1. Kritische Verwandlung eines Metzgers in einen Hund oder der Chourineur

[173] Chourineur war von Haus aus ein Metzger. Verschiedene Kollisionen machen den gewaltsamen Naturmenschen zum Mörder. Rudolph findet ihn zufällig, als er eben die Fleur de Marie mißhandelt. Rudolph versetzt dem gewandten Raufbold einige meisterhafte, imponierende Faustschläge auf das Haupt. Rudolph erwirbt dadurch Chourineurs Achtung. Später in der Verbrecherkneipe äußert sich Chourineurs gutherziges Temperament. Rudolph sagt ihm: »Du hast noch Herz und Ehre.« Er flößt ihm durch diese Worte Achtung vor sich selbst ein. Chourineur ist gebessert, oder, wie Herr Szeliga sagt. In ein »moralisches Wesen« umgewandelt. Rudolph nimmt ihn unter seine Protektion. Folgen wir dem von Rudolph geleiteten Bildungsgang Chourineurs.

1. Stadium. Der erste Unterricht, den Chourineur erhält, ist ein Unterricht in der Heuchelei, Treulosigkeit, Heimtücke und Verstellung. Rudolph benutzt den moralisierten Chourineur ganz in derselben Weise, wie Vidocq die von ihm moralisierten Verbrecher benutzte, d.h. er macht ihn zum Mouchard und Agent provocateur. Er gibt ihm den Rat, sich bei dem maître d'école das »Ansehen zu geben«, als habe er seine »Prinzipien, nicht zu stehlen«, verändert, dem maître d'école eine Diebesexpedition vorzuschlagen und ihn dadurch in eine von Rudolph gestellte Falle zu locken. Chourineur hat das Gefühl, daß man ihn zu einer »Farce« mißbrauchen will. Er protestiert gegen die Anmutung, die Rolle des Mouchard und Agent provocateur zu spielen. Rudolph überzeugt den naturwüchsigen Menschen leicht durch die »reine« Kasuistik der kritischen Kritik, daß ein schlechter Streich kein schlechter Streich ist, wenn er aus »guten, moralischen« Gründen verübt wird. Chourineur lockt als Agent provocateur unter dem Schein der Kameradschaft und des Vertrauens seinen ehemaligen Gefährten ins Verderben. Zum ersten Male in seinem Leben begeht er eine Infamie.

[173] 2. Stadium. Wir finden den Chourineur wieder als garde-malade Rudolphs, den er aus einer Lebensgefahr errettet hat.

Chourineur ist ein so anständiges moralisches Wesen geworden, daß er den Vorschlag des Negerarztes David, sich auf den Fußboden zu setzen, ablehnt, aus Furcht, den Teppich zu beschmutzen. Ja, er ist zu schüchtern, um sich auf einen Stuhl zu setzen. Erst setzt er den Stuhl auf den Rücken und dann sich selbst auf die Vorderfüße des Stuhls. Er verfehlt nicht, sich jedesmal zu entschuldigen, sobald er Herrn Rudolph, den er aus Todesgefahr errettet, seinen »Freund« oder Monsieur statt Monseigneur anredet.

Bewundernswürdige Dressur des rücksichtslosen Naturmenschen! Chourineur spricht das innerste Geheimnis seiner kritischen Verwandlung aus, wenn er dem Rudolph gesteht, für ihn dasselbe Attachement zu fühlen, welches ein Bulldogge für seinen Herrn empfindet. »Je me sens pour vous, comme qui dirait l'attachement d'un bouledogue pour son maître.« Der ehemalige Metzger ist in einen Hund verwandelt. Von nun an werden sich alle seine Tugenden in die Tugend des Hundes, in das reine »dévouement«« für seinen Herrn auflösen. Seine Selbständigkeit, seine Individualität werden vollständig verschwinden. Wie aber schlechte Maler ihrem Gemälde einen Zettel in den Mund legen müssen, um zu sagen, was es bedeuten soll, so wird Eugen Sue dem »bouledogue« Chourineur einen Zettel in den Mund legen, der fortwährend beteuert: »Die beiden Worte: Du hast Herz und Ehre, haben mich zum Menschen gemacht.« Chourineur wird bis zu seinem letzten Atemzug nicht in seiner menschlichen Individualität, sondern in diesem Zettel das Motiv seiner Handlungen finden. Als Probe seiner moralischen Besserung wird er über seine eigne Vortrefflichkeit und über die Schlechtigkeit anderer Individuen vielfach reflektieren, und sooft er mit moralischen Redensarten um sich wirft, wird ihm Rudolph sagen: »Ich höre dich gern so sprechen.« Chourineur ist kein gewöhnlicher, sondern ein moralischer Bulldogge geworden.

3. Stadium. Wir haben schon den spießbürgerlichen Anstand, der an die Stelle der rohen, aber kühnen Ungeniertheit Chourineurs getreten ist, bewundert. Wir erfahren nun, daß er, wie es einem »moralischen Wesen« geziemt, auch den Gang und die Haltung des Spießbürgers sich angeeignet hat.

»A le voir marcher – on l'eût pris pour le bourgeois le plus inoffensif du monde.«[174]

Noch trauriger wie diese Form ist der Gehalt, den Rudolph seinem kritisch reformierten Leben gibt. Er schickt ihn nach Afrika, um als »ein lebendiges und heilsames Exempel der Reue der ungläubigen Welt zum Schauspiel zu dienen.« Nicht seine eigne menschliche Natur hat er von nun an darzustellen, sondern ein christliches Dogma.

4. Stadium. Die kritisch-moralische Umwandlung hat den Chourineur zu einem stillen, vorsichtigen Mann gemacht, der sein Betragen nach den Regeln der Furcht und Lebensklugheit einrichtet.

»Le chourineur«, berichtet Murph, dessen indiskrete Einfalt beständig aus der Schule plaudert, »n'a pas dit un mot de l'exécution du maître d'école, de peur de se trouver compromis.«

Chourineur weiß also, daß die Exekution des maître d'école eine rechtswidrige Handlung war. Er plaudert sie nicht aus, aus Furcht, sich zu kompromittieren. Weiser Chourineur!

5. Stadium. Chourineur hat seine moralische Bildung so weit vollendet, daß er sein hündisches Verhältnis zu Rudolph unter einer zivilisierten Form sich zum Bewußtsein bringt. Er sagt zu Germain, nachdem er ihn aus einer Todesgefahr errettet hat:

»Ich habe einen Protektor, der für mich dasselbe ist, was Gott für die Priester – es ist, um sich auf die Knie vor ihm zu werfen.«

Und in Gedanken liegt er vor seinem Gott auf den Knien.

»Herr Rudolph«, fährt er zu Germain fort, »beschützt Sie. Ich sage Herr, aber ich müßte sagen gnädiger Herr. Doch ich habe die Gewohnheit, ihn Herr Rudolph zu nennen, und er erlaubt es mir.«

»Herrliches Erwachen und Erblühen!« ruft Szeliga im kritischen Entzücken aus!

6. Stadium. Chourineur beendigt würdig seine Laufbahn des reinen dévouement, des moralischen Bulldoggentums, indem er sich schließlich für seinen gnädigen Herrn totstechen läßt. Im Augenblick, wo das Skelett den Prinzen mit seinem Messer bedroht, hält Chourineur den Arm des Mörders auf. Skelett durchsticht ihn. Der sterbende Chourineur aber sagt zu Rudolph:

»Ich hatte recht zu sagen, daß ein Stück Erde« (ein Bulldogge) »wie ich manchmal einem großen gnädigen Herrn wie Ihnen nützlich sein könne.«[175]

Dieser hündischen Äußerung, welche den ganzen kritischen Lebenslauf Chourineurs in ein Epigramm zusammenfaßt, fügt der Zettel in seinem Munde hinzu:

»Wir sind quitt, Herr Rudolph. Sie haben mir gesagt, daß ich Herz und Ehre hätte.«

Herr Szeliga schreit aus vollen Leibeskräften:

»Welch ein Verdienst erwirbt sich Rudolph damit, den ›Schurimann‹ (?) der Menschheit (?) zurückgegeben zu haben!«

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 173-176.
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