b) Die Judenfrage Nr. I. Die Stellung der Fragen

[91] Der »Geist« im Gegensatz zur Masse benimmt sich sogleich kritisch, indem er sein eignes borniertes Werk, Bruno Bauers »Judenfrage«, als absolut und nur die Gegner desselben als Sünder betrachtet. In der Replike Nr. I auf die Angriffe wider diese Schrift verrät er keine Ahnung über ihre Mängel, er behauptet vielmehr noch, die »wahre«, »allgemeine« (!) Bedeutung der Judenfrage entwickelt zu haben. In späteren Repliken werden wir ihn gezwungen sehen, seine »Versehen« einzugestehen.

»Die Aufnahme, die meine Arbeit gefunden hat, ist der Anfang des Beweises, daß grade diejenigen, die bis jetzt für Freiheit gesprochen haben und noch jetzt dafür reden, gegen den Geist am meisten sich auflehnen müssen, und die Verteidigung, die ich ihr jetzt widmen werde, wird den weiteren Beweis liefern, wie gedankenlos die Wortführer der Masse sind, die sich wunder wie groß damit wissen, daß sie für die Emanzipation und für das Dogma von den ›Menschenrechten‹ aufgetreten sind.«

Die »Masse« muß notwendig bei Gelegenheit einer Schrift der absoluten Kritik angefangen haben, ihren Gegensatz gegen den Geist zu beweisen, da[91] ihre Existenz sogar durch den Gegensatz zur absoluten Kritik bedingt und bewiesen ist.

Die Polemik einiger liberalen und rationalistischen Juden gegen Herrn Brunos »Judenfrage« hat natürlich einen ganz andern kritischen Sinn als die massenhafte Polemik der Liberalen gegen die Philosophie und der Rationalisten gegen Strauß. Von welcher Originalität übrigens die oben zitierte Wendung ist, mag man aus folgender Stelle Hegels entnehmen:

»Die besondere Form des übeln Gewissens, welche sich in der Art der Beredsamkeit, zu der sich jene« (die liberale) »Seichtigkeit aufspreizt, kundtut, kann hierbei bemerklich gemacht werden, und zwar zunächst, daß sie da, wo sie am geistlosesten redet, am meisten vom Geiste spricht, wo sie am totesten und ledernsten ist, das Wort Leben« etc. »im Munde führt.«

Was die »Menschenrechte« betrifft, so ist Herrn Bruno bewiesen worden (»Zur Judenfrage«, »Deutsch-Französische Jahrbücher«), daß nicht die Wortführer der Masse, sondern vielmehr »er selbst« ihr Wesen verkannt und dogmatisch mißhandelt hat. Gegen seine Entdeckung, daß die Menschenrechte nicht »angeboren« sind, eine Entdeckung, die in England seit mehr als 40 Jahren unendlichemal entdeckt worden ist, ist Fouriers Behauptung, daß Fischen, Jagen etc. angeborene Menschenrechte seien, genial zu nennen.

Wir geben nur einige Beispiele von dem Kampf Herrn Brunos mit Philippson, Hirsch etc. Selbst diese tristen Gegner werden der absoluten Kritik nicht unterliegen. Herr Philippson sagt keinesweges, wie die absolute Kritik behauptet, eine Ungereimtheit, wenn er ihr vorwirft:

»Bauer denke sich einen Staat von eigner Art... ein philosophisches Ideal von einem Staat

Herr Bruno, der den Staat mit der Menschheit, die Menschenrechte mit dem Menschen, die politische Emanzipation mit der menschlichen verwechselte, mußte sich notwendigerweise einen Staat von eigner Art, ein philosophisches Ideal von einem Staate, wenn auch nicht denken, so doch einbilden.

»Hätte der Deklamator« (Herr Hirsch) »lieber, statt seinen anstrengenden Satz niederzuschreiben, meinen Beweis widerlegt, daß der christliche Staat, weil sein Lebensprinzip eine bestimmte Religion ist, den Anhängern einer andern bestimmten Religion... keine vollkommene Gleichartigkeit mit seinen Ständen zuzugestehen vermag.«

Hätte der Deklamator Hirsch wirklich den Beweis des Herrn Bruno widerlegt und, wie es in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« geschehen ist,[92] gezeigt, daß der Staat der Stände und des exklusiven Christentums nicht nur der unvollendete Staat, sondern der unvollendete christliche Staat sei, so hätte Herr Bruno geantwortet, wie er jener Widerlegung antwortet:

»Vorwürfe sind in dieser Angelegenheit bedeutungslos.«

Gegen Herrn Brunos Satz:

»Die Juden haben durch den Druck gegen die Springfedern der Geschichte den Gegendruck hervorgerufen«,

erinnert Herr Hirsch ganz richtig:

»So müßten sie also für die Bildung der Geschichte etwas gewesen sein, und wenn B[auer] dies selbst behaupte, so hätte er andrerseits unrecht zu behaupten, daß sie nichts für die Bildung der neueren Zeit beigetragen hätten.«

Herr Bruno antwortet:

»Ein Dorn im Auge ist auch etwas – trägt er deshalb zur Entwickelung meines Gesichtssinnes bei?«

Ein Dorn, der mir – wie das Judentum der christlichen Welt – von der Stunde der Geburt im Auge sitzt, sitzen bleibt, mit ihm wächst und sich gestaltet, ist kein gewöhnlicher, sondern ein wunderbarer, ein zu meinem Auge gehöriger Dorn, der sogar zu einer höchst originellen Entwickelung meines Gesichtssinnes beitragen müßte. Der kritische »Dorn« spießt also nicht den deklamierenden »Hirsch.« Übrigens ist Herrn Bruno in der oben zitierten Kritik die Bedeutung des Judentums für »die Bildung der neueren Zeit« enthüllt worden.

Das theologische Gemüt der absoluten Kritik fühlt sich von dem Ausspruche eines rheinischen Landtagsabgeordneten, »daß die Juden nach ihrer jüdischen und nicht nach unserer sogenannten christlichen Weise verschroben sind«, dermaßen verletzt, daß sie ihn noch nachträglich »für den Gebrauch dieses Arguments zur Ordnung verweist.«

Auf die Behauptung eines andern Abgeordneten: »Bürgerliche Gleichstellung der Juden kann nur da statthaben, wo das Judentum selbst nicht mehr existiert«, bemerkt Herr Bruno:

»Richtig! dann nämlich richtig, wenn die andere Wendung der Kritik nicht fehlt, die ich in meiner Schrift durchgeführt habe«,

nämlich die Wendung, daß auch das Christentum aufgehört haben müsse zu existieren.

Man sieht, daß die absolute Kritik in Nr. I ihrer Replike auf die Angriffe gegen die Judenfrage noch immer die Aufhebung der Religion, den[93] Atheismus, als Bedingung der bürgerlichen Gleichheit betrachtet, also in ihrem ersten Stadium noch keine weitere Einsicht in das Wesen des Staates wie in das »Versehen« ihres »Werkes« erworben hat.

Die absolute Kritik fühlt sich verstimmt, wenn eine von ihr vorgehabte wissenschaftliche »neueste« Entdeckung als eine schon allgemein verbreitete Einsicht verraten wird. Ein rheinischer Abgeordneter bemerkt,

»daß Frankreich und Belgien bei der Organisation ihrer politischen Verhältnisse gerade durch besondere Klarheit im Erkennen der Prinzipien ausgezeichnet wären. Ist noch von niemandem behauptet worden.«

Die absolute Kritik konnte erwidern, daß diese Behauptung die Gegenwart in die Vergangenheit versetze, indem sie die heute trivial gewordene Ansicht von der Unzulänglichkeit der französischen politischen Prinzipien für die traditionelle Ansicht ausgebe. Die absolute Kritik fände bei dieser sachgemäßen Erwiderung nicht ihre Rechnung. Sie muß vielmehr die verjährte Ansicht als die gegenwärtig herrschende Ansicht und die gegenwärtig herrschende Ansicht als ein kritisches Geheimnis behaupten, das noch durch ihre Studien der Masse zu offenbaren bleibe. Sie muß daher sagen.

»Es« (das antiquierte Vorurteil) »ist von sehr vielen« (der Masse) »behauptet worden: aber eine gründliche Erforschung der Geschichte wird den Beweis führen, daß auch nach den großen Arbeiten Frankreichs für die Erkenntnis der Prinzipien noch viel zu leisten ist.«

Also die gründliche Geschichtsforschung wird nicht selbst die Erkenntnis der Prinzipien »leisten.« Sie wird in ihrer Gründlichkeit nur beweisen, daß »noch viel zu leisten ist.« Eine große, namentlich nach den sozialistischen Arbeiten große Leistung! Für die Erkenntnis des jetzigen gesellschaftlichen Zustandes leistet Herr Bruno indes schon viel mit der Bemerkung:

»Die gegenwärtig herrschende Bestimmtheit ist die Unbestimmtheit

Wenn Hegel sagt, die herrschende chinesische Bestimmtheit sei das »Sein«, die herrschende indische Bestimmtheit sei das »Nichts« etc., so schließt sich die absolute Kritik in »reiner« Weise an, wenn sie den Charakter der jetzigen Zeit in die logische Kategorie der »Unbestimmtheit« auflöst, um so reiner, als auch die »Unbestimmtheit«, gleich dem »Sein« und dem »Nichts«, in das erste Kapitel der spekulativen Logik, in das Kapitel von der »Qualität« gehört.

Wir können uns nicht ohne eine allgemeine Bemerkung von Nr. I der »Judenfrage« trennen.[94]

Ein Hauptgeschäft der absoluten Kritik besteht darin, alle Zeitfragen erst in ihre richtige Stellung zu bringen. Sie beantwortet nämlich nicht die wirklichen Fragen, sondern schiebt ganz andere Fragen unter. Wie sie alles macht, muß sie auch die »Zeitfragen« erst machen, sie zu ihren, zu kritisch-kritischen Fragen machen. Handelte es sich um den »Code Napoleon«, sie würde beweisen, daß es sich eigentlich um den »Pentateuch« handle. Ihre Stellung der »Zeitfragen« ist die kritische Entstellung und Verstellung derselben. So verdrehte sie auch die »Judenfrage« dergestalt, daß sie die politische Emanzipation, um welche es sich in jener Frage handelt, nicht zu untersuchen brauchte, sondern vielmehr mit einer Kritik der jüdischen Religion und einer Schilderung des christlich-germanischen Staats sich begnügen konnte.

Auch diese Methode ist, wie jede Originalität der absoluten Kritik, die Wiederholung eines spekulativen Witzes. Die spekulative Philosophie, namentlich die Hegelsche Philosophie, mußte alle Fragen aus der Form des gesunden Menschenverstandes in die Form der spekulativen Vernunft übersetzen und die wirkliche Frage in eine spekulative Frage verwandeln, um sie beantworten zu können. Nachdem die Spekulation mir meine Frage im Munde verdreht und mir, wie der Katechismus, ihre Frage in den Mund gelegt hatte, konnte sie natürlich, wie der Katechismus, auf jede meiner Fragen ihre Antwort bereit haben.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 91-95.
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