VII

[473] Verschiedenen günstigen Umständen war es zu verdanken, daß in Cadiz die fortschrittlichsten Männer Spaniens zusammenkamen. Als die Wahlen stattfanden, hatte die Bewegung noch nicht nachgelassen, und gerade der Unwille, den die Zentraljunta herausgefordert hatte, kam ihren Gegnern zugute, die zu einem großen Teil der revolutionären Minderheit des Landes angehörten. Beim ersten Zusammentritt der Cortes waren fast ausschließlich die demokratischen Provinzen Katalonien und Galicien vertreten; die Deputierten von León, Valencia, Murcia und den Balearen kamen erst drei Monate später. Die reaktionärsten Provinzen im Innern des Landes hatten, abgesehen von wenigen Orten, keine Erlaubnis, Wahlen für die Cortes vorzunehmen. Für die verschiedenen Königreiche, Städte und Orte des alten Spaniens, die durch die französischen Armeen gehindert wurden, Deputierte zu wählen, und für die überseeischen Provinzen Neuspaniens, deren Deputierte nicht rechtzeitig eintreffen konnten, wurden Ersatzvertreter gewählt aus der zahlreichen Schar derer, die durch die Kriegswirren aus den Provinzen nach Cadiz verschlagen worden waren, und aus den zahlreichen Südamerikanern, Kaufleuten, Eingeborenen und anderen, die Neugierde oder Geschäfte dorthin getrieben hatten. So kam es, daß die Vertreter dieser Provinzen Leute waren, die mehr Interesse an Neuerungen hatten und von den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts mehr durchdrungen waren, als das der Fall gewesen wäre, wenn die Provinzen selbst gewählt hätten. Schließlich war der Umstand von entscheidender Bedeutung, daß die Cortes gerade in Cadiz zusammentraten, denn diese Stadt galt damals als die radikalste im ganzen Königreich und glich mehr einer amerikanischen als einer spanischen Stadt. Ihre Bevölkerung füllte die Galerien des Saales,[473] in dem die Cortes tagten, und hielt die Reaktionäre durch ein System von Einschüchterung und Druck von außen im Zaum, wenn deren Opposition sich allzu widerwärtig breit machte.

Es wäre indes ein großer Irrtum, anzunehmen, daß die Mehrheit der Cortes aus Reformern bestand. Die Cortes waren in drei Parteien geteilt – die Serviles, die Liberales (diese Parteibezeichnungen gingen von Spanien auf ganz Europa über) und die Americanos, die mit der einen oder der anderen Partei stimmten, je nachdem ihr eigenes Interesse es erforderte. Die Serviles, an Zahl weit überlegen, wurden von der Tatkraft, dem Eifer und dem Enthusiasmus der liberalen Minderheit mitgerissen. Die geistlichen Deputierten, die die Mehrheit der Serviles bildeten, waren stets bereit, die königlichen Vorrechte preiszugeben, teils in Erinnerung an den alten Gegensatz zwischen Kirche und Staat, teils weil sie nach Popularität haschten, um sich dadurch die Privilegien und Vorrechte ihrer Kaste zu erhalten. Während der Debatten über das allgemeine Stimmrecht, das Einkammersystem, die Aufhebung des Vermögenszensus und über das aufschiebende Veto hielt sich die geistliche Partei stets zum demokratischeren Teil der Liberales gegen die Anhänger der englischen Konstitution. Einer von ihnen, der Kanonikus Cañedo, später Erzbischof von Burgos, ein unerbittlicher Verfolger der Liberales, wandte sich an Señor Muñoz Torrero, gleichfalls Kanonikus, aber Anhänger der Liberales, mit folgenden Worten:

»Ihr willigt darein, daß der König im Besitz einer ungeheuren Macht verbleibt, aber als Priester müßtet ihr doch viel eher die Sache der Kirche als die des Königs verfechten.«

Zu diesen Kompromissen mit der kirchlichen Partei sahen sich die Liberales gezwungen, wie wir schon an einigen Artikeln der Konstitution von 1812 gezeigt haben. Als über die Preßfreiheit verhandelt wurde, erklärten die Pfaffen sie als »religionsfeindlich«. Nach ungemein stürmischen Debatten, in denen erklärt wurde, alle Personen hätten die Freiheit, ohne besondere Erlaubnis ihre Meinung zu äußern, nahmen die Cortes doch einstimmig ein Amendement an, das durch die Einführung des Wortes politisch diese Freiheit auf die Hälfte reduzierte und alle Schriften über religiöse Angelegenheiten der Zensur der geistlichen Autoritäten unterstellte gemäß den Beschlüssen des Konzils von Trient. Als am 18. August 1811 ein Gesetz gegen alle diejenigen votiert wurde, die sich gegen die Konstitution verschwören würden, wurde ein weiteres Gesetz angenommen, wonach jeder, der eine Verschwörung anzettelte, um die spanische Nation zum Abfall vom katholischen Glaubensbekenntnis zu veranlassen, als Verräter verfolgt[474] werden und den Tod erleiden sollte. Als das Voto de Santiago abgeschafft war, wurde als Entschädigung eine Resolution durchgesetzt, in der die heilige Teresa de Jesus zur Schatzpatronin von Spanien ernannt wurde. Die Liberales hüteten sich auch, die Dekrete zur Abschaffung der Inquisition, der Zehnten, der Klöster usw. vorzuschlagen und durchzusetzen, ehe nicht die Konstitution verkündet war. Von diesem Augenblick an wurde jedoch die Opposition der Serviles innerhalb und die der Geistlichkeit außerhalb der Cortes unerbittlich.

Nun, da die Umstände auseinandergesetzt worden sind, denen die Konstitution von 1812 ihren Ursprung und ihre besonderen Merkmale verdankte, bleibt noch immer das Problem: wieso sie bei Ferdinands VII. Rückkehr so plötzlich und ohne Widerspruch verschwinden konnte. Selten hat die Welt ein kläglicheres Schauspiel gesehen. Als Ferdinand am 16. April 1814 in Valencia einfuhr,

»spannte sich das freudig erregte Volk vor seinen Wagen und gab auf jede nur mögliche Art und Weise durch Wort und Tat zu verstehen, daß es das alte Joch wieder auf sich zu nehmen wünschte, indem es rief: ›Lang lebe der absolute König!‹ ›Nieder mit der Konstitution!‹«

In allen großen Städten hatte man die Plaza Mayor, den Hauptplatz, »Plaza de la Constitución« genannt und daselbst einen Stein errichtet, der diese Inschrift trug. In Valencia wurde dieser Stein entfernt und eine provisorische Holzsäule an seine Stelle gesetzt, auf der zu lesen stand: »Real Plaza de Fernando VII«. Die Bevölkerung von Sevilla setzte sämtliche bestehenden Behörden ab, wählte andere an ihrer Stelle für alle Ämter, die unter dem alten Regime bestanden hatten, und verlangte von diesen dann die Wiedereinsetzung der Inquisition. Der Wagen des Königs wurde von Aranjuez bis Madrid vom Volke gezogen. Als er ausstieg, nahm ihn der Mob auf die Arme, zeigte ihn im Triumph der ungeheuren Menschenmenge, die vor dem Palast versammelt war, und trug ihn dann in seine Gemächer. Das Wort Freiheit stand in großen bronzenen Lettern über dem Eingang zum Saal der Cortes in Madrid. Der Pöbel eilte hin, um es zu entfernen. Man setzte Leitern an, brach einen Buchstaben nach dem andern gewaltsam aus den Mauern heraus, und so oft einer davon auf das Straßenpflaster geschleudert wurde, erneuerte sich das Triumphgeheul der Zuschauer. Was an Akten der Cortes und an Zeitungen und Flugschriften der Liberales erreichbar war, wurde gesammelt, eine Prozession wurde gebildet, in der die geistlichen Bruderschaften und die weltliche und Ordensgeistlichkeit die Führung übernahmen, die Papiere wurden auf einem der öffentlichen Plätze[475] aufgestapelt und mit ihnen eine Art politisches Autodafé veranstaltet, worauf die heilige Messe zelebriert und als Ausdruck der Dankbarkeit für den erlebten Triumph das Tedeum gesungen wurde. Bemerkenswerter als diese schamlosen Demonstrationen des städtischen Pöbels, der zum Teil für seine Ausschreitungen bezahlt war, zum Teil gleich den neapolitanischen Lazzaroni die liederliche Herrschaft der Könige und Mönche dem nüchternen Regiment des Bürgertums vorzog, erscheint die Tatsache, daß bei den zweiten allgemeinen Wahlen die Serviles einen entscheidenden Sieg davontrugen. Die konstituierenden Cortes wurden am 20. September 1813 durch die ordentlichen Cortes ersetzt, die ihre Sitzungen am 15. Januar 1814 von Cadiz nach Madrid verlegten.

In früheren Artikeln zeigten wir, wie die revolutionäre Partei selbst dazu beitrug, die alten Volksvorur teile wieder zu erwecken und zu stärken, in der Annahme, daß sich aus ihnen ebenso viele Waffen gegen Napoleon würden schmieden lassen. Wir sahen ferner, wie die Zentraljunta gerade in der Zeit, die es gestattet hätte, soziale Veränderungen Hand in Hand mit Maßregeln zur nationalen Verteidigung vorzunehmen, alles tat, was in ihrer Macht stand, um solche zu verhindern und die revolutionären Bestrebungen der Provinzen zu unterdrücken. Die Cortes von Cadiz hinwiederum, die fast während der ganzen Dauer ihres Bestehens von jeder Verbindung mit Spanien abgeschlossen waren, konnten infolgedessen ihre Konstitution und ihre organischen Dekrete erst dann in die Öffentlichkeit bringen, als die französischen Armeen sich zurückzogen. Die Cortes kamen also sozusagen post factum. Die Gesellschaft, an die sie sich wendeten, war ermüdet, erschöpft, leidend. Wie wäre es auch anders möglich gewesen nach einem so langwierigen, ausschließlich auf spanischem Boden geführten Krieg, einem Krieg, in dem die Armeen unausgesetzt in Bewegung waren, indes die Regierung von heute auf morgen beständig wechselte, und in dem es während sechs voller Jahre in ganz Spanien, von Cadiz bis Pamplona, von Granada bis Salamanca auch nicht einen Tag gab, an dem nicht Blut vergossen worden wäre. Es war kaum zu erwarten, daß eine so erschöpfte Gesellschaft sich für die abstrakten Schönheiten einer wie immer beschaffenen Konstitution besonders begeistern würde. Nichtsdestoweniger wurde die neue Konstitution, als sie zuerst in Madrid und in den von den Franzosen geräumten Provinzen proklamiert wurde, mit »überströmendem Jubel« begrüßt, denn die Massen erwarten bei einem Regierungswechsel stets ein plötzliches Verschwinden ihrer sozialen Übel. Als sie nun entdeckten, daß die Konstitution nicht die ihr zugeschriebenen Wunderkräfte besaß, verwandelten sich die übertriebenen Erwartungen, mit denen man sie bewillkommnet hatte, in die[476] bitterste Enttäuschung, und bei diesen leidenschaftlichen Südländern ist es nur ein Schritt von der Enttäuschung zum Haß.

Es gab auch sonst noch manche besondere Umstände, die hauptsächlich dazu beitrugen, die Sympathien des Volkes dem konstitutionellen Regime zu entfremden. Die Cortes hatten gegen die Afrancesados oder Josephites die strengsten Dekrete erlassen. Teilweise waren sie dazu durch das Rachegeschrei der Bevölkerung und der Reaktionäre veranlaßt worden, die sich aber sofort gegen die Cortes wandten, als die Dekrete, die sie von ihnen erpreßt hatten, zur Ausführung gelangen sollten. Mehr als zehntausend Familien wurden dadurch in die Verbannung geschickt. Eine Horde kleiner Tyrannen überflutete die von den Franzosen geräumten Provinzen; sie spielten sich als Prokonsuln auf und begannen Untersuchungen, Verfolgungen, Verhaftungen und inquisitorische Maßregeln gegen alle einzuleiten, die sich kompromittiert hatten durch ihre Parteinahme für die Franzosen, durch Annahme von Ämtern oder Ankauf von Nationaleigentum aus deren Händen etc. Statt den Übergang von der französischen zur nationalen Regierung in versöhnlicher und zurückhaltender Weise zu gestalten, tat die Regentschaft alles, was in ihrer Macht stand, um die Leidenschaften aufzupeitschen und die Schwierigkeiten zu verschärfen, die mit einem solchen Wechsel der Herrschaft untrennbar verknüpft sind. Warum aber tat sie das? Um von den Cortes die Suspendierung der Konstitution von 1812 verlangen zu können, die nach ihrer Behauptung diese aufreizenden Wirkungen hervorrief. En passant sei noch bemerkt, daß alle Regentschaften, diese von den Cortes eingesetzten obersten Exekutivbehörden, regelmäßig von den entschiedensten Gegnern der Cortes und ihrer Konstitution gebildet wurden. Diese merkwürdige Tatsache erklärt sich einfach dadurch, daß die Amerikaner stets mit den Serviles zusammengingen, wenn es sich um die Einsetzung der Exekutivgewalt handelte, deren Schwächung sie für notwendig hielten, um die amerikanische Unabhängigkeit vom Mutterland durchzusetzen; eine bloße Disharmonie zwischen der Exekutive und den souveränen Cortes hielten sie hierfür nicht ausreichend. Die Einführung einer einzigen direkten Steuer auf die Einkünfte aus Grundbesitz sowie aus Industrie und Handel erregte ebenfalls die größte Unzufriedenheit des Volkes gegen die Cortes, noch mehr aber die absurden Dekrete, die die Zirkulation von spanischen Geldsorten, die Joseph Bonaparte hatte prägen lassen, verboten und deren Besitzern befahlen, sie gegen nationale Münzen einzutauschen. Gleichzeitig wurde die Zirkulation von französischem Geld verboten und ein Tarif festgesetzt, zu welchem es in nationale Münzen eingewechselt werden sollte. Da sich dieser Tarif sehr von demjenigen unterschied, den die Franzosen 1808 für den[477] relativen Wert des spanischen und französischen Geldes aufgestellt hatten, so erlitten viele Privatpersonen große Verluste. Diese sinnlose Verfügung trug auch dazu bei, den Preis der wichtigsten Bedarfsartikel zu erhöhen, der ohnehin schon hoch über dem Durchschnitt stand.

Die Klassen, die an der Abschaffung der Konstitution von 1812 und an der Wiederherstellung des alten Regimes am meisten interessiert waren – die Granden, die Geistlichkeit, die Mönchsorden und die Juristen –, ließen es an nichts fehlen, die Unzufriedenheit des Volkes aufs äußerste zu schüren, welche ihre Ursache in den unglückseligen Verhältnissen hatte, die die Einführung des konstitutionellen Regimes in Spanien kennzeichneten. Daher der Sieg der Serviles bei den allgemeinen Wahlen von 1813.

Nur von seiten der Armee konnte der König ernsthaften Widerstand erwarten; doch General Elio und seine Offiziere brachen den auf die Konstitution geleisteten Eid, proklamierten Ferdinand VII. in Valencia zum König, ohne die Konstitution auch nur zu erwähnen. Dem Beispiel Elios folgten bald die anderen militärischen Befehlshaber.

In dem Dekret vom 4. Mai 1814, mit dem Ferdinand VII. die Cortes von Madrid auflöste und die Konstitution von 1812 aufhob, gab er gleichzeitig seinem Haß gegen jeglichen Despotismus Ausdruck, versprach, die Cortes unter den alten gesetzlichen Formen wieder einzuberufen, eine vernünftige Preßfreiheit einzuführen etc. Sein Versprechen hielt er auf die einzige Art und Weise, die dem spanischen Volk für den Empfang gebührte, den es ihm bereitet hatte: er schaffte alle Gesetze der Cortes wieder ab, stellte den vorherigen Stand der Dinge wieder her, setzte die heilige Inquisition wieder ein, rief die Jesuiten zurück, die sein Großvater verbannt hatte, verhängte über die hervorragendsten Mitglieder der Juntas, der Cortes und ihre Anhänger Galeerenstrafen, afrikanisches Gefängnis oder Exil und verurteilte schließlich die berühmtesten Guerillaführer Porlier und de Lacy zum Tode durch Erschießen.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1961, Band 10, S. 473-478.
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