Kritische Randglosse Nr. IV

[50] »Wenn er« (Proudhon) »einmal den Begriff des Salärs beibehält, wenn er einmal in der Gesellschaft eine Einrichtung sieht, die uns zu arbeiten gibt und uns dafür bezahlt, so kann er die Zeit um so weniger als das Maß für die Bezahlung annehmen, als er kurz vorher, dem Hugo Grotius beistimmend, durchführt, daß die Zeit in Beziehung auf die Geltung eines Gegenstandes gleichgültig sei.«

Hier ist der einzige Punkt, wo die kritische Kritik den Versuch macht, ihre Aufgabe zu lösen und dem Proudhon nachzuweisen, daß er vom nationalökonomischen Standpunkt aus falsch gegen die Nationalökonomie operiert. Hier blamiert sie sich in wahrhaft kritischer Weise.

Proudhon hatte mit Hugo Grotius übereinstimmend entwickelt, die Verjährung sei kein Titel, um den Besitz in Eigentum, um ein »Rechtsprinzip« in ein anderes zu verwandeln, so wenig wie die Zeit die Wahrheit, daß die Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sind, in die Wahrheit, daß sie gleich drei rechten sind, verwandeln kann.

[50] »Ihr werdet es nie zustande bringen«, ruft Proudhon aus, »daß die Zeitdauer, die durch sich selbst nichts schafft, nichts wechselt, nichts modifiziert, den Nutznießer in einen Eigentümer verwandeln kann.«

Herr Edgar schließt: Weil Proudhon sagte, die bloße Zeitdauer könne ein Rechtsprinzip nicht in ein anderes verwandeln, sie könne überhaupt für sich nichts wechseln, nichts modifizieren, darum begeht er eine Inkonsequenz, wenn er die Arbeitszeit zum Maß des nationalökonomischen Wertes des Arbeitsprodukts macht. Es gelingt Herrn Edgar, diese kritisch-kritische Bemerkung zustande zu bringen dadurch, daß er »valeur« mit »Geltung« übersetzt und so auf die Geltung eines Rechtsprinzips wie auf den kommerziellen Wert eines Arbeitsprodukts in demselben Sinne anwenden kann. Es gelingt ihm, indem er die leere Zeitdauer mit der erfüllten Arbeitszeit identifiziert. Wenn Proudhon gesagt hätte, die Zeit könne eine Mücke nicht in einen Elefanten verwandeln, so könnte die kritische Kritik mit demselben Recht schließen: Also darf er die Arbeitszeit nicht zum Maß des Arbeitslohnes machen.

Daß die Arbeitszeit, welche die Produktion eines Gegenstandes kostet, zu den Produktionskosten des Gegenstandes gehört, daß die Produktionskosten eines Gegenstandes das sind, was er kostet, wofür er also, von den Einflüssen der Konkurrenz abstrahiert, verkauft werden kann, dieser Einsicht muß selbst die kritische Kritik sich bemächtigen können. Bei den Nationalökonomen gehört außer der Arbeitszeit und dem Material der Arbeit zu den Produktionskosten auch noch die Rente des Grundeigentümers, wie Zinsen und Gewinn des Kapitalisten. Letztere fallen bei Proudhon fort, weil das Privateigentum bei ihm fortfällt. Es bleiben also nur noch die Arbeitszeit und die Auslagen übrig. Proudhon, indem er die Arbeitszeit, das unmittelbare Dasein der menschlichen Tätigkeit als Tätigkeit, zum Maß des Arbeitslohnes und der Wertbestimmung des Produkts macht, macht die menschliche Seite zum Entscheidenden, wo in der alten Nationalökonomie die sachliche Macht des Kapitals und des Grundeigentums entschied, d.h. Proudhon setzt in noch nationalökonomischer, darum widerspruchsvoller Weise den Menschen wieder in seine Rechte ein. Wie richtig er vom Standpunkt der Nationalökonomie aus verfährt, mag man daraus ersehn, daß der Stifter der neuen Nationalökonomie, Adam Smith, gleich auf den ersten Seiten seines Werks »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« entwickelt, daß vor der Erfindung des Privateigentums, also unter der Voraussetzung der Nichtexistenz des Privateigentums, die Arbeitszeit das Maß[51] des Arbeitslohns und des von ihm noch nicht unterschiedenen Wertes des Arbeitsprodukts war.

Die kritische Kritik unterstelle aber selbst einen Augenblick, Proudhon sei nicht von der Voraussetzung des Arbeitslohnes ausgegangen. Glaubt sie, daß jemals die Zeit, welche die Produktion eines Gegenstands erfordert, nicht ein wesentliches Moment in der »Geltung« des Gegenstandes sein, glaubt sie, daß die Zeit ihre Kostbarkeit verlieren werde?

In bezug auf die unmittelbar materielle Produktion wird die Entscheidung, ob ein Gegenstand produziert werden soll oder nicht, d.h. die Entscheidung über den Wert des Gegenstandes, wesentlich von der Arbeitszeit abhängen, die seine Produktion kostet. Denn von der Zeit hängt es ab, ob die Gesellschaft die Zeit hat, sich menschlich auszubilden.

Und selbst was die geistige Produktion betrifft, muß ich nicht, wenn ich anders verständig verfahre, bei dem Umfang, der Anlage und dem Plan eines geistigen Werks die Zeit, die zu seiner Produktion erforderlich ist, in Anschlag bringen? Ich setze mich sonst wenigstens der Gefahr aus, daß mein Gegenstand in der Idee nie zu einem Gegenstand in der Wirklichkeit wird, also nur den Wert eines imaginären Gegenstandes, d.h. einen imaginären Wert sich erwerben kann.

Die Kritik der Nationalökonomie auf nationalökonomischem Standpunkte erkennt alle Wesensbestimmungen der menschlichen Tätigkeit an, aber nur in entfremdeter, entäußerter Form, wie sie hier z.B. die Bedeutung der Zeit für die menschliche Arbeit in ihre Bedeutung für den Arbeitslohn, für die Lohnarbeit verwandelt.

Herr Edgar fährt fort:

»Damit nun das Talent gezwungen werde, jenes Maß anzunehmen, mißbraucht Proudhon den Begriff des freien Handels und behauptet, der Gesellschaft und ihren einzelnen Mitgliedern stehe ja das Recht zu, die Erzeugnisse des Talents zurückzuweisen.«

Dem Talent, das auf nationalökonomischem Grund und Boden bei den Fourieristen und Saint-Simonisten übertriebene Honorarforderungen macht und seine Einbildung von seinem unendlichen Wert als Maß an den Tauschwert seiner Produkte anlegt, antwortet Proudhon ganz so, wie die Nationalökonomie jeder Prätention eines Preises, der sich weit über den sogenannten natürlichen Preis, d.h. über die Produktionskosten des dargebotenen Gegenstands erheben will, antwortet – durch den freien Handel. Nur mißbraucht Proudhon nicht dieses Verhältnis im Sinn der Nationalökonomie, er unterstellt vielmehr als wirklich, was bei den Nationalökonomen nur nominell und illusorisch ist, die Freiheit der kontrahierenden Teile.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 50-52.
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