Aussprüche und sein Verhalten in Einklang zu bringen. Wenn dies aber auch nicht ganz gelingen sollte, so wäre dies nicht so schlimm. Auch bedeutende Menschen sprechen und schreiben zuweilen in Stimmungen, in welchen sie etwas mehr behaupten als sie aufrecht zu halten vermögen. Solche Fälle findet man bei Newton mehrere, bei Descartes gewiß viele. Ich glaube jedoch, daß Newtons Worte und sein Verhalten als Forscher sehr wohl verständlich sind. Wollte man das »hypotheses non fingo« ohne Vorbehalt nehmen, so würde es heißen: »Ich vermute nichts über das hinaus, was ich sehe, ich mache mir über die Beobachtung hinaus gar keine Gedanken.« Diese Auffassung widerlegt Newton auf jeder Seite seiner Schriften. Er zeichnet sich gerade durch seinen Reichtum an Vermutungen aus. Er weiß auch sehr rasch durch Experimente, die unbrauchbaren, welche die Probe nicht bestehen, auszuscheiden. Was nicht aus den Erscheinungen abgeleitet werden kann, sagt er, ist eine Hypothese. Demnach ist das, was aus den Erscheinungen folgt, in seinem Sinn keine Hypothese, sondern, wenn wir uns seine Denkweise aneignen, ein Ergebnis der analytischen Untersuchung. Gebraucht er auch Bilder, um seine Gedanken zu veranschaulichen, so legt er denselben doch keinen besonderen Wert bei. Könnte man ihn etwa fragen, was er an seiner Vorstellung der Lichtpolarisation für wesentlich halte, so würde er wohl sagen, die verschiedenen Seiten des Lichtstrahls, denn diese seien ein Ergebnis der analytischen Untersuchung, die Teilchen aber mit magnetähnlichen Eigenschaften seien ein gleichgültiges veranschaulichendes Bild, das auch durch ein anderes ersetzt werden könnte. Die scharfe prinzipielle Unterscheidung und sehr verschiedene Bewertung des wirklichen, definitiv festgestellten Wissens, und der bloßen Vermutung, bezw. der bildlichen Darstellung, spricht sich bei Newton überall aus. Irrtümer im einzelnen sind dieser Tendenz gegenüber nicht von Belang.[239]
9. Verschiedene Autoren haben sich bemüht, die Anforderungen, welche an eine gute naturwissenschaftliche Hypothese gestellt werden müssen, zu präzisieren. Sehr weitläufig hat sich J. St. Mill301 darüber ausgesprochen. Seine Forderung, daß die Hypothese sich auf die Annahme einer schon als vorhanden bekannten Ursache für das zu Erklärende, einer wahren Ursache (vera causa im Newtonschen Sinne) aufbauen müsse, hat F. Hillebrand302 eingehend als nicht haltbar dargetan. Man kann Mills Grundsätze, wie Hillebrand gezeigt hat, nicht befolgen, ohne doch fortwährend mit denselben in Widerspruch zu geraten. In der Tat würde man, mit dem Beginn der bewußten Forschung, nach Mills Prinzipien, die augenblickliche Unwissenheit in Permanenz erklären; es könnte von da an, durch Denken wenigstens, keine wesentlich neue Entdeckung mehr gemacht werden.303 Jevons, dessen Ausführungen auf den Naturforscher den angenehmen Eindruck der vollen Vertrautheit mit dem Gegenstande machen, hält es für genügend, daß eine Hypothese mit den Tatsachen in Übereinstimmung sei.304 Beispiele werden dies übrigens besser erläutern, als allgemeine abstrakte Darlegungen.
10. Die wesentliche Funktion einer Hypothese besteht darin, daß sie zu neuen Beobachtungen und Versuchen führt, wodurch unsere Vermutung bestätigt, widerlegt oder modifiziert, kurz die Erfahrung erweitert wird. Sehr gesunde Ansichten hierüber äußert schon Priestley in seiner Geschichte der Optik. »The very imperfect views and conclusions of the philosophers of this period exhibit an amusing and instructive prospect; as they demonstrate that it is by no means necessary to have just views, and a true hypothesis, a priori, in order to make real discoveries. Very lame and imperfect theories are sufficient to suggest useful experiments, which serve to correct those theories, and give birth to others more perfect. These then occasion farther experiments, which bring us still nearer to[240] the truth, and in this method of approximation, we must be content to proceed, and we ought to think ourselves happy, if, in this slow method, we make any real progress«.305 Man kann den Gebrauch der Hypothese am besten durch ein Verfahren erläutern, welches in der Mathematik unter dem Namen der »regula falsi« bekannt ist. Man will eine numerische Gleichung x4 + ax3 + bx2 + cx +d = 0 versuchsweise auflösen, und substituiert einen gewissen Wert x1 für x, d.h. man macht über diesen Wert eine bestimmte Voraussetzung. Das Polynom erhält dadurch den Wert + m1 statt 0. Eine andere Substitution x2 führt etwa zu dem Werte – m2 des Polynoms. Dann können wir zwischen x1 und x2 eine Wurzel der Gleichung suchen. Haben wir aber einen Wert x' gefunden, welcher das Polynom auf einen kleinen Wert μ reduziert, so können wir die Differenzen des x' von der Wurzel x, also (x – x') und die Werte μ einander proportional setzen, und uns dadurch dem Werte x, der Wurzel, beliebig annähern.306
11. Als Beispiel betrachten wir zunächst die Wärmestoffhypothese. Dieselbe enthält eine anschauliche Vorstellung, welche als psychisches Phantasie-Merkmal associativ dem sinnlichen Wärmemerkmal eines Körpers hinzugefügt wird. Die Beobachtung des Feuers, der Erwärmung eines Körpers durch einen anderen wärmeren, und auf Kosten des letzteren, hat die Stoff- oder Flüssigkeitsvorstellung in ganz naiver, natürlicher, unwillkürlicher Weise entwickelt. Diese Vorstellung stellt zunächst[241] die Tatsachen, welche sie erzeugt haben, lebhaft anschaulich dar, erleichtert aber auch die Auffindung neuer: der Richmannschen Mischungsregel, der Verschiedenheit der spezifischen Wärme, der Dampf- und Schmelzwärme, indem sie der Beobachtung auf halbem Wege entgegenkommt. Ganz ähnlich entstehen die elektrischen Fluidumsvorstellungen unter Leitung der Tatsachen der Mitteilung des elektrischen Zustandes, der Funkenbildung u.s.w. Die Vorstellung der in dem Leiter beweglichen, in dem Nichtleiter festgehaltenen Flüssigkeiten, an welchen die Anziehungs- und Abstoßungskräfte haften, reproduziert aber nicht nur in anschaulicher Weise die bekannten Tatsachen, sondern fördert auch die Auffindung ganz neuer: der Ladung der Leiter an der Oberfläche, der Verteilung der Ladung nach der Krümmung, der Influenz, ja sogar der quantitativen Coulombschen Gesetze. Wie viel solche Vorstellungen als indirekte Beschreibungen307 noch bleibenden Wert haben, nachdem sie längst überwunden sind, und nicht mehr ernst genommen werden, sieht man z.B. daraus, daß man auch heute die Produktion einer bestimmten Elektrizitätsmenge, entsprechend dem Faradayschen elektrolyptischen Grundgesetz, an einen proportionalen Stoffaufwand gebunden denken muß.
12. Auch die Emissionshypothese in Bezug auf das Licht gehört zu der Klasse der Stoffhypothesen. Die Beobachtung eines Lichtstrahls, der Verdichtung und Verdünnung von Strahlen mit Vergrößerung und Verkleinerung der Helligkeit führt ganz ohne Absicht dazu, den Strahl als einen Flüssigkeit-, Staub- oder Projektilstrahl aufzufassen, und nur die Flüchtigkeit des Lichtes stellt sich dieser Auffassung gelegentlich wieder in den Weg. Die große Anpassungsfähigkeit der Hypothesen an die Tatsachen zeigt sich darin, daß die Stoffhypothese des Lichtes, welche uns heute als eine so ungelenkige erscheint, Malus nicht verhindert hat, das sogenannte Cosinusquadratgesetz, das Teilungsgesetz des polarisierten Strahls, in zwei zueinander senkrecht polarisierte Komponenten zu finden. Dasselbe Gesetz, welches Fresnel aus der Erhaltung der lebendigen Kraft des Lichtes ableitete, gewann Malus höchstwahrscheinlich, indem er sich[242] von dem unausgesprochenen Gedanken beherrschen ließ, daß bei der Teilung in Komponenten die Quantität des Lichtstoffes unverändert bleiben müsse, was wieder nur bei Erfüllung des Cosinusquadratgesetzes in einfachster Weise zutrifft. Jevons308 hat Unrecht, derartige Stoffhypothesen als bloß beschreibende aus den eigentlich erklärenden auszuscheiden. Jede Hypothese muß die Tatsache, für welche sie zunächst gemacht ist, darstellen. Dies folgt schon aus der einzigen Forderung, die Jevons selbst an eine Hypothese stellt. Wie weit oder wie wenig eine Hypothese über diese Tatsache hinausreicht, welche zu deren Entstehung Anlaß gegeben hat, ob sie zu vielen oder wenigen Entdeckungen verhilft, das hängt vom Glück ab.
13. Bei Bildung einer Hypothese sucht man den Eigenschaften einer Tatsache unter den besonderen beschränkten Umständen, welche die Beobachtung eben kennen gelehrt hat, gerecht zu werden, ohne natürlich voraus zu wissen, ob ihr diese Eigenschaften auch noch unter andern allgemeinem Umständen zukommen werden, ob also die Hypothese auch noch unter diesen Umständen passen, und wie weit sie reichen wird. Den Stoff, die Elemente zu den hypothetischen Vorstellungen können wir nur unserer derzeit bekannten sinnlichen Umgebung entlehnen, durch Beachtung von Fällen, welche mit den aktuellen eine Ähnlichkeit oder Analogie darbieten. Ähnlichkeit ist nicht Identität. Ähnlichkeit ist teilweise Gleichheit, teilweise Verschiedenheit. Darin liegt schon, daß eine nach der Analogie aufgestellte Hypothese bei Erweiterung der Erfahrung in manchen Fällen zutreffen, in anderen Fällen gewiß nicht zutreffen wird. Die Hypothese ist also schon ihrer Natur nach dazu bestimmt, im Laufe der Untersuchung geändert, den neuen Erfahrungen angepaßt, ja wieder fallen gelassen, durch eine ganz neue oder durch die volle Kenntnis der Tatsachen ersetzt zu werden.
Forscher, die sich das eben Gesagte gegenwärtig halten, werden bei Aufstellung einer Hypothese nicht gar zu ängstlich sein. Etwas Mut bei dieser Gelegenheit ist im Gegenteil sehr förderlich. Die Huygenssche Wellenhypothese paßte durchaus nicht allseitig, und ihre Begründung ließ viel zu wünschen[243] übrig, machte auch noch späten Nachfolgern viel zu schaffen. Hätte aber Huygens um dieser Schwierigkeiten willen die Hypothese fallen gelassen, so wäre viel Vorarbeit für Young und Fresnel ungetan geblieben, und diese Forscher hätten sich wahrscheinlich auf den ersten Anlauf beschränken müssen.
14. Die Emissionshypothese der Optik paßt sich allmählich den neu zuwachsenden Erfahrungen an. Ein gleichmäßiger Emissionsstrom genügt Grimaldi nicht mehr. Seine Beugungsstreifen führen ihn zur Vorstellung eines wellenförmigen Abflusses der Lichtflüssigkeit, wahrscheinlich nach Analogie der Stauungswellen. Für Newton handelt es sich nicht mehr um einen einfachen Emissionsstrom, sondern um eine große Zahl sich deckender, qualitativ verschiedener Emissionsströme. In Newtons Hand wird die Hypothese sogar der Periodizität des Lichts gerecht, wenn auch in unzureichender, ungelenkiger Weise, und auf Grund von teilweise unrichtigen Erfahrungsprämissen. Endlich tritt die Wellenhypothese offen an die Stelle der Emissionstheorie. Zunächst nimmt sie in der Huygensschen Form keine Rücksicht auf die Periodizität und Polarisation. Die Hookesche führt zwar das Element der Periodizität ein, weiß dasselbe aber, anderer Unvollkommenheiten nicht zu gedenken, in keine angemessene Beziehung zu den Farben zu setzen. Young und Fresnel endlich vereinigen in ihren Hypothesen die Vorzüge der Huygensschen und Hookeschen; namentlich Fresnel weiß die Mängel beider zu beseitigen und neue Eigenschaften mit Rücksicht auf die Polarisation hinzuzufügen. So arbeitet die Erfahrung unausgesetzt an der Umwandlung und Vervollständigung unserer Vorstellungen.309
15. Aber auch die Vorstellungen, welche wir uns gebildet[244] haben, äußern ihren Einfluß auf den Gang der Erfahrung. Die Grimaldischen Streifen veranlassen uns auch, dem einzelnen Lichtstrahl eine periodische Beschaffenheit zuzuschreiben, obgleich dieselbe an diesem nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, sondern sich nur bei Kombination von Strahlen unter besonders günstigen Bedingungen äußert. Dieser Gedanke wird durch die Wellenhypothese sehr anschaulich und lebendig gestaltet. Indem wir nun die Vorstellung der Periodizität, die in einem Falle gewonnen wurde, in allen Fällen, wo Lichtstrahlen auftreten, festhalten, bereichern wir durch diesen Gedanken jede optische Tatsache. Wir denken eigentlich zu jedem Fall mehr hinzu als man in demselben sieht, wir bereichern jeden optischen Fall um den Grimaldischen. Der so ausgestattete Physiker wird sich nun, ganz wie jeder Mensch mit reicherer Erfahrung im praktischen Leben, dem Einzelfall gegenüber anders verhalten, als es ohne diese Nebenvorstellungen geschehen würde. Er wird mehr und anderes erwarten, wird seine Versuche anders anlegen. So wird es verständlich, daß Fresnel, der immer die Grimaldische Erfahrung gegenwärtig hat, über die Beugung, die Farben dünner Blättchen, die Reflexion und Polarisation anders denkt und experimentiert als Newton, Huygens und Malus.
16. Außer den Elementen, welche zur Darstellung der Tatsachen, aus der eine Hypothese geschöpft ist, unerläßlich sind, enthält dieselbe immer, oder doch gewöhnlich noch andere, die zu dieser Darstellung nicht notwendig sind. Denn die Hypothese wird nach einer Analogie gebildet, deren Ähnlichkeits- und Differenzpunkte unvollständig bekannt sind, da ja sonst nichts mehr daran zu erforschen wäre. Die Lichtlehre spricht z.B. von Wellen, während nur die Periodizität zum Verständnis der Tatsachen notwendig ist. Diese über die Notwendigkeit hinausgehenden accessorischen Elemente sind es, welche in der Wechselwirkung von Denken und Erfahrung von der Umwandlung ergriffen werden. Dieselben werden allmählich ausgeschieden, und durch notwendige Elemente ersetzt. So bleibt von der Emissionsvorstellung nichts übrig, als die große Fortpflanzungsgeschwindigkeit vieler verschiedener Lichter von verschiedener Periodizität in demselben Strahl. Diese Vorstellung deckt sich[245] in wesentlichen Punkten mit der an ihre Stelle tretenden Wellenhypothese, welche aber ihrerseits ihre accessorischen Elemente, die nach Analogie des Schalles gedachten longitudinalen Schwingungen, wieder fallen lassen muß.
17. Die Vorstellungen, die wir uns auf Grund der Beobachtungen gebildet haben, erregen Erwartungen, wirken aktiv und konstruktiv, drängen zu neuen Beobachtungen und Experimenten. Die haltbaren Elemente dieser Vorstellungen werden dadurch gestärkt, die unhaltbaren abgeworfen, modifiziert, gelegentlich auch durch neue ersetzt. Von besonderer Wichtigkeit sind solche Experimente, welche zur Entscheidung zwischen zwei die Tatsachen darstellenden Vorstellungen oder Vorstellungskomplexen nötigen. Die Frage, ob die Farben durch Brechung entstehen, oder schon vor der Brechung vorhanden sind, und nur durch Verschiedenheit des Brechungsexponenten sichtbar werden, hat Newton durch sein experimentum crucis entschieden. Es ist dies der von Bacon eingeführte, von Newton angenommene Name für solche zwischen zwei Ansichten entscheidende Experimente. Ein wichtiges derartiges Experiment ist Foucaults Versuch, durch welchen nachgewiesen wird, daß die Lichtgeschwindigkeit im Wasser kleiner ist als in der Luft, wodurch die Emissionstheorie als unhaltbar nachgewiesen und zu Gunsten der Vibrationstheorie entschieden wird. Die Entdeckung der Phasen der Venus durch Galilei entschied für das kopernikanische System, aus welchem diese Erscheinung notwendig folgte. In demselben Sinne wirkte die Beobachtung der von Hooke erwarteten Lotabweichung fallender Körper, sowie der Foucaultsche Pendelversuch.
18. Eine Hypothese kann in sehr verschiedener Art und in sehr verschiedenem Maße problematisch sein. Zur Erklärung des Saugens wurde die bekannte Hypothese des horror vacui erdacht. Würden wir nirgends in der Welt, unter keinerlei Umständen ein Vakuum antreffen, so könnten wir diese Auffassung festhalten. Eine andere Hypothese führt dieselben Erscheinungen auf den Druck zurück, den die Luft durch ihr Gewicht ausübt. Obgleich nun das Gewicht der Luft zur Zeit der Aufstellung dieser Erklärung bereits tatsächlich nachgewiesen war, so war diese Erklärung doch so lange eine Hypothese, bis[246] durch das Experiment von Torricelli und die Versuche von Pascal, namentlich durch das Bergexperiment, auch der tatsächliche Nachweis geliefert war, daß sich alle fraglichen Erscheinungen ohne Rest erklären lassen, und daß daneben nach einer anderen Erklärung weder ein Bedürfnis besteht, noch auch für dieselbe Raum bleibt. Obgleich also die eine Erklärung, um es deutlich auszudrücken, ganz freie Erfindung ist, die andere aber nur mit tatsächlichen Elementen operiert, so haben doch beide zur Zeit ihrer Aufstellung den Charakter der Hypothese. Ein anderes Beispiel ist die Erklärung kosmischer Bewegungen durch die Schwere. Die Vorstellung der tatsächlich gegebenen Schwerebeschleunigung wird mit einer verallgemeinernden Modifikation in das astronomische Gebiet eingeführt. Ich kann darin F. Hillebrand310 nicht beistimmen, daß in der Newtonschen Gravitationstheorie die Hypothese keine Rolle gespielt habe. Es ist ja richtig, in der fertigen Gravitationslehre kommt alles auf zweckmäßige Beschreibung der kosmischen Bewegungen durch Beschleunigungen hinaus. In diesem System geht auch die Beschleunigung eines Massenteilchens einfach ohne Rest in die irdische Schwerebeschleunigung über, wenn wir uns das Teilchen an der Oberfläche der Erde denken. Da ist also jede Hypothese überflüssig, indem sich die Erdschwere als ein spezieller Fall der Gravitation ergibt. Es ist auch logisch denkbar, daß jemand die Keplersche Bewegung rein phoronomisch analysiert, und darauf verfällt, sie durch Beschleunigungen zu beschreiben, welche den Radien nach der Sonne verkehrt quadratisch proportioniert und nach denselben gerichtet sind. Dieser Vorgang ist aber nach meiner Meinung psychologisch undenkbar. Wie soll jemand ohne leitende physikalische Vorstellung gerade auf die Beschleunigungen verfallen, warum nicht auf die ersten oder dritten Differentialquotienten? Wie soll jemand unter den unendlich vielen möglichen Zerlegungen der Bewegung nach zwei Richtungen gerade auf diejenigen verfallen, welche ein so einfaches Resultat liefern? Ich halte schon die Analyse der parabolischen Wurfbewegung für sehr schwierig, ohne die leitende Vorstellung der Schwerebeschleunigung,[247] die nur an einem viel einfacheren Fall gewonnen werden konnte, und die hier verwendet wird.
19. Die werdende Wissenschaft bewegt sich in Vermutungen und Gleichnissen – das läßt sich nicht in Abrede stellen. Je mehr sie sich aber der Vollendung nähert, desto mehr geht sie in bloße direkte Beschreibung des Tatsächlichen über. Die Analogie einer Tatsache zu anderen hilft uns nach neuen Eigenschaften suchen. Ob sich aber neue Übereinstimmungen oder Unterschiede gegen jene Analogie ergeben, jedenfalls gewinnt dabei die Erfahrung. Sowohl die beobachteten Übereinstimmungen, als auch die Differenzen bedeuten ebensoviele neue begriffliche Bestimmungen der Eigenschaften der Tatsachen. Die Anknüpfung der Forscher an die Vorgänger, welche den Verlust bereits erworbener Erfahrung ausschließt, ist für diesen Prozeß ebenso wichtig, wie der Wechsel der forschenden Individuen, Völker und Rassen, welcher die Vielseitigkeit und Unbefangenheit des Blickes verbürgt.
20. Die Hypothese führt also in ihrer selbstzerstörenden Funktion endlich zum begrifflichen Ausdruck der Tatsachen. Erinnern wir uns, durch welche Reihe von Annahmen und Korrekturen man zur Ansicht der transversalen Lichtschwingungen gelangte, die anfänglich als ganz abenteuerlich und ohne Analogie dastehend bedenklich gefunden wurde. Doch ist die Einsicht, daß die periodischen Eigenschaften des Lichtstrahls sich wie geometrisch summierbare Strecken in einem zweidimensionalen Räume (der zur Strahlenrichtung senkrechten Ebene) verhalten, lediglich ein begrifflicher Ausdruck der Tatsachen. Ebenso haben sich die Eigenschaften des Äthers, des lichtfortpflanzenden Raumes, der sich teilweise wie eine Flüssigkeit, teilweise aber wieder wie ein starrer Körper verhält, nach und nach begrifflich bestimmt. Die Auffassungen, welche sich so ergeben haben, sind keine Hypothesen mehr, sondern Forderungen der Denkbarkeit der Tatsachen, Ergebnisse der analytischen Untersuchung. Wir können an denselben als sicher festhalten, auch wenn wir gar keine Analogie dafür finden, wenn wir sonst nirgends in der Welt transversale Schwingungen oder eine Flüssigkeit, in der solche möglich wären, antreffen. Hätten Young und Fresnel die Annahme der transversalen Wellen wegen der Schwierigkeit[248] der Erklärung derselben verschwiegen, so hätte die Wissenschaft dadurch einen ebenso schweren Verlust erlitten, wie durch die Unterdrückung des Newtonschen Gravitationsgesetzes wegen analoger Bedenken. Wir dürfen vor ungewohnten Auffassungen, wenn sie auf sicheren Grundlagen ruhen, nicht zurückschrecken. Denn die Möglichkeit auf fundamental neue Tatsachen zu treffen hat nicht nur in den früheren Forschungsperioden bestanden, sie besteht auch jetzt noch fort und hat an keinem Tage aufgehört zu bestehen. In den Millschen, die Hypothese beschränkenden Regeln spricht sich eine große Überschätzung des bereits Gefundenen gegenüber dem noch zu Erforschenden aus.
21. Wenn wir abstrakt genug denken würden, so würden wir einer Tatsache nur diejenigen begrifflichen Merkmale zuschreiben, welche ihr notwendig zukommen. Wir hätten dann nichts zurückzunehmen, würden aber auch die Anregung zu neuen Versuchen durch anschauliche Analogien entbehren. Eine solche rein begriffliche Darstellung kann in abgeschlossenen Partien der Wissenschaft angewendet werden, in welchen die Hypothese, die nur in der werdenden Wissenschaft eine fördernde Funktion hat, keinen Raum findet. Der Gebrauch von Bildern, die mit Bewußtsein als solche verwendet werden, ist auch hier nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sehr zweckmäßig. Es gibt Tatsachen, die wir unmittelbar sinnlich wahrnehmen, die wir sozusagen mit einem Blick überschauen. Andere Tatsachen ergeben sich erst durch ein kompliziertes Beobachtungs- und begriffliches Reaktionssystem. Die Periodizität des Lichtes ist nicht ohne weiteres sichtbar, und deren Erfassung wird noch durch die hypermikroskopische Periodenlänge erschwert. Auch die Polarisation erkennt man nicht unmittelbar. Da wir nun mit anschaulichen sinnlichen Vorstellungen viel vertrauter sind, einfacher und geläufiger mit denselben verkehren, als mit abstrakten Begriffen, die sich doch immer auf anschauliche Vorstellungen als ihre letzten Grundlagen aufbauen; so lehrt uns schon der Instinkt, mit dem Lichtstrahl eine Welle von anschaulicher größerer Wellenlänge, mit bestimmter an die Reflexionsebene des polarisierenden Spiegels gebundener Schwingungsebene vorzustellen, welche sich bei analogen Versuchen ähnlich verhalten würde, wie jener Lichtstrahl. Mit Hilfe solcher Vorstellungen[249] übersehen wir rascher und leichter die Lichtphänomene als durch abstrakte Begriffe. Dieselben sind, um einen modifizierten Ausdruck von Hertz zu gebrauchen, Bilder von Tatsachen, deren psychische Folgen wieder Bilder der Folgen der Tatsachen sind. Hat man einmal genau festgestellt, worin das Bild mit der Tatsache begrifflich übereinstimmt, so verbindet dieses den Vorteil der Anschaulichkeit mit dem der begrifflichen Reinheit. Es ist nun geeignet, die durch neue (elektromagnetische, chemische) Tatsachen geforderten weiteren Bestimmungen ohne Widerstreben anzunehmen.
22. So sehr die Meinung verbreitet ist, daß in der Mathematik die Hypothese gar keine Funktion hat, so sei hier doch hervorgehoben, daß sie auch hier in der werdenden Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielt. Die Mathematik pflegt allerdings die Spuren ihres Entwickelungsganges in der Darstellung mehr als jede andere Wissenschaft zu beseitigen, wodurch allein jene Meinung entstehen konnte. Die vollkommen klare Erkenntnis der mathematischen Sätze ergibt sich aber auch nicht auf einmal, sondern wird durch gelegentliche Bemerkungen, Vermutungen, Gedankenexperimente und auch physische Experimente mit Zählobjekten und geometrischen Gebilden eingeleitet und vorbereitet, wie dies schon erwähnt wurde und noch zur Sprache kommen wird.311[250]
293 | Vgl. Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. 3. Aufl. S. 256. |
294 | Vgl. Tylor, Urgeschichte. S. 398-403. |
295 | Ich nehme hier mit einer geringen Modifikation den Ausdruck an, den P. Biedermann, Die Bedeutung der Hypothese, Dresden 1894, S. 10 gebraucht: »Solche Voraussetzungen nun, welche um der Tatsachen willen gemacht werden, aber selbst der tatsächlichen Nachweisung sich entziehen, nennen wir Hypothesen.« In dieser vortrefflichen Abhandlung ist die nahe Verwandtschaft zwischen dem, was im wissenschaftlichen Denken Hypothese, im volkstümlichen Denken aber Vermutung heißt, sehr klar dargelegt. – Unter allen Umständen können wir von einer Ergänzung der Tatsachen in der Vorstellung oder in Gedanken sprechen, geschieht dieselbe absichtlich und bewußt, so ist der Ausdruck Vermutung oder Annahme passender. |
296 | Philosophiae naturalis Principia mathematica. Lib. III. Regulae philosophandi. Reg. 1. |
297 | Ebendaselbst. Lib. III, Sect. V. |
298 | Newtoni Opera. Ed. Horseley. London 1782. Tom. IV, p. 437-438. In dem Briefwechsel mit Bentley handelt es sich für Newton darum, aus der Anordnung des Weltsystems Beweise für das Walten einer göttlichen Weisheit zu gewinnen. Der Ausdruck »inanimate brute matter« zeigt deutlich, daß Newton die beseelte Materie für etwas wesentlich anderes hält, und ihr mehr zutraut, als der rohen toten Materie. Der Dualismus, der uns von unseren wilden Urvätern her so fest in den Knochen steckt, ist auch heute nicht überwunden. Auch W. Thomson in seiner Arbeit »on the dynamical theory of heat« (1852) findet es notwendig zu sagen: »It is impossible, by means of inanimate material agency, to derive mechanical effect from any portion of matter by cooling it below the temperature of the coldest of the surrounding objects.« Und auch H. Hertz (Die Prinzipien der Mechanik 1894), welcher annimmt, daß die gesamte Physik mechanisch-atomistisch zu ergründen sei, hält es doch für nötig – 200 Jahre nach Newton – diese Auffassung (S. 165) ausdrücklich auf die unbelebte Natur zu beschränken. Boltzmann endlich behandelt (1897) die Frage »nach der objektiven Existenz der Vorgänge in der unbelebten Natur«. Ich gestehe offen, daß mir die »leblose« Materie nicht weniger rätselhaft scheint als die belebte, und daß ich die gegenteilige Auffassung für den Rest eines alten Aberglaubens halte. Solange man glaubt, die ganze Physik durch Mechanik erschöpfen zu können, und solange man die Mechanik selbst durch die bisher bekannten einfachen Lehren für erschöpft hält, muß das Leben wirklich als etwas hyperphysikalisches erscheinen. Beiden Auffassungen kann ich mich aber nicht anschließen. |
299 | Wer die Opposition Newtons gegen die Hypothesen übertrieben findet, wird dieselbe leichter verstehen, wenn er den Mißbrauch beachtet, welcher in der Descartesschen Zeit mit diesem Forschungsmittel getrieben wurde. |
300 | Newtoni Optice. Londini 1719. p. 412, 413. |
301 | Mill, Induktive Logik. Ed. Gomperz. 1885. II. S. 208-225. |
302 | Hillebrand, Zur Lehre von der Hypothesenbildung. Sitzungsber. d. Wiener Akademie. Philos.-histor. Cl. Bd. 134. 1896. |
303 | Vgl. auch A. Stöhr, Leitfaden d. Logik, S. 172 u. f. |
304 | Jevons, The principles of science. London, 1892. S. 510. |
305 | Priestley, History and present state of discoveries relating to vision, light and colours. London, 1772. Vol. I, p. 181. |
306 | Eine Besprechung des vorliegenden Buches durch Prof. G. Vailati in »Leonardo« hat mich auf drei kleine Abhandlungen von G. L. Le Sage, »Sur la méthode d'hypothèse«, und zwei Supplemente über die Analogie und die Exklusion aufmerksam gemacht, welche P. Prevost im zweiten Bande seines »Essai de Philosophie«, Genève, An XIII (S. 253-335) abgedruckt hat. Le Sage erläutert den Gebrauch der Hypothese in logischer Beziehung in der Tat sehr gut an mathematischen Beispielen. Die psychologische Bedeutung der Hypothese scheint mir weniger gewürdigt. Für den Deutschen ist auch interessant die Besonnenheit in Prevosts Philosophie, die nie den Kontakt mit den positiven Wissenschaften verliert zu einer Zeit, in welcher der ungezügelte Dämon der Spekulation sich in Deutschland aller Lehrstühle bemächtigt. Ich verdanke Prof. Th. Flournoy in Genf die Einsicht in dieses heute schwer zu beschaffende Buch. |
307 | Vgl. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. S. 267 u. f. |
308 | Jevons, Principles of science. S. 522 u. f. |
309 | Duhem (La Théorie physique, p. 364 u. f.) führt aus, daß Hypothesen vom Forscher nicht so sehr beliebig und willkürlich gewählt werden, als vielmehr im Laufe der historischen Entwicklung unter dem Eindruck der allmählich bekannt werdenden Tatsachen dem Forscher sich aufdrängen. Eine solche Hypothese besteht gewöhnlich aus einem ganzen Komplex von Vorstellungen. Ergibt sich nun, z.B. durch ein »experimentum crucis«, ein mit einer Hypothese unverträglicher Erfolg, so kann man diesen zunächst nur als dem ganzen Vorstellungskomplex widersprechend ansehen. In Bezug auf letzteren Punkt vgl. Duhem, l. c. p. 311 u. f. |
310 | Hillebrand, a. a. O. |
311 | Ausführliche Darlegungen über die Hypothese im engen Anschluß an die Spezialwissenschaften und deren Entwicklungsstufe s. bei E. Naville, La logique de l'hypothèse. Paris, 2me E. 1895. |
Ausgewählte Ausgaben von
Erkenntnis und Irrtum
|
Buchempfehlung
Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.
162 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro