a) Der »Geist« und die »Masse«

[82] Bisher schien die kritische Kritik mehr oder minder mit der kritischen Bearbeitung verschiedenartiger massenhafter Gegenstände beschäftigt. Jetzt finden wir sie mit dem absolut kritischen Gegenstand, mit sich selbst, beschäftigt. Sie schöpfte bisher ihren relativen Ruhm aus der kritischen Erniedrigung, Verwerfung und Verwandlung bestimmter massenhafter Gegenstände und Personen. Jetzt schöpft sie ihren absoluten Ruhm aus der kritischen Erniedrigung, Verwerfung und Verwandlung der Masse im allgemeinen. Der relativen Kritik standen relative Schranken gegenüber. Der absoluten Kritik steht die absolute Schranke gegenüber, die Schranke der Masse, die Masse als Schranke. Die relative Kritik in ihrem Gegensatz zu bestimmten Schranken war notwendig selbst ein beschränktes Individuum. Die absolute Kritik im Gegensatz zu der allgemeinen Schranke, zu der Schranke schlechthin, ist notwendig absolutes Individuum. Wie die verschiedenartigen, massenhaften Gegenstände und Personen in dem unreinen Brei der »Masse« zusammengefallen sind, so hat sich die noch scheinbar gegenständliche und persönliche Kritik in die »reine Kritik« verwandelt. Bisher schien die Kritik mehr oder minder eine Eigenschaft der kritischen Individuen Reichardt, Edgar, Faucher etc. Jetzt ist sie Subjekt und Herr Bruno ihre Inkarnation.

Bisher schien die Massenhaftigkeit mehr oder minder die Eigenschaft der kritisierten Gegenstände und Personen; jetzt sind Gegenstände und Personen zur »Masse« und die »Masse« Gegenstand und Person geworden. In das Verhältnis der absoluten kritischen Weisheit zu der absoluten massenhaften Dummheit haben sich alle bisherigen kritischen Verhältnisse aufgelöst. Dies [82] Grundverhältnis erscheint als der Sinn, die Tendenz, das Lösungswort der bisherigen kritischen Taten und Kämpfe.

Ihrem absoluten Charakter gemäß wird die »reine« Kritik sogleich bei ihrem Auftreten das unterscheidende »Stichwort« aussprechen, nichtsdestoweniger aber als absoluter Geist einen dialektischen Prozeß durchlaufen müssen. Erst am Ende ihrer Himmelsbewegung wird ihr ursprünglicher Begriff wahrhaft verwirklicht sein. (Siehe Hegel, »Enzyklopädie.«)

»Noch vor wenigen Monaten«, verkündet die absolute Kritik, »glaubte sich die Masse riesenstark und zu einer Weltherrschaft bestimmt, deren Nähe sie an den Fingern abzählen zu können meinte.«

Herr Bruno Bauer in der »Guten Sache der Freiheit« (versteht sich, seiner »eignen« Sache), in der »Judenfrage« usw., war es eben, der die Nähe der herannahenden Weltherrschaft an den Fingern abzählte, wenn er auch das Datum nicht exakt angeben zu können gestand. Zum Sündenregister der Masse schlägt er die Masse seiner eignen Sünden.

»Die Masse glaubte sich im Besitze so vieler Wahrheiten, die sich ihr von selbst verstanden.« »Eine Wahrheit aber besitzt man erst vollständig... wenn man ihr durch ihre Beweise hindurchfolgt.«

Die Wahrheit ist für Herrn Bauer wie für Hegel ein Automaten, das sich selbst beweist. Der Mensch hat ihr zu folgen. Wie bei Hegel ist das Resultat der wirklichen Entwickelung nichts anderes als die bewiesene, d.h. zum Bewußtsein gebrachte Wahrheit. Die absolute Kritik kann daher mit dem borniertesten Theologen fragen:

»Wozu wäre die Geschichte, wenn es nicht ihre Aufgabe wäre, grade diese einfachsten aller Wahrheiten (wie die Bewegung der Erde um die Sonne) zu beweisen?«

Wie nach den frühem Teleologen die Pflanzen da sind, um von den Tieren, die Tiere, um von den Menschen gegessen zu werden, so ist die Geschichte da, um zum Konsumtionsakt des theoretischen Essens, des Beweisens zu dienen. Der Mensch ist da, damit die Geschichte, und die Geschichte ist da, damit der Beweis der Wahrheiten da ist. In dieser kritisch trivialisierten Form wiederholt sich die spekulative Weisheit, daß der Mensch, daß die Geschichte da ist, damit die Wahrheit zum Selbstbewußtsein komme.

Die Geschichte wird daher, wie die Wahrheit, zu einer aparten Person, einem metaphysischen Subjekt, dessen bloße Träger die wirklichen menschlichen Individuen sind. Die absolute Kritik bedient sich daher der Phrasen.

»Die Geschichte läßt ihrer nicht spotten, die Geschichte hat ihre größten Anstrengungen darauf verwandt, die Geschichte ist beschäftigt worden, wozu wäre die[83] Geschichte da? die Geschichte liefert uns ausdrücklich den Beweis; die Geschichte bringt Wahrheiten auf das Tapet etc.«

Wenn nach der Behauptung der absoluten Kritik nur ein paar solcher – allereinfachsten – Wahrheiten, die sich am Ende von selbst verstehn, die Geschichte bisher beschäftigt haben, so beweist diese Dürftigkeit, worauf sie die bisherigen menschlichen Erfahrungen reduziert, zunächst nur ihre eigne Dürftigkeit. Vom unkritischen Gesichtspunkte aus hat die Geschichte vielmehr das Resultat, daß die komplizierteste Wahrheit, daß der Inbegriff aller Wahrheit, die Menschen, sich am Ende von selbst verstehen.

»Wahrheiten aber«, demonstriert die absolute Kritik weiter, »die der Masse so sonnenklar zu sein scheinen, daß sie sich von vornherein von selber verstehen... daß sie den Beweis für überflüssig hält, sind nicht wert, daß die Geschichte noch ausdrücklich ihren Beweis liefert; sie bilden überhaupt keinen Teil der Aufgabe, mit deren Lösung sich die Geschichte beschäftigt.«

In heiligem Eifer gegen die Masse sagt ihr die absolute Kritik die feinste Schmeichelei. Wenn eine Wahrheit sonnenklar ist, weil sie der Masse sonnenklar scheint, wenn die Geschichte nach dem Dafürhalten der Masse sich zu den Wahrheiten verhält, so ist also das Urteil der Masse absolut, unfehlbar, das Gesetz der Geschichte, die nur beweist, was der Masse nicht sonnenklar, daher des Beweises bedürftig scheint. Die Masse schreibt also der Geschichte ihre »Aufgabe« und ihre »Beschäftigung« vor.

Die absolute Kritik spricht von »Wahrheiten, die sich von vornherein von selbst verstehen.« In ihrer kritischen Naivität erfindet sie ein absolutes »von vornherein« und eine abstrakte, unveränderliche »Masse.« Das »von vornherein« der Masse des 16. Jahrhunderts und das »von vornherein« der Masse des 19. Jahrhunderts sind vor den Augen der absoluten Kritik ebensowenig unterschieden als diese Massen selbst. Es ist eben das Charakteristische einer wahr, offenbar gewordnen, sich von selber verstehenden Wahrheit, daß sie sich »von vornherein von selber versteht.« Die Polemik der absoluten Kritik gegen die Wahrheiten, die sich von vornherein von selber verstehen, ist die Polemik gegen die Wahrheiten, die sich überhaupt »von selber verstehn.«

Eine Wahrheit, die sich von selber versteht, hat für die absolute Kritik, wie für die göttliche Dialektik, ihr Salz, ihren Sinn, ihren Wert verloren. Sie ist fad geworden wie abgestandnes Wasser. Die absolute Kritik beweist daher einerseits alles, was sich von selbst versteht, und außerdem viele Dinge, die das Glück haben, unverständig zu sein, sich also niemals von selbst verstehen werden. Andrerseits versteht sich ihr alles das von selbst, was einer Entwickelung bedarf. Warum? Weil es sich bei wirklichen Aufgaben von selber versteht, daß sie sich nicht von selber verstehn.[84]

Weil die Wahrheit, wie die Geschichte, ein ätherisches, von der materiellen Masse getrenntes Subjekt ist, adressiert sie sich nicht an die empirischen Menschen, sondern an das »Innerste der Seele«, rückt sie, um »wahrhaft erfahren« zu werden, dem Menschen nicht auf seinen groben, etwa in der Tiefe eines englischen Kellers oder in der Höhe einer französischen Speicherwohnung hausenden Leib, sondern »zieht« sich »durch und durch« durch seine idealistischen Darmkanäle. Die absolute Kritik stellt nun zwar »der Masse« das Zeugnis aus, daß sie bisher in ihrer Weise, d.h. oberflächlich, von den Wahrheiten, welche die Geschichte so gnädig war, »aufs Tapet zu bringen«, berührt worden sei; zugleich aber prophezeit sie, daß

»das Verhältnis der Masse zum geschichtlichen Fortschritt sich völlig ändern werde.«

Der geheime Sinn dieser kritischen Prophezeiung wird nicht anstehn, uns »sonnenklar« zu werden.

»Alle großen Aktionen der bisherigen Geschichte«, erfahren wir, »waren deshalb von vornherein verfehlt und ohne eingreifenden Erfolg, weil die Masse sich für sie interessiert und enthusiasmiert hatte – oder sie mußten ein klägliches Ende nehmen, weil die Idee, um die es sich in ihnen handelte, von der Art war, daß sie sich mit einer oberflächlichen Auffassung begnügen, also auch auf den Beifall der Masse rechnen mußte.«

Es scheint, daß eine Auffassung, welche für eine Idee genügt, also einer Idee entspricht, aufhört, oberflächlich zu sein. Herr Bruno bringt nur zum Schein ein Verhältnis zwischen der Idee und ihrer Auffassung hervor, wie er nur zum Schein ein Verhältnis der verfehlten geschichtlichen Aktion zur Masse hervorbringt. Wenn die absolute Kritik daher irgend etwas als »oberflächlich« verdammt, so ist es die bisherige Geschichte schlechthin, deren Aktionen und Ideen die Ideen und Aktionen von »Massen« waren. Sie verwirft die massenhafte Geschichte, an deren Stelle (man sehe Herrn Jules Faucher über die englischen Tagesfragen) sie die kritische Geschichte setzen wird. Nach der bisherigen unkritischen, also nicht im Sinn der absoluten Kritik verfaßten Geschichte ist ferner genau zu unterscheiden, inwieweit die Masse sich für Zwecke »interessierte« und wieweit sie sich für dieselben »enthusiasmierte.« Die »Idee« blamierte sich immer, soweit sie von dem »Interesse« unterschieden war. Anderseits ist es leicht zu begreifen, daß jedes massenhafte, geschichtlich sich durchsetzende »Interesse«, wenn es zuerst die Weltbühne betritt, in der »Idee« oder »Vorstellung« weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt. Diese Illusion bildet das, was Fourier den Ton einer jeden Geschichtsepoche nennt. Das Interesse der Bourgeoisie in der Revolution von[85] 1789, weit entfernt, »verfehlt« zu sein, hat alles »gewonnen« und hat »den eingreifendsten Erfolg« gehabt, so sehr der »Pathos« verraucht und so sehr die »enthusiastischen« Blumen, womit dieses Interesse seine Wiege bekränzte, verwelkt sind. Dieses Interesse war so mächtig, daß es die Feder eines Marat, die Guillotine der Terroristen, den Degen Napoleons wie das Kruzifix und das Vollblut der Bourbonen siegreich überwand. »Verfehlt« ist die Revolution nur für die Masse, die in der politischen »Idee« nicht die Idee ihres wirklichen »Interesses« besaß, deren wahres Lebensprinzip also mit dem Lebensprinzip der Revolution nicht zusammenfiel, deren reale Bedingungen der Emanzipation wesentlich verschieden sind von den Bedingungen, innerhalb deren die Bourgeoisie sich und die Gesellschaft emanzipieren konnte. Ist also die Revolution, die alle großen geschichtlichen »Aktionen« repräsentieren kann, verfehlt, so ist sie verfehlt, weil die Masse, innerhalb deren Lebensbedingungen sie wesentlich stehenblieb, eine exklusive, nicht die Gesamtheit umfassende, eine beschränkte Masse war. Nicht weil die Masse sich für die Revolution »enthusiasmierte« und »interessierte«, sondern weil der zahlreichste, der von der Bourgeoisie unterschiedne Teil der Masse in dem Prinzip der Revolution nicht sein wirkliches Interesse, nicht sein eigentümliches revolutionäres Prinzip, sondern nur eine »Idee«, also nur einen Gegenstand des momentanen Enthusiasmus und einer nur scheinbaren Erhebung besaß.

Mit der Gründlichkeit der geschichtlichen Aktion wird also der Umfang der Masse zunehmen, deren Aktion sie ist. In der kritischen Geschichte, nach welcher es sich bei geschichtlichen Aktionen nicht um die agierenden Massen, nicht um die empirische Handlung noch um das empirische Interesse dieser Handlung, sondern »in ihnen« vielmehr nur »um eine Idee handelt«, muß sich die Sache allerdings anders zutragen.

»In der Masse«, belehrt sie uns, »nicht anderwärts, wie ihre früheren liberalen Wortführer meinen, ist der wahre Feind des Geistes zu suchen

Die Feinde des Fortschritts außer der Masse sind eben die verselbständigten, mit eignen Leben begabten Produkte der Selbsterniedrigung, der Selbstverwerfung, der Selbstentäußerung der Masse. Die Masse richtet sich daher gegen ihren eignen Mangel, indem sie sich gegen die selbständig existierenden Produkte ihrer Selbsterniedrigung richtet, wie der Mensch, indem er sich gegen das Dasein Gottes kehrt, sich gegen seine eigne Religiosität kehrt. Weil aber jene praktischen Selbstentäußerungen der Masse in der wirklichen Welt auf eine äußerliche Weise existieren, so muß sie dieselben zugleich auf eine äußerliche Weise bekämpfen. Sie darf diese Produkte ihrer Selbstentäußerung[86] keineswegs für nur ideale Phantasmagorien, für bloße Entäußerungen des Selbstbewußtseins halten und die materielle Entfremdung durch eine rein innerliche spiritualistische Aktion vernichten wollen. Schon die Zeitschrift Loustalots vom Jahre 1789 führt das Motto :


Les grands ne nous paraissent grands

Que parce que nous sommes à genoux

– – – Levons nous! – –


Aber um sich zu heben, genügt es nicht, sich in Gedanken zu heben und über dem wirklichen, sinnlichen Kopf das wirkliche, sinnliche Joch, das nicht mit Ideen wegzuspintisieren ist, schweben zu lassen. Die absolute Kritik jedoch hat von der Hegelschen Phänomenologie wenigstens die Kunst erlernt, reale, objektive, außer mir existierende Ketten in bloß ideelle, bloß subjektive, bloß in mir existierende Ketten und daher alle äußerlichen, sinnlichen Kämpfe in reine Gedankenkämpfe zu verwandeln.

Diese kritische Verwandlung begründet die prästabilierte Harmonie der kritischen Kritik und der Zensur. Von kritischem Gesichtspunkte aus ist der Kampf des Schriftstellers mit dem Zensor kein Kampf »Mann gegen Mann.« Der Zensor ist vielmehr nichts als mein eigner, von der vorsorglichen Polizei mir personifizierte Takt, mein eigner Takt, der mit meiner Taktlosigkeit und Kritiklosigkeit im Kampf ist. Der Kampf des Schriftstellers mit dem Zensor ist nur scheinbar, nur für die schlechte Sinnlichkeit etwas anderes als der innerliche Kampf des Schriftstellers mit sich selbst. Der Zensor, insofern er ein von mir wirklich individuell unterschiedener, mein Geistesprodukt nach äußerlichem, der Sache fremdem Maßstab mißhandelnder Polizeischerge ist, ist eine bloß massenhafte Einbildung, ein unkritisches Hirngespinst. Wenn Feuerbachs »Thesen zur Reform der Philosophie« von der Zensur exiliert wurden, so lag die Schuld nicht an der offiziellen Barbarei der Zensur, sondern an der Unkultur der Feuerbachschen Thesen. Die von aller Masse und Materie ungetrübte, die »reine« Kritik besitzt auch im Zensor eine reine, »ätherische«, von aller massenhaften Wirklichkeit losgetrennte Gestalt.

Die absolute Kritik hat die »Masse« für den wahren Feind des Geistes erklärt. Sie führt dies näher dahin aus:

»Der Geist weiß jetzt, wo er seinen einzigen Widersacher zu suchen hat, in den Selbsttäuschungen und in der Kernlosigkeit der Masse.«

Die absolute Kritik geht von dem Dogma der absoluten Berechtigung des »Geistes« aus. Sie geht ferner von dem Dogma der außerweltlichen, d.h. außer[87] der Masse der Menschheit hausenden Existenz des Geistes aus. Sie verwandelt endlich einerseits »den Geist«, »den Fortschritt«, andrerseits »die Masse« in fixe Wesen, in Begriffe, und bezieht sie dann als solche gegebne feste Extreme aufeinander. Es fällt der absoluten Kritik nicht ein, den »Geist« selbst zu untersuchen, zu untersuchen, ob nicht in seiner eigenen spiritualistischen Natur, in seinen windigen Prätentionen, »die Phrase«, »die Selbsttäuschung«, »die Kernlosigkeit« begründet sind. Er ist vielmehr absolut, aber zugleich schlägt er leider beständig in Geistlosigkeit um: seine Rechnungen sind beständig ohne den Wirt gemacht. Er muß also notwendigerweise einen Widersacher haben, der gegen ihn intrigiert. Die Masse ist dieser Widersacher.

Ebenso verhält es sich mit dem »Fortschritt.« Trotz der Prätentionen »des Fortschrittes« zeigen sich beständige Rückschritte und Kreisbewegungen. Die absolute Kritik, weit entfernt zu vermuten, daß die Kategorie »des Fortschrittes« völlig gehaltlos und abstrakt ist, ist vielmehr so sinnreich, »den Fortschritt« als absolut anzuerkennen, um, zur Erklärung des Rückschritts, einen »persönlichen Widersacher« des Fortschritts, die Masse, zu unterstellen. Weil »die Masse« nichts ist als der »Gegensatz des Geistes«, des Fortschritte der »Kritik«, so kann sie auch nur durch diesen imaginären Gegensatz bestimmt werden, und absehend von diesem Gegensatz weiß die Kritik über den Sinn und das Dasein der Masse nur das Sinnlose, weil völlig Unbestimmte, zu sagen:

»Die Masse in jenem Sinn, in welchem das ›Wort‹ auch die sogenannte gebildete Welt umfaßt.«

Ein »auch«, ein »sogenannt« reicht zu einer kritischen Definition aus. Die Masse ist also unterschieden von den wirklichen Massen und existiert als die »Masse« nur für die »Kritik.«

Alle kommunistischen und sozialistischen Schriftsteller gingen von der Beobachtung aus, einerseits, daß selbst die günstigsten Glanztaten ohne glänzende Resultate zu bleiben und in Trivialitäten auszulaufen scheinen, andrerseits, daß alle Fortschritte des Geistes bisher Fortschritte gegen die Masse der Menschheit waren, die in eine immer entmenschtere Situation hineingetrieben wurde. Sie erklärten daher (siehe Fourier) »den Fortschritt« für eine ungenügende, abstrakte Phrase, sie vermuteten (siehe unter andern Owen) ein Grundgebrechen der zivilisierten Welt; sie unterwarfen daher die wirklichen Grundlagen der Jetzigen Gesellschaft einer einschneidenden Kritik. Dieser kommunistischen Kritik entsprach praktisch sogleich die Bewegung der großen Masse, im Gegensatz zu welcher die bisherige geschichtliche[88] Entwickelung stattgefunden hatte. Man muß das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennengelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.

Wie unendlich geistreich ist nun die »absolute Kritik«, welche angesichts dieser intellektuellen und praktischen Tatsachen nur die eine Seite des Verhältnisses, den beständigen Schiffbruch des Geistes, einseitig auffaßt und in ihrem Verdruß hierüber noch einen Widersacher des »Geistes« sucht, den sie in der »Masse« findet! Schließlich läuft diese große kritische Entdeckung auf eine Tautologie hinaus. Der Geist hatte nach ihrer Ansicht bisher eine Schranke, ein Hindernis, d.h. einen Widersacher, weil er einen Widersacher hatte. Wer ist nun der Widersacher des Geistes? Die Geistlosigkeit. Die Masse ist nämlich nur als »Gegensatz« des Geistes bestimmt, als Geistlosigkeit und als die näheren Bestimmungen der Geistlosigkeit, als »Indolenz«, »Oberflächlichkeit«, »Selbstzufriedenheit.« Welche gründliche Überlegenheit über die kommunistischen Schriftsteller, Geistlosigkeit, Indolenz, Oberflächlichkeit, Selbstzufriedenheit nicht in ihre Zeugungsstätten verfolgt, sondern moralisch abgekanzelt und als Gegensatz des Geistes, des Fortschrittes, entdeckt zu haben! Wenn diese Eigenschaften für Eigenschaften der Masse, als eines noch von ihnen unterschiedenen Subjekts, erklärt werden, so ist diese Unterscheidung nichts als eine »kritische« Scheinunterscheidung. Nur zum Schein besitzt die absolute Kritik außer den abstrakten Eigenschaften der Geistlosigkeit, Indolenz etc. noch ein bestimmtes konkretes Subjekt, denn »die Masse« ist in der kritischen Auffassung nichts anderes als jene abstrakten Eigenschaften, ein anderes Wort für dieselben, eine phantastische Personifikation derselben.

Das Verhältnis von »Geist und Masse« hat indes noch einen versteckten Sinn, der sich im Lauf der Entwickelungen vollständig enthüllen wird. Wir deuten ihn hier nur an. Jenes von Herrn Bruno entdeckte Verhältnis ist nämlich nichts anderes als die kritisch karikierte Vollendung der Hegelschen Geschichtsauffassung, welche wieder nichts anderes ist als der spekulative Ausdruck des christlich-germanischen Dogmas vom Gegensatze des Geistes und der Materie, Gottes und der Welt. Dieser Gegensatz drückt sich nämlich innerhalb der Geschichte, innerhalb der Menschenwelt selbst so aus, daß wenige auserwählte Individuen als aktiver Geist der übrigen Menschheit als der geistlosen Masse, als der Materie gegenüberstehen.

Hegels Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen[89] Geschichte läßt er daher eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehn. Die Geschichte der Menschheit verwandelt sich in die Geschichte des abstrakten, daher denn wirklichen Menschen jenseitigen Geistes der Menschheit.

Parallel mit dieser Hegelschen Doktrin entwickelte sich in Frankreich die Lehre der Doktrinäre, welche die Souveränität der Vernunft im Gegensatz zur Souveränität des Volkes proklamierten, um die Massen auszuschließen und allein zu herrschen. Es ist dies konsequent. Wenn die Tätigkeit der wirklichen Menschheit nichts als die Tätigkeit einer Masse von menschlichen Individuen ist, so muß dagegen die abstrakte Allgemeinheit, die Vernunft, der Geist im Gegenteil einen abstrakten. In wenigen Individuen erschöpften Ausdruck besitzen. Es hängt dann von der Position und der Einbildungskraft eines jeden Individuums ab, ob es sich für diesen Repräsentanten »des Geistes« ausgeben will.

Schon bei Hegel hat der absolute Geist der Geschichte an der Masse sein Material und seinen entsprechenden Ausdruck erst in der Philosophie. Der Philosoph erscheint indessen nur als das Organ, in dem sich der absolute Geist, der die Geschichte macht, nach Ablauf der Bewegung nachträglich zum Bewußtsein kömmt. Auf dieses nachträgliche Bewußtsein des Philosophen reduziert sich sein Anteil an der Geschichte, denn die wirkliche Bewegung vollbringt der absolute Geist unbewußt. Der Philosoph kommt also post festum.

Hegel macht sich einer doppelten Halbheit schuldig, einmal indem er die Philosophie für das Dasein des absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwehrt, das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist zu erklären; dann aber, indem er den absoluten Geist als absoluten Geist nur zum Schein die Geschichte machen läßt. Da der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen als schöpferischer Weltgeist zum Bewußtsein kommt, so existiert seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewußtsein, in der Meinung und Vorstellung des Philosophen, nur in der spekulativen Einbildung. Herr Bruno hebt Hegels Halbheit auf.

Einmal erklärt er die Kritik für den absoluten Geist und sich selbst für die Kritik. Wie das Element der Kritik aus der Masse verbannt ist, so ist das Element der Masse aus der Kritik verbannt. Die Kritik weiß sich daher nicht in einer Masse, sondern in einem geringen Häuflein auserwählter Männer, in Herrn Bauer und seinen Jüngern, ausschließlich inkarniert.

Herr Bruno hebt ferner die andere Halbheit Hegels auf, indem er nicht mehr wie der Hegelsche Geist post festum in der Phantasie die Geschichte[90] macht, sondern mit Bewußtsein im Gegensatz zu der Masse der übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spielt, in ein gegenwärtiges dramatisches Verhältnis zu ihr tritt und die Geschichte mit Absicht und nach reiflicher Überlegung erfindet und vollzieht.

Auf der einen Seite steht die Masse als das passive, geistlose, geschichtslose, materielle Element der Geschichte; auf der andern Seite steht: der Geist, die Kritik, Herr Bruno & Comp. als das aktive Element, von welchem alle geschichtliche Handlung ausgeht. Der Umgestaltungsakt der Gesellschaft reduziert sich auf die Hirntätigkeit der kritischen Kritik.

Ja, das Verhältnis der Kritik, also auch der inkarnierten Kritik, Herrn Brunos & Comp., zur Masse ist in Wahrheit das einzige geschichtliche Verhältnis der Gegenwart. Auf die Bewegung dieser beiden Seiten gegeneinander reduziert sich die ganze Jetzige Geschichte. Alle Gegensätze haben sich in diesem kritischen Gegensatz aufgelöst.

Die kritische Kritik, welche sich nur an ihrem Gegensatz, der Masse, der Dummheit, gegenständlich wird, muß sich daher beständig diesen Gegensatz erzeugen, und die Herren Faucher, Edgar und Szeliga haben hinreichende Proben geliefert von [der] Virtuosität, welche sie in ihrem Fache, in der massenhaften Verdummung der Personen und Sachen, besitzt.

Begleiten wir nun die absolute Kritik in ihren Feldzügen gegen die Masse.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 82-91.
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