[Erster Entwurf]

[384] 1. Bei der Behandlung der Genesis der kapitalistischen Produktion habe ich gesagt, daß ihr »die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde liegt« (p. 315, col. 1, éd. frçs. »Le Capital«) und: »die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist auf radikale Weise erst In England durchgeführt... Aber alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung« (l.c. col. 2).

Ich habe also die »historische Unvermeidlichkeit« dieser Bewegung ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt. Und warum? Vergleichen Sie, bitte, das Kapitel XXXII, wo zu lesen ist:

»Der Vernichtungsprozeß, der die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte bewirkt, der das zwerghafte Eigentum vieler zum riesigen Eigentum einiger weniger macht,... diese qualvolle und furchtbare Expropriation des arbeitenden Volkes – das ist der Ursprung, das ist die Genesis des Kapitals... Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist... wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, der Lohnarbeit gegründet ist« (p. 341, col. 2).

Auf diese Weise erfolgt hier in letzter Instanz die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Da aber das In den Händen der russischen Bauern befindliche Land niemals ihr Privateigentum gewesen ist, wie läßt sich diese Entwicklung auf sie anwenden?

2. Vom historischen Standpunkt aus gesehen ist das einzige ernsthafte Argument, das zugunsten der unvermeidlichen Auflösung der Gemeinde der russischen Bauern angeführt werden könnte, folgendes: Wenn man sehr weit zurückblickt, findet man überall in Westeuropa das Gemeineigentum eines[384] mehr oder weniger archaischen Typus'; es ist mit dem gesellschaftlichen Fortschritt überall verschwunden. Warum sollte es demselben Schicksal allein in Rußland entgehen?

Ich antworte: Weil in Rußland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch in nationalem Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann. Gerade auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion kann sie sich deren positive Errungenschaften aneignen, ohne ihre furchtbaren Wechselfälle durchzumachen. Rußland lebt nicht isoliert von der modernen Welt, noch weniger ist es die Beute eines fremden Eroberers wie Ostindien.

Wenn die russischen Verehrer des kapitalistischen Systems die theoretische Möglichkeit einer solchen Evolution verneinten, dann würde ich sie fragen: Ist Rußland wie der Westen gezwungen gewesen, eine lange Inkubationsperiode der Maschinenindustrie durchzumachen, um Maschinen, Dampfschiffe, Eisenbahnen etc. benutzen zu können? Mögen sie mir außerdem erklären, wie sie es zustande gebracht haben, im Handumdrehen den ganzen Tauschmechanismus (Banken, Kreditgesellschaften etc.) bei sich einzuführen, dessen Herausbildung dem Westen Jahrhunderte gekostet hat?

Wenn die Dorfgemeinde im Augenblick der Bauernemanzipation von vornherein in normale Umstände versetzt worden wäre; wenn ferner die ungeheure Staatsschuld, die zum größten Teil auf Kosten und zu Lasten der Bauern abgetragen wird, mit den anderen Riesensummen, die vom Staat (und immer auf Kosten und zu Lasten der Bauern) den »neuen Stützen der Gesellschaft« gewährt werden, die sich in Kapitalisten verwandelt haben; wenn alle diese Aufwendungen der Weiterentwicklung der Dorfgemeinde gedient hätten, dann würde heute niemand über die »historische Unvermeidlichkeit« der Vernichtung der Gemeinde grübeln: Alle würden in ihr das Element der Wiedergeburt der russischen Gesellschaft erkennen und ein Element der Überlegenheit über die Länder, die noch vom kapitalistischen Regime versklavt sind.

Ein weiterer für die Erhaltung der russischen Gemeinde (in ihrer Entwicklung) günstiger Umstand ist der, daß sie nicht nur Zeitgenossin der kapitalistischen Produktion ist und auch jene Periode überdauert hat, als sich dieses Gesellschaftssystem noch intakt zeigte, sondern daß sich dieses Gesellschaftssystem heute, in Westeuropa ebensogut wie in den Vereinigten Staaten, im Kampfe befindet gegen die Wissenschaft, gegen die Volksmassen[385] und gegen die Produktivkräfte, die es erzeugt.A1 Mit einem Wort, sie findet den Kapitalismus in einer Krise, die erst mit seiner Abschaffung, mit der Rückkehr der modernen Gesellschaften zum »archaischen« Typus des Gemeineigentums enden wird, oder, wie ein amerikanischer Autor der keineswegs revolutionärer Tendenzen verdächtig ist und in seinen Arbeiten durch die Regierung in Washington unterstützt wird, es sagt – das neue System, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, »wird eine Wiedergeburt (a revival) des archaischen Gesellschaftstypus in einer höheren Form (in a superior form) sein«. Man darf sich nur nicht allzusehr von dem Wort »archaisch« erschrecken lassen.

Aber es wäre dann mindestens notwendig, diese Wechselfälle zu kennen. Wir wissen jedoch nichts davon.

Die Geschichte des Verfalls der Urgemeinschaften (man würde einen Fehler begehen, wenn man sie alle über einen Leisten schlagen wollte; ebenso wie in den geologischen Formationen gibt es auch in den historischen Formationen eine ganze Reihe von primären, sekundären, tertiären etc. Typen) ist noch zu schreiben. Bisher hat man dazu nur magere Skizzen geliefert. Aber auf jeden Fall ist die Forschung weit genug vorgeschritten, um zu bestätigen: 1. daß die Lebensfähigkeit der Urgemeinschaften unvergleichlich größer war als die der semitischen, griechischen, römischen etc. Gesellschaften und a fortiori als die der modernen kapitalistischen Gesellschaften; 2. daß die Ursachen ihres Verfalls von den ökonomischen Gegebenheiten herrühren, die sie hinderten, eine gewisse Stufe der Entwicklung zu überschreiten, von historischen Milieus herrühren, die mit dem historischen Milieu der russischen Dorfgemeinde von heute keineswegs übereinstimmen.

Beim Lesen der von Bourgeois geschriebenen Geschichten der Urgemeinschaften muß man auf der Hut sein. Sie schrecken nicht einmal vor Fälschungen zurück. Sir Henry Maine z.B., der ein eifriger Mitarbeiter der englischen Regierung bei ihrem Werk der gewaltsamen Zerstörung der indischen Gemeinden war, versichert uns heuchlerisch, daß alle edlen Bemühungen der Regierung, diese Gemeinden zu erhalten, an der spontanen Gewalt der ökonomischen Gesetze gescheitert seien![386]

Auf die eine oder andere Weise ist diese Gemeinde in den unaufhörlichen äußeren und inneren Kriegen zugrunde gegangen; sie starb wahrscheinlich eines gewaltsamen Todes. Als die germanischen Stämme Italien, Spanien, Gallien etc. eroberten, hat ihre Gemeinde von archaischem Typus nicht mehr existiert. Ihre natürliche Lebensfähigkeit ist jedoch durch zwei Tatsachen erwiesen. Es gibt einige verstreute Exemplare, die alle Wechselfälle des Mittelalters überlebt und sich bis auf unsere Tage erhalten haben, z.B. in meiner Heimat, der Gegend von Trier. Aber am wichtigsten ist, daß sie der Gemeinde, von der sie verdrängt wurde, einer Gemeinde, in der das Ackerland Privateigentum geworden ist, während Wälder, Weiden, Ödland etc. immer noch Gemeineigentum bleibt, ihre charakteristischen Wesenszüge so deutlich aufgeprägt hat, daß Maurer, als er diese Gemeinde sekundärer Formation entdeckte, den archaischen Prototyp rekonstruieren konnte. Dank der diesem Prototyp entlehnten charakteristischen Züge wurde die neue, von den Germanen in allen eroberten Ländern eingeführte Gemeinde während des ganzen Mittelalters zum einzigen Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens.

Wenn wir nach der Epoche des Tacitus weder etwas vom Leben der Gemeinde noch von der Art und der Zeit ihres Verschwindens wissen, so kennen wir doch dank der Beschreibung Julius Cäsars wenigstens den Ausgangspunkt dieses Prozesses. Zu seiner Zeit wurde der Boden schon jährlich aufgeteilt, aber unter die Gentes und Stämme der germanischen Stammesverbände und noch nicht unter die einzelnen Mitglieder einer Gemeinde. Die Dorfgemeinde ist also in Germanien aus einem archaischeren Typus hervorgegangen, sie war hier das Produkt einer natürlichen Entwicklung, statt völlig fertig aus Asien eingeführt zu werden. Dort – in Ostindien – begegnen wir ihr auch und immer als der letzten Stufe oder letzten Periode der archaischen Formation.

Um die möglichen Schicksale der Dorfgemeinde von einem rein theoretischen Standpunkt zu beurteilen, d.h. immer unter der Voraussetzung normaler Lebensbedingungen, muß ich jetzt gewisse charakteristische Züge anführen, die die »Ackerbaugemeinde« von den archaischeren Typen unterscheidet.

Zunächst beruhen alle früheren Urgemeinschaften auf der Blutsverwandtschaft ihrer Mitglieder; indem sie dieses starke, aber enge Band zerreißt, kann die Ackerbaugemeinde sich besser anpassen, ausdehnen und dem Kontakt mit Fremden standhalten.

Dann sind in ihr das Haus und sein Zubehör, der Hof, schon Privateigentum des Ackerbauern, während bereits lange vor dem Aufkommen des[387] Ackerbaus das gemeinsame Haus eine der materiellen Grundlagen der vorangegangenen Gemeinschaften war.

Schließlich wird das Ackerland, obwohl es Gemeineigentum bleibt, periodisch zwischen den Mitgliedern der Ackerbaugemeinde derart aufgeteilt, daß jeder Ackerbauer die ihm zugewiesenen Felder auf eigene Rechnung bewirtschaftet und sich deren Früchte individuell aneignet, während in den archaischeren Gemeinschaften gemeinsam produziert und nur das Produkt aufgeteilt wurde. Dieser primitive Typus der genossenschaftlichen oder kollektiven Produktion war wohlbemerkt das Ergebnis der Schwache des einzelnen isolierten Individuums und nicht der Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

Es ist leicht zu verstehen, daß der der »Ackerbaugemeinde« innewohnende Dualismus sie mit großer Lebenskraft erfüllen kann, denn einerseits festigen das Gemeineigentum und alle sich daraus ergebenden sozialen Beziehungen ihre Grundlage, während gleichzeitig das private Haus, die parzellenweise Bewirtschaftung des Ackerlandes und die private Aneignung der Früchte eine Entwicklung der Persönlichkeit gestatten, die mit den Bedingungen der Urgemeinschaften unvereinbar war. Aber es ist nicht weniger offensichtlich, daß der gleiche Dualismus mit der Zeit zu einer Quelle der Zersetzung werden kann. Abgesehen von allen Einflüssen eines feindlichen Milieus, wirken schon die graduelle Akkumulation von beweglichem Reichtum, der mit dem Viehreichtum beginnt (und sogar den Reichtum an Leibeigenen zuläßt), die immer bedeutender werdende Rolle, die das bewegliche Element im Ackerbau selber spielt, und eine Menge anderer von dieser Akkumulation untrennbarer Umstände, deren Darlegung mich jedoch zu weit führen würde, als das zersetzende Element der ökonomischen und sozialen Gleichheit, und lassen innerhalb der Gemeinde selbst einen Interessenkonflikt entstehen, der zunächst die Umwandlung des Ackerlandes in Privateigentum nach sich zieht und mit der privaten Aneignung der bereits zu Gemeindeanhängseln des Privateigentums gewordenen Wälder, Weiden, des Brachlandes etc. endet. Deshalb stellt die »Ackerbaugemeinde« überall den jüngsten Typus der archaischen Gesellschaftsformation dar, und deshalb erscheint in der historischen Entwicklung des alten und des modernen Westeuropa die Periode der Ackerbaugemeinde als Übergangsperiode vom Gemeineigentum zum Privateigentum, als Übergangsperiode von der primären zur sekundären Formation. Aber heißt das, daß unter allen Umständen die Entwicklung der »Ackerbaugemeinde« diesen Weg nehmen muß? Keineswegs. Ihre Grundform läßt diese Alternative zu: entweder wird das in ihr enthaltene Element des Privateigentums über[388] das kollektive Element, oder dieses über jenes siegen. Alles hängt von dem historischen Milieu ab, in dem sie sich befindet... diese beiden Lösungen sind a priori möglich, aber für jede von ihnen ist offensichtlich ein völlig anderes historisches Milieu Voraussetzung.

3. Rußland ist das einzige europäische Land, in dem sich die »Ackerbaugemeinde« im nationalen Maßstabe bis auf den heutigen Tag behauptet hat. Sie ist nicht, wie Ostindien, die Beute eines fremden Eroberers, und sie lebt auch nicht isoliert von der modernen Welt. Einerseits gestattet ihr das Gemeineigentum am Boden, den parzellierten und individualistischen Ackerbau unmittelbar und allmählich in kollektive Bearbeitung umzuwandeln; und die russischen Bauern betreiben dies ja bereits auf den ungeteilten Wiesen. Die physische Beschaffenheit des russischen Bodens lädt zu einer maschinellen Bearbeitung in großem Maßstabe geradezu ein; das Vertrautsein des Bauern mit den Artelbeziehungen erleichtert ihm den Übergang von der Parzellen- zur genossenschaftlichen Arbeit, und schließlich schuldet ihm die russische Gesellschaft, die so lange auf seine Kosten gelebt hat, die notwendigen Vorschüsse für einen solchen Übergang.A2 Andererseits wird es Rußland ermöglicht, durch die Gleichzeitigkeit mit der westlichen Produktion, die den Weltmarkt beherrscht, der Gemeinde alle positiven Errungenschaften, die durch das kapitalistische System geschaffen worden sind, einzuverleiben, ohne durch das Kaudinische Joch gehen zu müssen.

Falls die Wortführer der »neuen Stützen der Gesellschaft« die theoretische Möglichkeit der Evolution der heutigen Dorfgemeinde verneinen würden, dann könnte man sie fragen, ob Rußland wie der Westen gezwungen gewesen sei, eine lange Inkubationsperiode der Maschinenindustrie durchzumachen, um zu Maschinen, Dampfschiffen, Eisenbahnen etc. zu gelangen? Man könnte sie auch fragen, wie sie es fertiggebracht haben, bei sich im Handumdrehen den ganzen Tauschmechanismus (Banken, Aktiengesellschaften etc.) einzuführen, dessen Herausbildung dem Westen Jahrhunderte gekostet hat?

Es gibt eine Eigentümlichkeit der »Ackerbaugemeinde« in Rußland, die sie schwächt und ihr in jeder Hinsicht schädlich ist. Das ist ihre Isolierung, die fehlende Verbindung zwischen dem Leben der einen Gemeinde mit dem der anderen, dieser lokal gebundene Mikrokosmos, den man zwar nicht[389] überall als einen immanenten Charakterzug dieses Typus antrifft, der aber überall, wo man ihn antrifft, einen mehr oder weniger zentralen Despotismus über die Gemeinden aufrichtet. Die Föderation der nordrussischen Republiken beweist, daß diese Isolierung, ursprünglich wahrscheinlich durch die unermeßliche Weite des Territoriums verursacht, zu einem großen Teil durch die politischen Schicksalsschläge gefestigt wurde, die Rußland seit der mongolischen Invasion zu erleiden hatte. Heute ist das ein Hindernis, das ganz leicht zu beseitigen wäre. Man müßte einfach die Wolost, eine Regierungsinstitution, durch eine Bauernversammlung ersetzen, die die Gemeinden selbst wählen und die als ökonomisches und administratives Organ ihren Interessen dienen würde.

Es ist ein vom historischen Gesichtspunkt aus äußerst günstiger Umstand für die Erhaltung der »Ackerbaugemeinde« auf dem Wege ihrer Weiterentwicklung, daß sie nicht nur Zeitgenossin der kapitalistischen Produktionsweise des Westens ist, und sich daher deren Ergebnisse aneignen kann, ohne sich ihrem modus operandi unterwerfen zu müssen, sondern daß sie auch die Periode überdauert hat, in der sich das kapitalistische System noch intakt zeigte. Jetzt dagegen befindet es sich, in Westeuropa wie in den Vereinigten Staaten, im Kampf sowohl mit den arbeitenden Massen, mit der Wissenschaft, als auch mit den Produktivkräften, die es selbst erzeugt hat – mit einem Wort, es durchlebt eine Krise, die mit der Beseitigung des Kapitalismus und der Rückkehr der modernen Gesellschaft zu einer höheren Form des »archaischen« Typus des kollektiven Eigentums und der kollektiven Produktion enden wird.

Es versteht sich, daß die Evolution der Gemeinde allmählich vor sich geht und daß der erste Schritt sein müßte, sie auf ihrer gegenwärtigen Basis in normale Bedingungen zu versetzen.A3

Aber ihr gegenüber erhebt sich das Grundeigentum, das fast die Hälfte des Bodens, und zwar den besseren Teil, in seinen Händen hält, ganz zu[390] schweigen von den Staatsdomänen. Eben deswegen stimmt die Erhaltung der »Dorfgemeinde« auf dem Wege ihrer Weiterentwicklung mit der allgemeinen Bewegung der russischen Gesellschaft überein, deren Wiedergeburt nur zu diesem Preis erkauft werden kann.

Sogar vom rein ökonomischen Gesichtspunkt aus kann Rußland aus der Sackgasse, in der sich seine Landwirtschaft befindet, nur durch die Entwicklung seiner Dorfgemeinde herauskommen; es würde ein vergebliches Bemühen sein, ihr durch das englische kapitalistische Pachtverhältnis zu entkommen, alle landwirtschaftlichen Bedingungen des Landes widersprechen dem.

Wenn man von allem Elend, das die russische Dorfgemeinde gegenwärtig bedrückt, absieht und nur die Form ihres Aufbaus und ihr historisches Milieu betrachtet, so ist es auf den ersten Blick augenscheinlich, daß einer ihrer charakteristischen Grundzüge, das Gemeineigentum am Boden, die natürliche Grundlage für die kollektive Produktion und Aneignung ist. Außerdem würde das Vertrautsein des russischen Bauern mit dem Artelverhältnis ihm den Übergang von der Parzellen- zur kollektiven Wirtschaft erleichtern, die er schon in gewissem Maße auf den ungeteilten Wiesen, bei den Entwässerungs- und anderen Arbeiten von öffentlichem Interesse durchführt. Aber damit die kollektive Arbeit im eigentlichen Ackerbau die Parzellenwirtschaft, die Quelle der privaten Aneignung, ersetzen kann, sind zwei Dinge notwendig: das ökonomische Bedürfnis zu einer solchen Umwandlung und die materiellen Voraussetzungen für ihre Durchführung.

Was das ökonomische Bedürfnis anbelangt, so würde es sich bei der »Dorfgemeinde« bereits von dem Augenblick an fühlbar machen, da sie in normale Bedingungen versetzt werden würde, d.h., sobald die Lasten, die auf ihr liegen, beseitigt wären und das von ihr zu bebauende Land eine normale Ausdehnung erlangt hätte. Die Zeit ist vorbei, da die russische Landwirtschaft nur des Bodens und des mit mehr oder weniger primitiven Geräten ausgerüsteten Parzellenbauern bedurfte. Diese Zeit ist um so rascher vorbei, da die Unterdrückung des Ackerbauern sein Feld erschöpft[391] und unfruchtbar macht. Er braucht jetzt die im großen Maßstab organisierte genossenschaftliche Arbeit. Und überdies, würde denn der Bauer, dem die notwendigsten Dinge für die Bebauung von 2 oder 3 Desjatinen fehlen, mit einer zehnfachen Anzahl Desjatinen besser dastehen?

Wo aber das Inventar, den Dung, die agronomischen Methoden etc., all die zur kollektiven Arbeit unerläßlichen Mittel hernehmen? Darin beruht gerade die große Überlegenheit der russischen »Dorfgemeinde« über die archaischen Gemeinden vom gleichen Typus. Sie allein hat sich in Europa im großen, nationalen Maßstabe behauptet. Sie befindet sich daher in einem historischen Milieu, wo die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion ihr alle Voraussetzungen für die kollektive Arbeit liefert. Sie kann sich alle positiven Errungenschaften aneignen, die von dem kapitalistischen System geschaffen worden sind, ohne dessen Kaudinisches Joch passieren zu müssen. Die physische Beschaffenheit des russischen Bodens lädt zu einer mit Hilfe von Maschinen betriebenen, in großem Maßstabe organisierten und auf genossenschaftlicher Arbeit beruhenden Landwirtschaft geradezu ein. Was die ersten Einrichtungskosten – intellektuelle und materielle Kosten – anbelangt, so schuldet die russische Gesellschaft diese der »Dorfgemeinde«, auf deren Kosten sie so lange gelebt hat und in der sie auch ihr »Element der Regeneration« suchen muß.

Der beste Beweis dafür, daß diese Entwicklung der »Dorfgemeinde« dem historischen Verlauf unserer Epoche entspricht, ist die verhängnisvolle Krise, die die kapitalistische Produktion in den europäischen und amerikanischen Ländern durchläuft, in denen sie den größten Aufschwung genommen hatte, eine Krise, die mit der Abschaffung des Kapitalismus und mit der Rückkehr der modernen Gesellschaft zu einer höheren Form des archaischsten Typus – der kollektiven Produktion und Aneignung – enden wird.

4. Um sich entwickeln zu können, muß man vor allem leben, und es ist für niemand ein Geheimnis, daß gegenwärtig das Leben der »Dorfgemeinde« gefährdet ist.

Um die Ackerbauern zu expropriieren, braucht man sie nicht von ihrem Land zu verjagen, wie das in England und anderweitig geschehen ist, man braucht auch nicht das Gemeineigentum durch einen Ukas abzuschaffen. Geht doch und nehmt den Bauern das Produkt ihrer landwirtschaftlichen Arbeit über ein gewisses Maß hinaus weg, und es wird euch trotz eurer Gendarmerie und eurer Armee nicht gelingen, sie an ihre Felder zu fesseln! In den letzten Jahren des Römischen Reichs flohen die Provinzdekurionen, keine Bauern, sondern Grundeigentümer, aus ihren Häusern, ließen ihre Ländereien im Stich, verkauften sich sogar in die Sklaverei, und das alles,[392] um sich von einem Eigentum zu befreien, das nur noch ein offizieller Vorwand war, um sie ohne Gnade und Barmherzigkeit auszupressen.

Nach der sogenannten Bauernemanzipation wurde die russische Gemeinde durch den Staat in anormale ökonomische Bedingungen versetzt, und seit dieser Zeit hat er nicht aufgehört, sie mit Hilfe der in seinen Händen konzentrierten gesellschaftlichen Kräfte zu unterdrücken. Entkräftet durch die fiskalischen Erpressungen, wurde sie zu einem widerstandslosen Objekt der Ausbeutung durch Handel, Grundbesitz und Wucher. Diese von außen kommende Unterdrückung hat innerhalb der Gemeinde selbst den bereits vorhandenen Interessenkonflikt entfesselt und die Keime der Zersetzung in ihr rasch entwickelt. Aber das ist nicht alles.A4 Auf Kosten und zu Lasten der Bauern hat der Staat jene Zweige des westlichen kapitalistischen Systems wie im Treibhaus großgezogen, die, ohne irgendwie die Produktivkräfte der Landwirtschaft zu entwickeln, am geeignetsten sind, den Diebstahl ihrer Früchte durch die unproduktiven Mittelsmänner zu erleichtern und zu beschleunigen. Er hat auf diese Weise zur Bereicherung eines neuen kapitalistischen Ungeziefers beigetragen, das der ohnehin geschwächten »Dorfgemeinde« die letzten Blutstropfen aussaugt.

... mit einem Wort, der Staat hat seinen Beistand zu einer voreiligen Entwicklung jener technischen und ökonomischen Mittel geliehen, die am geeignetsten waren, um die Ausbeutung des Ackerbauern, d.h. der größten Produktivkraft Rußlands, zu erleichtern und zu beschleunigen und die »neuen Stützen der Gesellschaft« zu bereichern.

5. Dieses Zusammenwirken zerstörender Einflüsse muß natürlich, wenn es nicht durch eine mächtige Gegenbewegung zerschlagen wird, zum Untergang der Dorfgemeinde führen.

Aber man fragt sich: Warum verschwören sich wissentlich alle diese Interessengruppen (einschließlich der unter der Vormundschaft des Staates stehenden großen Industrien), die bei dem jetzigen Zustand der Dorfgemeinde so gut auf ihre Kosten kommen, um die Henne zu töten, die ihnen goldene Eier legt? Eben darum, weil sie fühlen, daß »dieser jetzige Zustand« nicht mehr zu halten ist, daß infolgedessen die jetzige Methode, die Dorfgemeinde auszubeuten, nicht mehr zeitentsprechend ist. Schon hat[393] sich das Elend des Ackerbauern auf die Erde übertragen, die unfruchtbar wird. Die guten Ernten werden durch Hungersnöte aufgewogen. Der Durchschnitt der letzten zehn Jahre offenbarte nicht nur eine stagnierende, sondern sogar rückläufige landwirtschaftliche Produktion. Schließlich muß Rußland zum erstenmal Getreide importieren, statt es zu exportieren. Es gilt also, keine Zeit mehr zu verlieren. Man muß dem ein Ende bereiten. Man muß die mehr oder weniger begüterte Minderheit der Bauern zu einer ländlichen Mittelklasse konstituieren und die Mehrheit der Bauern in gewöhnliche Proletarier verwandeln. Zu diesem Zweck bezeichnen die Wortführer der »neuen Stützen der Gesellschaft« die von ihnen selbst der Gemeinde geschlagenen Wunden als natürliche Symptome ihrer Altersschwäche.

Da so viel verschiedene Interessengruppen und besonders diejenigen der »neuen Stützen der Gesellschaft«, die unter der wohlwollenden Herrschaft Alexanders II. errichtet wurden, bei dem jetzigen Zustand der »Dorfgemeinde« auf ihre Kosten gekommen sind, warum verschwören sie sich wissentlich, um ihren Tod herbeizuführen? Warum bezeichnen ihre Wortführer die ihr geschlagenen Wunden als unwiderlegbare Beweise ihrer natürlichen Hinfälligkeit? Warum wollen sie ihre Henne mit den goldenen Eiern töten?

Einfach, weil die ökonomischen Tatsachen, deren Analyse mich zu weit führen würde, das Geheimnis enthüllt haben, daß der jetzige Zustand der Gemeinde nicht mehr zu halten ist und daß schon allein durch den notwendigen Gang der Dinge die augenblickliche Art, die Volksmassen auszubeuten, bald nicht mehr zeitentsprechend sein wird. Also ist etwas Neues notwendig, und dieses unter den verschiedensten Formen insinuierte Neue läuft immer auf folgendes hinaus: das Gemeineigentum abschaffen, die mehr oder weniger begüterte Minderheit der Bauern als ländliche Mittelklasse konstituieren und die große Mehrheit der Bauern in gewöhnliche Proletarier verwandeln.

Einerseits ist die »Dorfgemeinde« schon bis an den Rand des Untergangs gebracht, und andererseits liegt eine mächtige Verschwörergruppe auf der Lauer, um ihr den Todesstoß zu versetzen. Um die russische Gemeinde zu retten, ist eine russische Revolution nötig. Übrigens tun die politischen und gesellschaftlichen Machthaber ihr Bestes, um die Massen auf eine solche Katastrophe vorzubereiten.

Zur selben Zeit, da man die Gemeinde schröpft, sie martert, ihr Land unfruchtbar macht und aussaugt, bezeichnen die literarischen Lakaien der »neuen Stützen der Gesellschaft« ironisch die Wunden, die man ihr geschlagen hat, als Symptome ihrer natürlich bedingten Altersschwäche. Man[394] behauptet, daß sie eines natürlichen Todes sterbe und daß man gut daran täte, ihre Agonie abzukürzen. Hier handelt es sich nicht mehr um ein Problem, das es zu lösen gilt, hier handelt es sich einfach um einen Feind, der geschlagen werden muß. Um die russische Gemeinde zu retten, ist eine russische Revolution nötig. Übrigens tun die russische Regierung und die »neuen Stützen der Gesellschaft« ihr Bestes, um die Massen auf eine solche Katastrophe vorzubereiten. Wenn die Revolution zur rechten Zeit erfolgt, wenn sie alle ihre Kräfte konzentriert, um den freien Aufschwung der Dorfgemeinde zu sichern, wird diese sich bald als ein Element der Regeneration der russischen Gesellschaft und als ein Element der Überlegenheit über die vom kapitalistischen Regime versklavten Länder entwickeln.[395]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 19, S. 384-396.
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