|
[20] 1. Die Erfahrung wächst durch fortschreitende Anpassung der Gedanken an die Tatsachen. Durch Anpassung der Gedanken aneinander entsteht das übersichtlich geordnete, vereinfachte, widerspruchlose Gedankensystem, welches uns als Ideal der Wissenschaft vorschwebt. Meine Gedanken sind unmittelbar nur mir zugänglich, wie die meines Nachbars nur ihm direkt bekannt sind. Dieselben gehören dem psychischen Gebiet an. Erst durch deren Zusammenhang mit Physischem: Geberden, Mienen, Worten, Taten, kann ich auf Grund meiner Physisches und Psychisches umfassenden Erfahrung einen mehr oder weniger sicheren Analogieschluß auf die Gedanken des Nachbars wagen. Anderseits lehrt mich dieselbe Erfahrung auch meine Gedanken, mein Psychisches, als abhängig von der physischen Umgebung mit Einschluß meines Leibes und des Verhaltens meiner Nachbarn erkennen. Die Betrachtung des Psychischen durch »Introspektion« ist nicht erschöpfend; sie muß mit der Untersuchung des Physischen Hand in Hand gehen.
2. Wie Mannigfaltiges finde ich »in mir« vor, z.B. auf einem Gang zur Vorlesung! Meine Beine bewegen sich, ein Schritt löst den andern aus, ohne daß ich etwas Besonderes dazu tue, außer wenn es etwa ein Hindernis zu umgehen gilt. Ich komme an den Anlagen des Stadtparks vorbei, erblicke und erkenne das Rathaus, das mich an gotische und maurische Bauten erinnert, ebenso wie an den mittelalterlichen Geist, der in dessen Räumen herrscht. In der Hoffnung auf kulturwürdigere Zustände will ich mir eben die Zukunft ausphantasieren, als beim Überschreiten der Straße ein dahersausender Radfahrer mich streift und meinen unwillkürlichen Seitensprung auslöst. Ein leiser Groll gegen diese rücksichtslosen Geschwindigkeitsidealisten[20] tritt an die Stelle meiner Zukunftsphantasien. Der Anblick der Rampe des Universitätsgebäudes bringt mir nun mein Ziel, die Aufgabe der nächsten Stunde, nochmals in Erinnerung und beschleunigt meine Schritte.
3. Lösen wir dieses psychische Erlebnis in seine Bestandteile auf. Da finden wir zunächst diejenigen, welche in ihrer Abhängigkeit von unserm Leib: Offensein der Augen, Richtung der Augenachsen, normaler Beschaffenheit und Erregung der Netzhaut u.s.w. »Empfindungen« heißen, in ihrer Abhängigkeit von anderem Physischem: Anwesenheit der Sonne, greifbarer Körpern u.s.w. Merkmale, »Eigenschaften« des Physischen sind. Ich meine das Grün des Stadtparks, das Grau und die Formen des Rathauses, den Widerstand des Bodens, auf welchen ich trete, die streifende Berührung des Radfahrers u.s.w. Bleiben wir für die psychologische Analyse bei dem Ausdruck Empfindung. Gegenüber den Empfindungen, wie Heiß, Kalt, Hell, Dunkel, einer lebhaften Farbe, Ammoniakgeruch, Rosenduft u.s.w. verhalten wir uns in der Regel nicht indifferent. Sie sind uns angenehm oder unangenehm, d.h. unser Leib reagiert gegen dieselben mit mehr oder weniger intensiven Annäherungs- oder Entfernungsbewegungen, welche selbst wieder der Introspektion als Komplexe von Empfindungen sich darstellen. Im Beginn des psychischen Lebens lassen nur die Empfindungen deutliche, starke Erinnerungen zurück, an welche eine starke Reaktion geknüpft war. Mittelbar können aber auch andere Empfindungen im »Gedächtnis« bleiben. Der an sich recht gleichgültige Anblick der Flasche, welche Ammoniak enthielt, ruft die Erinnerung des Geruches hervor und hört dadurch auf, indifferent zu sein. Das ganze vorausgehende Empfindungsleben, soweit es in der Erinnerung aufbewahrt ist, wirkt nun bei jedem neuen Empfindungserlebnis mit. Das Rathaus, an dem ich vorbeigehe, wäre für mich nur eine räumliche Anordnung von farbigen Flecken, wenn ich nicht schon viele Gebäude gesehen, deren Gänge durchschritten, deren Treppen erstiegen hätte. Erinnerungen an mannigfaltige Empfindungen verweben sich hier mit der optischen Empfindung zu einem viel reicher ausgestatteten Komplex, der Wahrnehmung, von welcher wir die bloße augenblickliche Empfindung nur mit Mühe trennen. Wenn mehreren Personen dasselbe optische[21] Gesichtsfeld geboten wird, so wird die »Aufmerksamkeit« einer jeden in einer besonderen Richtung erregt, d.h. das psychische Leben derselben durch individuelle starke Erinnerungen in besondere Bewegung gesetzt. Ein älterer Herr, Ingenieur, macht in Begleitung eines 18jährigen Sohnes und eines 5jährigen Knaben einen Spaziergang durch eine Wiener Straße. Ihre Augen haben dieselben Bilder aufgenommen. Der Ingenieur hat aber fast nur die Straßenbahn, der Jüngling besonders die hübschen Mädchen und der Knabe vielleicht nur die Spielzeuge in den Auslagen der Mechaniker beachtet. Angeborene und erworbene organische Umstände spielen hier mit. Die Erinnerungsspuren älterer Empfindungserlebnisse, welche das psychische Schicksal neu eintretender Empfindungskomplexe wesentlich mitbestimmen, sich mit letzteren unvermerkt verweben und, an das Empfindungserlebnis anknüpfend, dieses weiterspinnend sich anschließen, wollen wir Vorstellungen nennen. Dieselben unterscheiden sich von den Empfindungen nur durch ihre geringere Kraft und durch ihre größere Flüchtigkeit und Veränderlichkeit, sowie durch die Art der Verknüpfung miteinander (Association). Eine neue Art von Elementen stellen sie den Empfindungen gegenüber nicht vor; sie scheinen vielmehr von derselben Natur zu sein wie diese.10
4. Neue Elemente scheinen auf den ersten Blick die Gefühle, Affekte, Stimmungen: Liebe, Haß, Zorn, Furcht, Niedergeschlagenheit, Trauer, Fröhlichkeit u.s.w. darzubieten. Betrachten wir aber diese Zustände genauer, so finden wir weniger analysierte Empfindungen, die mit weniger bestimmten, diffusen, unscharf lokalisierten Raumelementen innerhalb U verbunden sind, und die eine gewisse, aus der Erfahrung bekannte Reaktionsstimmung unseres Leibes von bestimmter Richtung kennzeichnen, welche bei genügender Stärke wirklich in Angriffs- oder Fluchtbewegungen ausbricht. Der Umstand, daß diese Zustände für die Gesamtheit ein viel geringeres Interesse haben, als für den einzelnen, und daß selbst für diesen deren Beobachtung viel schwieriger ist, weil die Elemente des Leibes nicht so offen für die Untersuchung daliegen, wie die allgemein zugänglichen[22] äußeren Objekte und die Sinnesorgane, bedingt eine geringere Kenntnis, eine schwierigere Beschreibung und eine unvollkommene Nomenklatur derselben. Gefühle können sowohl mit Vorstellungen als auch mit (außerhalb U lokalisierten) Empfindungen verknüpft sein. Bricht eine Reaktionsstimmung in eine durch einen Empfindungskomplex bestimmte bewußte Angriffs- oder Abwehrbewegung von voraus bekanntem Ziel aus, so sprechen wir von einem Willensakt. Wenn ich von einem Gang zur Vorlesung spreche, wenn man mir den Besuch eines fremden Gelehrten ankündigt, wenn ein Mann als gerecht bezeichnet wird, so vermag ich die gesperrt ausgesetzten Worte zwar nicht als einen bestimmten Komplex von Empfindungen oder Vorstellungen zu deuten; dieselben haben aber durch ihren vielfachen mannigfaltigen Gebrauch doch die Eigenschaft gewonnen, die betreffenden Komplexe, welche sie bezeichnen können, so zu umschreiben und zu umgrenzen, daß jedenfalls mein Verhalten, meine Reaktionsweise gegenüber diesen Komplexen hierdurch bestimmt ist. Worte, welche gar keine Komplexe von sinnlichen Erlebnissen bezeichnen könnten, wären eben unverständlich, ohne Bedeutung. Auch wenn ich die Worte: Rot, Grün, Rose gebrauche, hat die deckende Vorstellung schon einen beträchtlichen Spielraum. Derselbe erweitert sich in den oben angeführten Beispielen, noch mehr aber im wissenschaftlichen begrifflichen Denken, indem zugleich die Schärfe der Umgrenzung, welche unsere Reaktionsweise gegenüber den betreffenden Komplexen bestimmt, zunimmt. Der Übergang von den bestimmtesten sinnlichen Vorstellungen durch das vulgäre Denken bis zu dem abstraktesten wissenschaftlichen Denken ist ein ganz kontinuierlicher. Auch diese Entwicklung, welche durch den Gebrauch der Sprache ermöglicht ist, vollzieht sich zunächst ganz instinktiv, und ihr Ergebnis findet erst in der wissenschaftlichen Begriffsdefinition und der terminologischen Bezeichnung bewußte methodische Anwendung. Über die Kontinuität zwischen Individualvorstellung und Begriff und über die Empfindungen als Grundelemente alles psychischen Lebens kann uns der scheinbar weite Abstand von konkreter sinnlicher Vorstellung und Begriff nicht täuschen.
Es gibt also kein isoliertes Fühlen, Wollen und Denken.[23] Das Empfinden, welches zugleich physisch und psychisch ist, bildet die Grundlage alles psychischen Lebens. Die Empfindungen sind stets auch mehr oder weniger aktiv, indem sie bei den niederen Tieren unmittelbar, bei den höheren auf einem Umwege durch das Großhirn die verschiedensten Reaktionen des Leibes auslösen.11 Die bloße Introspektion ohne stete Rücksicht auf den Leib und demnach auf das gesamte Physische, von dem der Leib einen unabtrennbaren Teil ausmacht, vermag keine zureichende Psychologie zu begründen. Betrachten wir also einmal das organische, insbesondere des tierische Leben als Ganzes, bald mehr die physische, bald mehr die psychische Seite beachtend. Wählen wir auch solche Beispiele, in welchen dieses Leben sich in besonders einfachen Formen offenbart.
5. Der Falter, der auf prächtigen Schwingen von Blume zu Blume schwebt, die Biene, welche den eifrig gesammelten Honig der heimatlichen Vorratskammer zuführt, der bunte erzglänzende Sandläufer, der klug der haschenden Hand entwischt, bietet uns ein wohlvertrautes Bild überlegten, bedächtigen Handelns. Wir fühlen uns diesen kleinen Wesen verwandt. Sehen wir aber den Falter wiederholt sich versengend immer wieder in die Flamme fliegen, beobachten wir, wie die Biene am halb offenen Fenster ratlos summend stets gegen das undurchdringliche Glas anstürmt, sehen wir deren verzweifelte Verlegenheit bei geringer Verschiebung des Fluglochs, jagen wir als harmlose Spaziergänger durch unsern vorauseilenden Schatten den Sandläufer, ihn immer wieder aufscheuchend, kilometerweit auf unserm Wege vor uns her, während er doch so leicht ausweichen könnte, so wird es uns verständlich, wie Descartes darauf verfallen konnte, die Tiere als Maschinen, als eine Art wunderbarer oder unheimlicher Automaten anzusehen. Die treffende burschikose ironische Bemerkung der jungfräulichen Königin Christine, daß die Fortpflanzung der Uhren doch etwas Unerhörtes sei, war übrigens wohl geeignet, den Philosophen auf die Mängel seiner Auffassung hinzuweisen und ihn zur Vorsicht zu mahnen.
Betrachten wir nun aber genauer die beiden gegensätzlichen[24] Züge des tierischen Lebens, welche uns so widersprechend anmuten, so finden wir sie beide deutlich in unserer eigenen Natur ausgeprägt. Die Pupillen unserer Augen verengern sich maschinenmäßig bei hellerer Beleuchtung und erweitern sich ebenso regelmäßig entsprechend den Graden der Dunkelheit, ohne unser Wissen und Wollen, ganz so wie die Funktionen der Verdauung, der Ernährung und des Wachstums ohne unser bewußtes Tun sich vollziehen. Unser Arm hingegen, der sich streckt und die Lade des Tisches öffnet, wenn wir uns des darin liegenden Maßstabes erinnern, dessen wir augenblicklich bedürfen, scheint ganz ohne äußern Anstoß nur unserem wohl erwogenen Befehl zu gehorchen. Doch zieht sich die zufällig gebrannte Hand, der an der Sohle gekitzelte Fuß auch ohne Absicht und Überlegung, auch beim schlafenden und sogar beim apoplektisch gelähmten Menschen zurück. In der Bewegung der Augenlider, die sich bei plötzlicher Annäherung eines Gegenstandes unwillkürlich schließen, die aber auch willkürlich geschlossen und geöffnet werden, sowie in unzähligen andern Bewegungen, z.B. jenen des Atmens und Gehens, wechseln und mischen sich unausgesetzt beide Charakterzüge.
6. Die genaue Selbstbeobachtung der Vorgänge, die wir Erwägung, Entschluß, Willen nennen, lehrt uns einen einfachen Tatbestand kennen. An ein sinnliches Erlebnis, z.B. die Begegnung eines Freundes, der uns einlädt, ihn zu besuchen, ihn in seine Wohnung zu begleiten, knüpfen sich mannigfaltige Erinnerungen. Diese Erinnerungen werden nacheinander lebendig, wechseln und verdrängen sich gegenseitig. In der Erinnerung vernehmen wir die geistvolle Unterhaltung des Freundes, sehen wir sein Klavier in seinem Zimmer stehen, hören wir sein vorzügliches Spiel; jetzt fällt uns aber ein, daß heute Dienstag ist und daß ein zänkischer Herr an diesem Tage unsern Freund zu besuchen pflegt; wir lehnen die Begleitung dankend ab und entfernen uns. Wie auch unsere Entscheidung ausfallen mag, in den einfachsten wie in den verwickeltsten Fällen beeinflussen die zur Wirkung gelangenden Erinnerungen unsere Bewegungen gerade so bestimmt, lösen gerade dieselben Annäherungs- oder Entfernungsbewegungen aus, wie die betreffenden sinnlichen Erlebnisse, deren Spuren sie sind. Wir sind nicht Herren[25] darüber, welche Erinnerungen uns auftauchen und welche den Sieg davon tragen.12 In unsern »Willkürhandlungen« sind wir nicht minder Automaten als die einfachsten Organismen. Doch ist von diesen Automaten ein Teil des Mechanismus, der durch das Leben selbst fortdauernd kleine Veränderungen erfährt, nur für uns selbst sichtbar, bleibt dem fremden Beobachter verborgen, und die feineren Züge desselben können selbst unserer eigenen gespanntesten Aufmerksamkeit entgehen. So ist es also ein viel größerer, viel weniger durchsichtiger und übersichtlicher Ausschnitt des Weltgeschehens, ein räumlich und zeitlich viel weiter reichender Weltzusammenhang, der in unsern Willkürhandlungen zu Tage tritt, und deshalb erscheinen dieselben unberechenbar. Die Organe der niederen Tiere reagieren in verhältnismäßig regelmäßiger und einfacher Weise auf die Reize, die offen vor uns liegen. Alle maßgebenden Umstände scheinen fast auf einen Raum- und Zeitpunkt zusammengedrängt. Der Eindruck des Automatischen tritt hier besonders leicht hervor. Doch lehrt die feinere Beobachtung auch hier individuelle, teils angeborene, teils erworbene Unterschiede kennen. Große Verschiedenheit zeigt ja das Gedächtnis der Tiere je nach Genus und Spezies, kleinere auch nach dem Individuum. Von dem Hunde des Odysseus, der verendend und schon unfähig sich zu erheben, den nach 20 Jahren wiederkehrenden Herrn noch erkennt und wedelnd begrüßt, bis zur Taube, deren Gedächtnis für eine Wohltat kaum einen Tag vorhält und zur Biene, welche den Ort, der Futter bot, eben noch wiederfindet – welch ein Abstand! Ob wohl bei den niedersten Organismen das Gedächtnis gänzlich fehlt?[26]
Daß wir Menschen uns für etwas so ganz anderes zu halten geneigt sind, als die einfachst organisierten Tiere, liegt bloß an der Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Äußerungen unseres psychischen Lebens im Gegensatz zu denen jener Tiere. Die Fliege, deren Bewegungen durch Licht, Schatten, Geruch u.s.w. unmittelbar bestimmt und geleitet zu sein scheinen, setzt sich zehnmal verjagt immer wieder auf dieselbe Stelle des Gesichtes. Sie kann nicht nachgeben, bis sie erschlagen am Boden liegt. Der arme Hausierer, der in der Sorge um den Pfennig, welcher das Leben des Tages sichern soll, den behaglich hindämmernden Bourgeois wiederholt in seiner Ruhe stört, bis er mit einem kräftigen Fluch abgewiesen ist, hat sich nicht minder als Automat verhalten, wie der letztere; nur sind beide etwas weniger einfache Automaten.
7. Das fest Bestimmte, Regelmäßige, Automatische ist der Grundzug des tierischen und menschlichen Verhaltens, der uns nur in beiden Fällen in so verschiedenen Graden der Entwicklung und Komplikation entgegentritt, daß wir glauben können, zwei ganz verschiedene Grundmotive wahrzunehmen. Für das Verständnis unserer eigenen Natur ist es nun von der größten Wichtigkeit, den Zug von Bestimmtheit so weit zu verfolgen, als uns dies nur immer gelingen mag. Denn die Wahrnehmung einer Regellosigkeit bietet weder praktischen noch wissenschaftlichen Gewinn. Vorteil und Einsicht ergeben sich erst durch Auffindung der Regel in dem bisher für gesetzlos Gehaltenen. Die Annahme einer frei und gesetzlos wirkenden Seele wird sich immer schwer widerlegen lassen, da die Erfahrung immer einen undurchschauten Rest von Tatsachen aufweisen wird. Aber die freie Seele als wissenschaftliche Hypothese, und gar ein Forschen nach derselben ist meines Erachtens eine methodologische Verkehrtheit.13
Was uns insbesondere an den Menschen als frei, willkürlich, unberechenbar erscheint, schwebt nur wie ein leichter Schleier, wie ein Hauch, wie ein verhüllender Nebel über dem Automatischen. Wir sehen die menschlichen Individuen sozusagen aus zu großer Nähe. Das Bild ist daher mit zu vielen verwirrenden,[27] nicht sofort zu durchschauenden Einzelheiten überladen. Könnten wir die Menschen aus größerer Entfernung, aus der Vogelperspektive, vom Monde aus beobachten, so würden die feineren Einzelheiten mit den von individuellen Erlebnissen herrührenden Einflüssen für uns verschwinden, und wir würden nichts wahrnehmen, als Menschen, die mit großer Regelmäßigkeit wachsen, sich nähren, sich fortpflanzen. Eine Beobachtungsweise, welche das Individuelle absichtlich verwischt, ignoriert und nur die wesentlichsten, am stärksten zusammenhängenden Umstände ins Auge faßt, wird in der Statistik wirklich angewendet. In der Tat zeigen sich dann die Willkürhandlungen der Menschen von einer ebenso bestimmten Regelmäßigkeit, wie irgend ein vegetativer oder selbst ein mechanischer Vorgang, bei welchem niemand an einen psychischen Einfluß, an den Einfluß eines Willens zu denken pflegt. Die Zahl der jährlichen Eheschließungen und Selbstmorde in einem Lande schwankt ebensowenig, oder noch weniger, als die Zahl der Geburten und der natürlichen Todesfälle, obgleich bei den ersteren der Wille gar sehr in Betracht kommt, bei den letzteren aber gar nicht. Wenn aber bei diesen Massenerscheinungen auch nur ein Element ohne Regel mitbestimmend wäre, so könnte auch in der größten Zahl der Fälle keine Regel mehr hervortreten.14
Nur einen kleinen Schritt hatte also Descarteszu tun, und nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen wären ihm als Automaten erschienen. Der große Zweifler gegenüber allem Geltenden hatte ja die beste Absicht, die ganze Welt zu mechanisieren, oder genauer gesagt, zu geometrisieren. Hier aber mochte ihm, angesichts der Macht der Inquisition und wohl auch angesichts der Macht seiner eigenen überkommenen Meinungen, die ja in seinem Dualismus lauten Ausdruck finden, der Mut des Zweifels abhanden gekommen sein. Von dieser Inkonsequenz kam schon Spinoza zurück. Unter den späteren ist Lamettrie15 wegen seiner homogenen Auffassung der Menschen[28] und der Tiere hervorzuheben, die in seiner Schrift »l'homme machine« 1748, sowie in dessen Abhandlungen »l'homme plante« und »les animaux plus que machines« hervortritt. Eine tiefe Philosophie darf man bei Lamettrie nicht suchen. Seine Schriften, wichtig für ihre Zeit, sind heute eine recht öde Lektüre. Das Gegenteil gilt von den Ausführungen seines Zeitgenossen Diderot, der in seinem geistvollen Artikel »Entretien entre D'Alembert et Diderot. Le rêve de D'Alembert« die modernen biologischen Ideen vorwegnimmt.
8. Der Reiz, lebende Wesen durch Automaten, durch Maschinen nachzuahmen und das Streben, dieselben hierdurch wenigstens teilweise zu verstehen, hat überall gewirkt, wo und wann man die Natur denkend zu erfassen suchte. Einer der ältesten Automaten, von dem wir mehr als fabelhafte Nachrichten haben, ist die fliegende Taube des Archytas von Tarent. Auch Heron von Alexandrien16 hat sich viel mit Konstruktion von Automaten beschäftigt und diese Bestrebungen wurden in späterer Zeit besser verstanden, als die allerdings bescheidenen Reste antiker Wissenschaft, welche in seinen Schriften überliefert sind. Im 16. Jahrhundert sehen wir die kunstvollen Uhren mit beweglichen Menschen- und Tierfiguren in Straßburg, Prag, Nürnberg u.s.w. entstehen, im 18. Jahrhundert Vaucansons schwimmende und fressende Ente, dessen Flötenspieler, dann Droz' zeichnenden Knaben und seine Klavierspielerin. So sehr man geneigt sein kann, derartige Versuche als bloße Spielerei zu betrachten, darf man doch nicht vergessen, daß die hierbei erworbenen Kenntnisse bei wissenschaftlichen Untersuchungen, wie sie Borelli in seinem Buche »de motu animalium« (1680) niedergelegt hat, unmittelbar verwertet werden können. Auch W. Kempelen macht mit seiner Sprechmaschine (beschrieben unter dem Titel: »Mechanismus der menschlichen Sprache, nebst Beschreibung einer sprechenden Maschine«, Wien 1791) einen wesentlichen, wissenschaftlichen Fortschritt.17 Ein guter Teil der wissenschaftlichen Physiologie kann als Fortsetzung der Arbeit der Automatenverfertiger[29] angesehen werden. Kempelen mit seinem automatischen Schachspieler, in welchem er einen Menschen verbergen mußte, liefert anderseits den allerdings überflüssigen Beweis, daß die Intelligenz nicht auf diese einfache, mechanische Weise ersetzt werden kann. Die Lebewesen sind eben Automaten, auf welche die ganze Vergangenheit Einfluß geübt hat, die sich im Laufe der Zeit noch fortwährend ändern, die aus andern ähnlichen entstanden sind und wieder solche zu erzeugen vermögen. Es besteht eine natürliche Neigung, daß man nachzuahmen, zu reproduzieren versucht, was man verstanden hat. Wieweit dies gelingt, ist wieder eine gute Probe des Verständnisses. Wenn wir den Nutzen betrachten, welchen der moderne Maschinenbau aus der Automatenkonstruktion gezogen hat, wenn wir die Rechenmaschinen, die Kontrollapparate, die Verkaufsautomaten betrachten, so dürfen wir noch weitere Fortschritte der technischen Kultur erwarten. Ein absolut verläßlicher automatischer Postbeamter, der eingeschriebene Briefe übernimmt, scheint durchaus nicht unmöglich, als erfreuliche Entlastung, der durch mechanische Manipulationen gequälten menschlichen Intelligenz.
Auf unserm Standpunkt haben wir keinen Grund, uns weiter mit dem Gegensatz des Physischen und Psychischen zu beschäftigen. Was uns allein interessieren kann, ist die Erkenntnis der Abhängigkeit der Elemente voneinander. Daß diese Abhängigkeit eine feste, wenn auch komplizierte und schwer ermittelbare sei, setzen wir vernünftigerweise voraus, wenn wir an die Erforschung gehen. Die bisherige Erfahrung hat uns diese Voraussetzung an die Hand gegeben, und jeder neue Forschungserfolg bestärkt uns in derselben, wie dies aus den folgenden Einzeluntersuchungen noch deutlicher hervorgehen wird.[30]
10 | Vgl. Analyse der Empfindungen. 4. Aufl., S. 159. |
11 | Vgl. A. Fouillée, La Psychologie des idées-forces. Paris 1893. – Dieser richtige und wichtige Gedanke ist dort nur etwas breit in zwei Bänden durchgeführt. |
12 | Aus dem Verkennen dieses Sachverhalts bei nachträglicher Überlegung ergibt sich die Reue, die nur einen Sinn und eine Bedeutung hat für künftige Wiederholungen derselben oder ähnlicher Situationen. Und da ist nicht Buße oder Sühne von Wert, sondern allein die Sinnesänderung. Die Frage der Freiheit und der Zurechnung kann sich nur darauf beziehen, ob das Individuum psychisch hinreichend entwickelt ist, um bei seinen Entschlüssen die Folgen seiner Handlungen für sich und andere in Betracht zu ziehen. – Man vergleiche die Ansichten, die A. Menger in seinem bemerkenswerten Buch »Neue Sittenlehre« (Jena, 1905) vertritt. Der Mut der Wahrhaftigkeit, den Menger in allen seinen Schriften bekundet, verdient alle Hochachtung. |
13 | Aus einer gänzlich verschiedenen philosophischen Grundstimmung gehen die Ansichten hervor, die H. Driesch in seinen Schriften vertritt. |
14 | Über diesen Punkt habe ich schon einige Bemerkungen gemacht: Vorlesungen über Psychophysik. Zeitschr. f. praktische Heilkunde. Wien. 1863. S. 148, 168, 169. |
15 | Lamettrie, Oeuvres philosophiques, précédées de son éloge par Frédéric II. Berlin. 1796. |
16 | Herons Werke herausg. von W. Schmidt. Leipzig. 1896. Bd. I. |
17 | Was von der Kempelenschen Sprechmaschine noch vorhanden ist, befindet sich in der physikalischen Sammlung der Wiener technischen Hochschule. (Mitteilung von Prof. Dr. A. Lampa.) |
Ausgewählte Ausgaben von
Erkenntnis und Irrtum
|
Buchempfehlung
1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro