[14] Erinnere Dich, seit wann Du das nun schon aufschiebst, und wie oft Dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass Du sie nutztest. Endlich solltest Du doch einmal einsehen, was das für eine Welt ist, der Du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Ausfluss Du bist; und dass Dir die Zeit zugemessen ist, die, wenn Du sie nicht brauchst Dich abzuklären, hin sein wird, wie Du selbst, und die nicht wiederkommt.
Immer sei darauf bedacht, wie es einem Manne geziemt, bei Allem was es zu thun giebt eine strenge und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimüthigkeit und Gerechtigkeit zu üben, und Dir dabei alle Nebengedanken fern zu halten. Und Du wirst sie Dir fern halten, sobald Du jede Deiner Handlungen als die letzte im Leben ansiehst: fern von jeder Unbesonnenheit[14] und der Erregtheit, die Dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal daran hängt. – Du siehst, wie Wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen von dem, der dies beobachtet, nicht Mehr.
Fahre nur immer fort, Dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst Du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen Jeglichen. Für Dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der Du ohne Selbstachtung Dein Glück ausser Dich verlegst in die Seelen Anderer.
Trotz Deines Bestrebens, an Erkenntniss zu wachsen und Dein unstätes Wesen aufzugeben, zerstreuen Dich die Aussendinge noch immer? Mag sein, wenn Du jenes Streben nur festhältst. Denn das bleibt die grösste Thorheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Dichten und Trachten hinrichtet.
Wenn man nicht herausbringen kann, was in des Andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber nothwendig unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im Unklaren ist.
[15] Daran musst Du immer denken, was das Wesen der Welt und was das Deinige ist, und wie sich beides zu einander verhält, nämlich was für ein Theil des Ganzen Du bist und zu welchem Ganzen Du gehörst, und dass Dich Niemand hindern kann, stets nur das zu thun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Theil Du bist.
Theophrast in seiner Vergleichung der menschlichen Fehler – wie diese denn allenfalls verglichen werden können – sagt: schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint ja der Zornige als ein Mensch, der nur mit ein ein gewissen Schmerze und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet: es zeuge von grösserer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann überhaupt den Einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem Andern, der Etwas aus Begierde thut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht aus heiler Haut.
[16]
Jegliches thun und bedenken wie Einer, der im Begriff ist das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter giebt, ist kein Unglück. Denn das Uebel hört dann doch wohl gerade auf. Giebt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Noch Mehr. Sie haben es, was die Uebel betrifft, und zwar die eigentlichen, ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Uebel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden. Denn wobei der Mensch nicht schlimmer wird, wie sollte dies sein Leben verschlimmern? Selbst die blosse Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein begabt vorstellen; gewiss ist, dass sie nicht vermag, dem Uebel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen – auch sie hätte dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zu Theil werden Hesse. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichthum und Armuth und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zu Theil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen:[17] also sind sie auch weder gut noch böse (weder ein Glück noch ein Unglück).
Wie doch Alles so schnell verbleicht! in der sichtbaren Welt die Leiber, in der Geisterwelt deren Gedächtniss! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmuth sich breit macht! wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, todt! – Man folge dem Zuge des Geistes; man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben; man untersuche, was eigentlich sterben heisst (und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken verstattet, darin nichts Anderes als ein Werk der Natur erkennen: kindisch aber wäre es doch, vor einem Werke der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten); man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Theile seines Wesens, und wie es mit diesem Theile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.
Nichts Elenderes als ein Mensch, der um Alles und Jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst Niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Conjecturen zu machen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen,[18] wie sich's gebührt. Das aber ist sein Dienst: ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil so Viele nicht wissen, was Güter und was Uebel sind, – eine Blindheit, nicht geringer als die, wenn man Schwarz und Weiss nicht unterscheiden kann.
Und wenn Du 3000 Jahre leben solltest, ja noch 10 Mal mehr, es hat ja doch Niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was erlebt, so wie Niemand ein anderes lebt, als was er einmal verlieren wird. Und so läuft das längste wie das kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für Alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlast des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem Niemand verlieren kann weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man Einem Etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? – An die beiden Dinge also müssen wir denken: einmal, dass Alles seiner Idee nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man 100 oder 200 Jahre lang oder ewig Ein und Dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am Längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie[19] der, der sehr bald stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und Niemand verlieren kann, was er nicht hat.
Die Seele des Menschen thut sich selbst den grössten Schaden, wenn sie sich von der Natur abzusondern, gleichsam aus ihr herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgend Etwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigenthümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie Jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, Jemand weh zu thun, wie allemal im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt; oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr Etwas thut oder spricht; oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern in's Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im Unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist: den Principien und Normen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.
Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Punkt; des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele – einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal[20] schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch: sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm die Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das Alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er Nichts ohne Ueberlegung thue, Nichts erlüge und erheuchele und stets unabhängig sei von dem, was Andere thun oder nicht thun, dass er Alles, was ihm widerfährt und zugetheilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller der Elemente, aus denen jegliches lebendige Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend in einander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemässe, und das Naturgemässe ist niemals vom Uebel.
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