C) Mein Selbstgenuß

[402] Die Philosophie, welche das Genießen predigt, ist in Europa so alt wie die kyrenäische Schule. Wie im Altertum die Griechen, sind unter den Neueren die Franzosen die Matadore in dieser Philosophie, und zwar aus demselben Grunde, weil ihr Temperament und ihre Gesellschaft sie am meisten zum Genießen befähigte. Die Philosophie des Genusses war nie etwas andres als die geistreiche Sprache gewisser zum Genuß privilegierter gesellschaftlicher Kreise. Abgesehen davon, daß die Weise und der Inhalt ihres Genießens stets durch die ganze Gestalt der übrigen Gesellschaft bedingt war und an allen ihren Widersprüchen litt, wurde diese Philosophie zur reinen Phrase, sobald sie einen allgemeinen Charakter in Anspruch nahm und sich als die Lebensanschauung der Gesellschaft im Ganzen proklamierte. Sie sank hier herab zur erbaulichen Moralpredigt, zur sophistischen Beschönigung der vorhandenen Gesellschaft, oder sie schlug in ihr Gegenteil um, indem sie eine unfreiwillige Askese für Genuß erklärte.

Die Philosophie des Genusses kam auf in der neueren Zeit mit dem Untergange der Feudalität und der Umwandlung des feudalen Landadels in den[402] lebenslustigen und verschwenderischen Hofadel unter der absoluten Monarchie. Bei diesem Adel hat sie noch mehr die Gestalt unmittelbarer naiver Lebensanschauung, die ihren Ausdruck in Memoiren, Gedichten, Romanen pp. erhält. Zur eigentlichen Philosophie wird sie erst unter den Händen einiger Schriftsteller der revolutionären Bourgeoisie, die einerseits an der Bildung und Lebensweise des Hofadels teilnahmen und andererseits die auf den allgemeineren Bedingungen der Bourgeoisie beruhende allgemeinere Anschauungsweise dieser Klasse teilten. Sie wurde deshalb von beiden Klassen, obwohl von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus, akzeptiert. War beim Adel diese Sprache noch ganz auf den Stand und die Lebensbedingungen des Standes beschränkt, so wurde sie von der Bourgeoisie verallgemeinert und an jedes Individuum ohne Unterschied gerichtet, so daß von den Lebensbedingungen dieser Individuen abstrahiert und die Genußtheorie dadurch in eine fade und heuchlerische Moraldoktrin verwandelt wurde. Als die weitere Entwicklung den Adel gestürzt und die Bourgeoisie mit ihrem Gegensatz, dem Proletariat, in Konflikt gebracht hatte, wurde der Adel devot-religiös und die Bourgeoisie feierlich-moralisch und streng in ihren Theorien, oder verfiel in die oben angedeutete Heuchelei, obwohl der Adel in der Praxis keineswegs aufs Genießen verzichtete und der Genuß bei der Bourgeoisie sogar eine offizielle ökonomische Form an nahm – als Luxus.75

Der Zusammenhang des Genießens der Individuen jeder Zeit mit den Klassenverhältnissen und den sie erzeugenden Produktions- und Verkehrsbedingungen, in denen sie leben, die Borniertheit des bisherigen, außer dem wirklichen Lebensinhalt der Individuen und zu ihm in Gegensatz stehenden Genießens, der Zusammenhang jeder Philosophie des Genießens mit dem ihr vorliegenden wirklichen Genießen und die Heuchelei einer solchen Philosophie, die sich an alle Individuen ohne Unterschied richtet, konnte natürlich erst aufgedeckt werden, als die Produktions- und Verkehrsbedingungen der bisherigen Welt kritisiert werden konnten, d.h. als der Gegensatz zwi-[403] schen Bourgeoisie und Proletariat kommunistische und sozialistische Anschauungen erzeugt hatte. Damit war aller Moral, sei sie Moral der Askese oder des Genusses, der Stab gebrochen.

Unser fader, moralischer Sancho glaubt natürlich, wie aus dem ganzen Buche hervorgeht, es komme nur auf eine andere Moral, auf eine ihm neu scheinende Lebensanschauung, auf das »Sich-aus-dem-Kopf-Schlagen« einiger »fixen Ideen« an, damit Alle ihres Lebens froh werden, das Leben genießen können. Das Kapitel vom Selbstgenuß könnte also höchstens unter einer neuen Etikette dieselben Phrasen und Sentenzen wiederbringen, die er schon so oft sich den »Selbstgenuß« machte, uns zu predigen. Das einzig Originelle darin beschränkt sich auch darauf, daß er allen Genuß verhimmelt und philosophisch verdeutscht, indem er ihm den Namen »Selbstgenuß« gibt. Wenn die französische Genußphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts wenigstens ein vorhandenes heiteres und keckes Leben in geistreicher Form schilderte, so beschränkt sich Sanchos ganze Frivolität auf Ausdrücke wie »Verzehren«, »Vertun«, auf Bilder wie »das Licht« (soll heißen die Kerze) und auf naturwissenschaftliche Erinnerungen, die entweder auf belletristischen Unsinn, wie daß die Pflanze »Luft des Äthers einsaugt«, daß »die Singvögel Käfer schlucken«, oder auf Falsa auslaufen, z.B. daß eine Kerze sich selbst verbrennt. Dagegen genießen wir hier wieder den ganzen feierlichen Ernst gegen »das Heilige«, von dem wir hören, daß es in seiner Gestalt als »Beruf – Bestimmung – Aufgabe«, »Ideal«, den Menschen bisher Ihren Selbstgenuß versalzen hat. Ohne im übrigen auf die mehr oder weniger schmutzigen Formen einzugehen, in denen das Selbst im »Selbstgenuß« mehr als eine Phrase sein kann, müssen wir dem Leser nochmals die Machinationen Sanchos gegen das Heilige, mit den geringen Modulationen dieses Kapitels, in aller Kürze vorführen.[404]

»Beruf, Bestimmung, Aufgabe, Ideal« sind, um dies kurz zu wiederholen, entweder

1. die Vorstellung von den revolutionären Aufgaben, die einer unterdrückten Klasse materiell vorgeschrieben sind; oder

2. bloße idealistische Paraphrasen oder auch entsprechender bewußter Ausdruck der durch die Teilung der Arbeit zu verschiedenen Geschäften verselbständigten Betätigungsweisen der Individuen; oder

3. der bewußte Ausdruck der Notwendigkeit, in der Individuen, Klassen, Nationen sich Jeden Augenblick befinden, durch eine ganz bestimmte Tätigkeit ihre Stellung zu behaupten; oder

4. die in den Gesetzen, der Moral pp. ideell ausgedrückten Existenzbedingungen der herrschenden Klasse (bedingt durch die bisherige Entwicklung der Produktion), die von Ihren Ideologen mit mehr oder weniger Bewußtsein theoretisch verselbständigt werden, in dem Bewußtsein der einzelnen Individuen dieser Klasse als Beruf pp. sich darstellen können und den Individuen der beherrschten Klasse als Lebensnorm entgegengehalten werden, teils als Beschönigung oder Bewußtsein der Herrschaft, teils als moralisches Mittel derselben. Hier, wie überhaupt bei den Ideologen, ist zu bemerken, daß sie die Sache notwendig auf den Kopf stellen und ihre Ideologie sowohl für die erzeugende Kraft wie für den Zweck aller gesellschaftlichen Verhältnisse ansehen, während sie nur ihr Ausdruck und Symptom ist.

Von unsrem Sancho wissen wir, daß er den unverwüstlichsten Glauben an die Illusionen dieser Ideologen hat. Weil die Menschen sich je nach ihren verschiedenen Lebensverhältnissen verschiedne Vorstellungen von sich, d.h. dem Menschen machen, so glaubt Sancho, daß die verschiedenen Vorstellungen die verschiedenen Lebensverhältnisse gemacht und so die Engrosfabrikanten dieser Vorstellungen, die Ideologen, die Welt beherrscht haben. Vgl. p. 433.

»Die Denkenden herrschen in der Welt«, »der Gedanke beherrscht die Welt«; »die Pfaffen oder Schulmeister« »setzen sich allerlei Zeug in den Kopf«, »sie denken sich ein Menschenideal«,

wonach sich die Übrigen richten müssen (p. 442). Sancho kennt sogar ganz genau den Schluß, wonach die Menschen den Schulmeistergrillen unterworfen wurden und in ihrer Dummheit sich selbst unterwarfen:

»Weil es Mir« (dem Schulmeister) »denkbar ist, ist es den Menschen möglich, weil den Menschen möglich, so sollten sie es sein, so war es ihr Beruf; und endlich nur nach diesem Beruf, nur als Berufene hat man die Menschen zu nehmen. Und der weitere[405] Schluß? Nicht der Einzelne ist der Mensch, sondern ein Gedanke, ein Ideal ist der Mensch – Gattung – Menschheit.« p. 441.

Alle Kollisionen, in die die Menschen durch ihre wirklichen Lebensverhältnisse mit sich oder mit Andern geraten, erscheinen unsrem Schulmeister Sancho als Kollisionen, in die die Menschen mit Vorstellungen über das Leben »des Menschen« geraten, die sie entweder sich selbst in den Kopf gesetzt haben oder sich von Schulmeistern haben in den Kopf setzen lassen. Schlügen sie sich diese aus dem Kopf, »wie glücklich« könnten »diese armen Wesen leben«, welche »Sprünge« dürften sie machen, während sie jetzt »nach der Pfeife der Schulmeister und Bärenführer tanzen« müssen! (p. 435.) (Der niedrigste dieser »Bärenführer« ist Sancho, da er nur sich selbst an der Nase herumführt.) Hätten z.B. die Menschen sich nicht fast immer und fast überall, in China sowohl wie in Frankreich, in den Kopf gesetzt, daß sie an Übervölkerung litten, welch einen Überfluß an Lebensmitteln würden diese »armen Wesen« nicht alsbald vorgefunden haben.

Sancho versucht hier, seine alte Historie von der Herrschaft des Heiligen in der Welt wieder anzubringen unter dem Verwände einer Abhandlung über Möglichkeit und Wirklichkeit. Möglich heißt ihm nämlich Alles, was sich ein Schulmeister von mir in den Kopf setzt, wo Sancho dann leicht beweisen kann, daß diese Möglichkeit keine andre Wirklichkeit hat als in seinem Kopfe. Seine feierliche Behauptung, daß »sich der folgenreichste Mißverstand von Jahrtausenden hinter dem Wort möglich versteckt hielt« (p. 441), beweist hinlänglich, wie unmöglich es ihm ist, die Folgen seines reichlichen Mißverstandes von Jahrtausenden hinter Worten zu verstecken.

Diese Abhandlung über »Zusammenfallen von Möglichkeit und Wirklichkeit« (p. 439), von dem, was die Menschen das Vermögen haben zu sein und von dem, was sie sind, welche in so guter Harmonie steht mit seinen bisherigen zudringlichen Ermahnungen, man solle sein Vermögen wirken lassen usw., führt ihn indes noch auf einige Abschweifungen über die materialistische Umstandstheorie, die wir sogleich näher würdigen werden. Vorher noch ein Beispiel seiner ideologischen Verdrehung, p. 428 identifiziert er die Frage, »wie man das Leben erwerben könne«, mit der Frage, wie man »das wahre Ich« (oder auch »Leben«) »in sich herzustellen« habe. Nach derselben p. [428] hört das »Bangen ums Leben« mit seiner neuen Moralphilosophie auf, und das »Vertun« desselben beginnt. Die wundertätige Kraft dieser seiner angeblich neuen Moralphilosophie spricht unser Salomo »sprechender« noch in folgendem Sprüchlein aus:

[406] »Sieh Dich als mächtiger an, als wofür man Dich ausgibt, so hast Du mehr Macht; sieh Dich als mehr an, so hast Du mehr.« p. 483.

Siehe oben im »Verein« Sanchos Manier, Eigentum zu erwerben.

Nun zu seiner Umstandstheorie.

»Einen Beruf hat der Mensch nicht, aber er hat Kräfte, die sich äußern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Äußerung besteht, und sowenig untätig verharren können als das Leben... Es gebraucht jeder in Jedem Augenblick soviel Kraft, als er besitzt« (»verwertet Euch, ahmt den Tapfern nach, werde Jeder von Euch ein allmächtiges Ich« usw. ging oben die Rede Sanchos). »... Die Kräfte lassen sich allerdings schärfen und vervielfältigen, besonders durch feindlichen Widerstand oder freundlichen Beistand; aber wo man ihre Anwendung vermißt, da kann man auch ihrer Abwesenheit gewiß sein. Man kann aus einem Steine Feuer schlagen, aber ohne den Schlag kommt keines heraus; in gleicher Art bedarf auch ein Mensch des Anstoßes. Darum nun, weil Kräfte sich stets von selbst werktätig erweisen, wäre das Gebot, sie zu gebrauchen, überflüssig und sinnlos... Kraft ist nur ein einfacheres Wort für Kraftäußerung.« p. 436, 437.

Der »mit sich einige Egoismus«, der seine Kräfte oder Vermögen ganz nach Belieben wirken oder nicht wirken läßt und das jus utendi et abutendi auf sie appliziert, purzelt hier plötzlich und unerwartet zusammen. Die Kräfte wirken hier auf Einmal selbständig, ohne sich um das »Belieben« Sanchos zu kümmern, sobald sie vorhanden sind, sie wirken wie chemische oder mechanische Kräfte, unabhängig von dem Individuum, das sie besitzt. Wir erfahren ferner, daß eine Kraft nicht vorhanden ist, wenn man ihre Äußerung vermißt; was dadurch berichtigt wird, daß die Kraft eines Anstoßes bedarf, um sich zu äußern. Wie aber Sancho entscheiden will, ob bei mangelnder Kraftäußerung der Anstoß oder die Kraft fehlt, erfahren wir nicht. Dagegen belehrt uns unser einziger Naturforscher, daß »man aus einem Steine Feuer schlagen kann«, ein Beispiel, das, wie immer bei Sancho, gar nicht unglücklicher gewählt werden konnte. Sancho glaubt als schlichter Dorfschulmeister, daß, wenn er Feuer schlägt, dies aus dem Stein kommt, wo es bisher verborgen lag. Jeder Quartaner wird ihm sagen können, daß bei dieser in allen zivilisierten Ländern längst vergessenen Methode des Feuermachens durch die Reibung von Stahl und Stein Partikelchen vom Stahl, nicht vom Stein, abgelöst werden, die durch ebendieselbe Reibung in Glühhitze geraten; daß also »das Feuer«, was für Sancho nicht ein unter gewissen Hitzegraden stattfindendes Verhältnis gewisser Körper zu gewissen andern Körpern, speziell dem Sauerstoff, sondern ein selbständiges Ding, ein »Element«, eine fixe Idee, »das Heilige« ist – daß dies Feuer weder aus dem Stein noch aus dem[407] Stahl kommt. Sancho hätte ebensogut sagen können: Man kann aus Chlor gebleichte Leinwand machen, aber wenn der »Anstoß« fehlt, nämlich die ungebleichte Leinwand, so »kommt keine heraus«. Bei dieser Gelegenheit wollen wir zu Sanchos »Selbstgenuß« ein früheres Faktum der »einzigen« Naturwissenschaft registrieren. In der Ode vom Verbrechen hieß es:


»Grollt es nicht in fernen Donnern,

Und siehst Du nicht, wie der Himmel

Ahnungsvoll schweigt und sich trübt?« (p. 319 »des Buchs«.)


Es donnert, und der Himmel schweigt. Sancho weiß also von einem andern Ort, wo es donnert, als am Himmel. Sancho bemerkt ferner das Schweigen des Himmels durch seinen Gesichtssinn, ein Kunststück, das ihm niemand nachmacht. Oder aber, Sancho hört das Donnern und sieht das Schweigen, wo beides gleichzeitig geschehen kann. Wir sahen, wie Sancho beim »Spuk« die Berge den »Geist der Erhabenheit« repräsentieren ließ. Hier repräsentiert ihm der schweigende Himmel den Geist der Ahnung.

Man sieht übrigens nicht ein, warum Sancho hier so sehr gegen »das Gebot, seine Kräfte zu gebrauchen«, eifert. Dies Gebot kann ja möglicherweise der fehlende »Anstoß« sein, ein »Anstoß«, der zwar bei einem Stein seine Wirkung verfehlt, dessen Wirksamkeit Sancho indes bei jedem exerzierenden Bataillon beobachten kann. Daß das »Gebot« selbst für seine geringen Kräfte ein »Anstoß« ist, geht ohnehin daraus hervor, daß es für ihn ein »Stein des Anstoßes« ist.

Das Bewußtsein ist auch eine Kraft, die sich nach der Doktrin, die wir eben hörten, auch »stets von selbst werktätig erweist«. Sancho müßte hiernach also nicht darauf ausgehen, das Bewußtsein zu andern, sondern höchstens den »Anstoß«, der auf das Bewußtsein wirkt; wonach Sancho sein ganzes Buch umsonst geschrieben hätte. Aber in diesem Falle hält er allerdings seine Moralpredigten und »Gebote« für einen hinreichenden »Anstoß.«

»Was Einer werden kann, das wird er auch. Ein geborner Dichter mag wohl durch die Ungunst der Umstände gehindert werden, auf der Höhe der Zeit zu stehen und nach den dazu unerläßlichen großen Studien große Kunstwerke zu schaffen; aber dichten wird er, sei er Ackerknecht oder so glücklich, am Weimarschen Hofe zu leben. Ein geborner Musiker wird Musik treiben, gleichviel ob auf allen Instrumenten« (diese Phantasie von »allen Instrumenten« hat ihm Proudhon geliefert. Sieh: »Der Kommunismus«) »oder nur auf einem Haferrohr« (dem Schulmeister fallen natürlich wieder Virgils Eklogen ein). »Ein geborner philosophischer Kopf kann sich als Universitätsphilosoph oder als Dorfphilosoph bewähren. Endlich ein geborner Dummerjan wird immer ein vernagelter Kopf bleiben. Ja die gebornen beschränkten Köpfe bilden un-[408] streitig die zahlreichste Menschenklasse. Warum sollten auch in der Menschengattung nicht dieselben Unterschiede hervortreten, welche in jeder Tiergattung unverkennbar sind?« p. 434.

Sancho hat wieder sein Exempel mit dem gewöhnlichen Ungeschick gewählt. Angenommen seinen Unsinn von den gebornen Dichtern, Musikern, Philosophen, so beweist dies Exempel einerseits nur, daß ein geborner P. P. das bleibt, was er schon durch die Geburt ist, nämlich Dichter etc., und andererseits, daß der geborne P. P., soweit er wird, sich entwickelt, »durch die Ungunst der Umstände« dahin kommen kann, das nicht zu werden, was er werden konnte. Sein Exempel beweist also nach der einen Seite hin gar nichts, nach der andern das Gegenteil von dem, was es beweisen sollte, und nach beiden zusammen, daß Sancho, gleichviel ob durch Geburt oder Umstände, zu der »zahlreichsten Menschenklasse« gehört. Er teilt dafür mit ihr und seinem »Nagel« den Trost, daß er ein einziger »vernagelter Kopf« ist.

Sancho erleidet hier das Abenteuer mit dem Zaubertrank, den Don Quijote aus Rosmarin, Wein, Öl und Salz gebraut hatte und wovon Cervantes am siebzehnten berichtet, daß Sancho danach zwei Stunden lang unter Schweiß und Verzuckungen aus beiden Kanälen seines Leibes sich ergoß. Der materialistische Trank, den unser tapferer Schildknapp zu seinem Selbstgenuß eingenommen hat, entleert ihn seines ganzen Egoismus im außergewöhnlichen Verstände. Wir sahen oben, wie Sancho gegenüber dem »Anstoß« plötzlich alle Feierlichkeit verlor und auf seine »Vermögen« verzichtete, wie weiland die ägyptischen Zauberer gegenüber den Läusen Mosis; hier kommen nun zwei neue Anfälle von Kleinmütigkeit vor, in denen er auch vor »der Ungunst der Umstände« sich beugt und endlich sogar seine ursprüngliche physische Organisation für etwas anerkennt, das ohne sein Zutun verkrüppelt wird. Was bleibt unsrem bankerutten Egoisten nun noch übrig? Seine ursprüngliche Organisation steht nicht in seiner Hand; die »Umstände« und den »Anstoß«, unter deren Einfluß diese Organisation sich entwickelt, kann er nicht kontrollieren; »wie er in jedem Augenblicke ist. Ist er« nicht »sein Geschöpf«, sondern das Geschöpf der Wechselwirkung zwischen seinen angebornen Anlagen und den auf sie einwirkenden Umständen – alles das konzediert Sancho. Unglücklicher »Schöpfer«! Unglücklichstes »Geschöpf«!

Aber das größte Unglück kommt zuletzt. Sancho, nicht zufrieden damit, daß die tres mil azotes y trecientos en ambas sus valientes posaderas längst vollzählig sind, Sancho muß sich schließlich noch einen Hauptschlag da-[409] durch verletzen, daß er sich als einen Gattungsgläubigen proklamiert. Und welchen Gattungsgläubigen! Er schreibt der Gattung zuerst die Teilung der Arbeit zu, indem er sie für das Faktum verantwortlich macht, daß einige Leute Dichter, andre Musiker, andre Schulmeister sind; er schreibt ihr zweitens die existierenden physischen und intellektuellen Mängel der »zahlreichsten Menschenklasse« zu und macht sie dafür verantwortlich, daß unter der Herrschaft der Bourgeoisie die Mehrzahl der Individuen seinesgleichen sind. Nach seinen Ansichten über die gebornen beschränkten Köpfe müßte man sich die heutige Verbreitung der Skrofeln daraus erklären, daß »die Gattung« ein besonderes Vergnügen daran findet, die gebornen skrofulösen Konstitutionen »die zahlreichste Menschenklasse« bilden zu lassen. Über dergleichen Naivetäten waren sogar die gewöhnlichsten Materialisten und Mediziner hinaus, lange ehe der mit sich einige Egoist von der »Gattung«, der »Ungunst der Umstände« und dem »Anstoß« den »Beruf« erhielt, vor dem deutschen Publikum zu debütieren. Wie Sancho bisher alle Verkrüppelung der Individuen und damit ihrer Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte, ohne sich um die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärt er diese Verkrüppelung jetzt aus dem bloßen Naturprozeß der Erzeugung. Er denkt nicht im entferntesten daran, daß die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich nach der Entwicklung der Eltern richtet und daß alle diese Verkrüppelungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen historisch entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden können. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassenunterschiede etc., von denen Sancho gar nicht spricht, können und müssen historisch beseitigt werden. Sancho, der bei dieser Gelegenheit einen verstohlenen Blick in die Zoologie wirft und dabei entdeckt, daß die »gebornen beschränkten Köpfe« nicht nur bei Schafen und Ochsen, sondern auch bei Polypen und Infusorien, die keine Köpfe haben, die zahlreichste Klasse bilden – Sancho hat vielleicht davon gehört, daß man auch Tierrassen veredeln und durch die Rassenkreuzung ganz neue, sowohl für den Genuß der Menschen wie für ihren eignen Selbstgenuß vollkommnere Arten erzeugen kann. »Warum sollte nicht« Sancho hieraus einen Schluß auf die Menschen ziehen können?

Bei dieser Gelegenheit wollen wir Sanchos »Wandlungen« über die Gattung »episodisch einlegen«. Wir werden sehen, daß er sich zur Gattung geradeso stellt wie zum Heiligen; je mehr er gegen sie poltert, desto mehr glaubt er an sie.[410]

Nr. I sahen wir schon, wie die Gattung die Teilung der Arbeit und die unter den bisherigen sozialen Umständen entstandenen Verkrüppelungen erzeugt, und zwar so, daß die Gattung samt ihren Produkten als etwas unter allen Umständen Unveränderliches, von der Kontrolle der Menschen Unabhängiges gefaßt wird.

Nr. II. »Die Gattung ist bereits durch die Anlage realisiert; was Du hingegen aus dieser Anlage machst« (müßte nach Obigem heißen: was die »Umstände« aus ihr machen), »das ist die Realisation Deiner. Deine Hand ist vollkommen realisiert im Sinne der Gattung, sonst wäre sie nicht Hand, sondern etwa Tatze... Du machst aus ihr Das, was und wie Du sie haben willst und machen kannst.« p. 184, 185 Wig[and].

Hier wiederholt Sancho das unter Nr. I Gesagte in andrer Form. Wir haben also im Bisherigen gesehen, wie die Gattung unabhängig von der Kontrolle und der geschichtlichen Entwicklungsstufe der Individuen die sämtlichen physischen und geistigen Anlagen, das unmittelbare Dasein der Individuen und im Keim die Teilung der Arbeit in die Welt setzt.

Nr. III. Die Gattung bleibt als »Anstoß«, der nur der allgemeine Ausdruck für die »Umstände« ist, welche die Entwicklung des wieder von der Gattung erzeugten ursprünglichen Individuums bestimmen. Sie ist für Sancho hier ebendieselbe mysteriöse Macht, die die übrigen Bourgeois die Natur der Dinge nennen und der sie alle Verhältnisse auf die Schultern schieben, die von ihnen als Bourgeois unabhängig sind und deren Zusammenhang sie deshalb nicht verstehen.

Nr. IV. Die Gattung als das »Menschenmögliche« und »menschliche Bedürfnis« bildet die Grundlage der Organisation der Arbeit im »Stirnerschen Verein«, wo ebenfalls das Allen Mögliche und das Allen gemeinschaftliche Bedürfnis als Produkt der Gattung gefaßt werden.

Nr. V. Wir haben gehört, welche Rolle die Verständigung im Verein spielt, p.462:

»Kommt es darauf an, sich zu verständigen und mitzuteilen, so kann Ich allerdings nur von den menschlichen Mitteln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Mensch bin« (id est Exemplar der Gattung), »zu Gebote stehen.«

Hier also die Sprache als Produkt der Gattung. Daß Sancho deutsch und nicht französisch spricht, verdankt er keineswegs der Gattung, sondern den Umständen. Die Naturwüchsigkeit der Sprache ist übrigens in jeder modernen ausgebildeten Sprache, teils durch die Geschichte der Sprachentwicklung aus vorgefundenem Material, wie bei den romanischen und germanischen Sprachen, teils durch die Kreuzung und Mischung von Nationen, wie im Englischen, teils durch auf ökonomischer und politischer Konzentration beruhende Konzentration der Dialekte innerhalb einer Nation zur National-[411] sprache aufgehoben. Daß die Individuen ihrerzeit auch dies Produkt der Gattung vollständig unter ihre Kontrolle nehmen werden, versteht sich von selbst. In dem Verein wird man die Sprache als solche sprechen, die heilige Sprache, die Sprache des Heiligen – Hebräisch, und zwar den aramäischen Dialekt, den das »beleibte Wesen« Christus sprach. Dies »fiel« uns hier »wider Erwarten« Sanchos ein, »und zwar lediglich, weil Uns dünkt, es könne zur Verdeutlichung des Übrigen beitragen«.

Nr. VI. p. 277, 278 erfahren wir, daß »die Gattung in Völker, Städte, Stände, allerlei Körperschaften«, zuletzt »in die Familie« sich auftut und daher konsequent bis jetzt auch »Geschichte gespielt« hat. Hier wird also die ganze bisherige Geschichte bis auf die unglückliche Geschichte des Einzigen zum Produkt der »Gattung«, und zwar aus dem zureichenden Grunde, weil man zuweilen diese Geschichte unter dem Namen Geschichte der Menschheit, i.e. der Gattung, zusammengefaßt hat.

Nr. VII. Sancho hat in dem Bisherigen der Gattung mehr zugeteilt als je ein Sterblicher vor ihm und resümiert dies nun in dem Satz:

»Die Gattung ist Nichts... die Gattung nur ein Gedachtes« (Geist, Gespenst pp.). p. 239.

Schließlich hat es denn auch mit dem »Nichts« Sanchos, das mit dem »Gedachten« identisch ist, nichts auf sich, denn er selbst Ist »das schöpferische Nichts«, und die Gattung schafft, wie wir sahen, sehr viel, wobei sie also sehr gut »Nichts« sein kann. Überdem erzählt Sancho uns p. 456:

»Durch das Sein wird gar nichts gerechtfertigt; das Gedachte ist so gut wie das Nichtgedachte.«

Von p. 448 anspinnt Sancho ein 30 Seiten langes Garn ab, um »Feuer« aus dem Denken und der Kritik des mit sich einigen Egoisten zu schlagen. Wir haben schon zu viel Äußerungen seines Denkens und seiner Kritik erlebt, um dem Leser noch mit Sanchos Armenhaus-Gerstenbrühe einen »Anstoß« zu geben. Ein Löffel voll von dieser Brühe mag hinreichen.

»Glaubt Ihr, die Gedanken flögen so vogelfrei umher, daß sich Jeder welche holen dürfte, die er dann als sein unantastbares Eigentum gegen Mich geltend machte? Was umherfliegt, ist Alles – Mein.« p. 457.

Sancho begeht hier Jagdfrevel an gedachten Schnepfen. Wir haben gesehen, wie viele von den umherfliegenden Gedanken er sich eingefangen hat. Er wähnte sie erhaschen zu können, sobald er ihnen nur das Salz des Heiligen auf den Schwanz streute. Dieser ungeheure Widerspruch zwischen seinem wirklichen Eigentum an Gedanken und seiner Illusion darüber mag als klassi-[412] sches und sinnfälliges Exempel seines ganzen Eigentums im außergewöhnlichen Verstande dienen. Eben dieser Kontrast bildet seinen Selbstgenuß.

75

[Im Manuskript gestrichen:] Im Mittelalter waren die Genüsse vollständig klassifiziert; jeder Stand hatte seine besondern Genüsse und seine besondre Weise des Genießens. Der Adel war der zum ausschließlichen Genießen privilegierte Stand, während bei der Bourgeoisie schon die Spaltung zwischen Arbeit und Genuß existierte und der Genuß der Arbeit subordiniert war. Die Leibeignen, die ausschließlich zur Arbeit bestimmte Klasse, hatte nur höchst wenige und beschränkte Genüsse, die ihnen mehr zufällig kamen, von der Laune ihrer Herren und andern zufälligen Umständen abhingen und kaum in Betracht kommen können. – Unter der Herrschaft der Bourgeoisie nahmen die Genüsse ihre Form von den Klassen der Gesellschaft an. Die Genüsse der Bourgeoisie richten sich nach dem Material, was diese Klasse in ihren verschiednen Entwicklungsstufen produziert hatte, und nahmen von den Individuen sowie von der fortgesetzten Subordination des Genusses unter den Gelderwerb den langweiligen Charakter an, den sie noch jetzt haben. Die Genüsse des Proletariats erhielten einerseits durch die lange Arbeitszeit, die das Genußbedürfnis aufs Höchste steigerte, und andrerseits durch die qualitative und quantitative Beschränkung der dem Proletarier zugänglichen Genüsse, die gegenwärtige brutale Form. – Die Genüsse Aller bisherigen Stände und Klassen mußten überhaupt entweder kindisch, ermüdend oder brutal sein, weil sie immer von der gesamten Lebenstätigkeit, dem eigentlichen Inhalt des Lebens der Individuen getrennt waren, und sich mehr oder weniger darauf reduzierten, daß einer inhaltslosen Tätigkeit ein scheinbarer Inhalt gegeben wurde. Die Kritik dieser bisherigen Genüsse konnte natürlich erst dann stattfinden, als der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat so weit entwickelt war, daß auch die bisherige Produktions- und Verkehrsweise kritisiert werden konnte.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1958, Band 3, S. 402-413.
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