[465] In dem Maße, wie die Polizeimysterien sich aufklärten, erklärte sich die öffentliche Meinung für die Angeklagten. Als der Betrug des Originalprotokollbuchs enthüllt war, erwartete man allgemein die Freisprechung. Die »Kölnische Zeitung« sah sich veranlaßt, eine Kniebeugung vor der öffentlichen Meinung und eine Wendung gegen die Regierung zu machen. Kleine, den Angeklagten günstige und den Stieber verdächtigende Notizen verirrten sich auf einmal in Spalten, die früher nur den Polizei-Insinuationen offengestanden hatten. Die preußische Regierung selbst gab die Partie verloren. ihre Korrespondenten in »Times« und »Morning Chronicle« begannen plötzlich die öffentliche Meinung des Auslandes auf einen ungünstigen Ausgang vorzubereiten. Wie verderblich und ungeheuerlich die Lehren der Angeklagten, wie abscheulich die bei ihnen vorgefundenen Dokumente auch sein möchten, tatsächliche Beweise eines Komplotts lägen nicht vor, eine Verurteilung sei daher kaum wahrscheinlich. So kopfhängerisch resigniert schrieb der Berliner Korrespondent der »Times«, das servile Echo der Befürchtungen, die in den höchsten Kreisen der Spreestadt zirkulierten. Um so ausgelassener war der Jubel des byzantinischen Hofes und seiner Eunuchen, als der elektrische Telegraph das »Schuldig« der Geschwornen von Köln nach Berlin blitzte.
Mit der Enthüllung des Protokollbuchs war der Prozeß in ein neues Stadium getreten. Es stand den Geschwornen nicht mehr frei, die Angeklagten schuldig oder nichtschuldig, sie mußten jetzt die Angeklagten schuldig finden – oder die Regierung. Die Angeklagten freisprechen hieß die Regierung verurteilen.
In seiner Replik auf die Verteidigungsreden der Advokaten ließ Prokurator Saedt das Originalprotokollbuch fallen. Er wollte nicht von einem Dokument Gebrauch machen, an dem solch ein Makel hafte, er selbst halte es für »unecht«, es sei ein »unseliges« Buch, es habe viel unnützen Zeitverlust verursacht, zur Sache selbst trage es nichts bei, Stieber habe sich aus lobenswertem Diensteifer mystifizieren lassen etc.[465]
Aber die Prokuratur selbst hatte in ihrer Anklage behauptet, das Buch enthalte »viel Wahres«. Weit entfernt, es für unecht zu erklären, hatte sie nur bedauert, seine Echtheit nicht beweisen zu können. Mit der Echtheit des von Stieber beschworenen Originalprotokollbuchs fiel die Echtheit der von Stieber beschworenen Aussage des Cherval zu Paris, auf die Saedt in seiner Replik noch einmal zurückkommt, fiel alles Tatsächliche, was die angestrengteste Tätigkeit aller Behörden des preußischen Staats während 11/2 Jahren aufgestiebert hatte. Die auf den 28. Juli angekündigte Assisenverhandlung war für drei Monate sistiert worden. Warum? Wegen Krankheit des Polizeidirektors Schulz. Und wer war Schulz? Der ursprüngliche Entdecker des Originalprotokollbuchs. Gehen wir weiter zurück. Januar und Februar 1852 waren Haussuchungen bei der Frau Doktor Daniels gehalten worden. Auf welchen Grund? Auf Grund der ersten Seiten des Originalprotokollbuchs, die Fleury dem Schulz übersandt hatte, die Schulz an das Polizeidirektorium in Köln, die das Polizeidirektorium zu Köln an den Untersuchungsrichter gelangen ließ, die den Untersuchungsrichter in die Wohnung der Frau Doktor Daniels führten.
Trotz des Komplottes Cherval hatte der Anklagesenat im Oktober 1851 noch immer nicht den mangelnden Tatbestand gefunden und daher auf Befehl des Ministeriums eine neue Untersuchung angeordnet. Wer führte diese Untersuchung? Polizeidirektor Schulz. Schulz also sollte den Tatbestand finden. Was fand Schulz? Das Originalprotokollbuch. Alles neue Material, das er herbeischaffte, beschränkte sich auf die losen Blätter des Protokollbuchs, die Stieber nachher vervollständigen und zusammenbinden ließ. Zwölfmonatiges Zellengefängnis für die Angeklagten, um dem Originalprotokollbuch die nötige Zeit zur Geburt und zum Wachstum zu geben. Bagatellen! ruft Saedt und findet schon darin den Beweis der Schuld, daß Verteidiger und Angeklagte acht Tage brauchen, um einen Augiasstall zu leeren, den voll zu machen alle Behörden des preußischen Staats sich 11/2 Jahre lang bemühen und die Angeklagten 11/2 Jahre sitzen. Das Originalprotokollbuch war kein einzelner Inzidenzpunkt, es war der Knotenpunkt, worin alle Fäden der Regierungstätigkeit zusammenliefen, Gesandtschaft und Polizei, Ministerium und Magistratur, Prokuratur und Postdirektion, London, Berlin und Köln. Das Originalprotokollbuch machte so viel zur Sache, daß es erfunden wurde, um überhaupt eine Sache zu machen. Kuriere, Depeschen, Postunterschlagungen, Verhaftungen, Meineide, um das Originalprotokollbuch aufrechtzuerhalten, Falsa, um es zu schaffen. Bestechungsversuche, um es zu rechtfertigen. Das enthüllte Mysterium des Originalprotokollbuchs war das enthüllte Mysterium des Monstreprozesses.[466]
Ursprünglich war die Wunder wirkende Intervention der Polizei nötig gewesen, um den reinen Tendenzcharakter des Prozesses zu verstecken. Die bevorstehenden Enthüllungen – so eröffnete Saedt die Verhandlungen – werden ihnen, meine Herren Geschwornen, beweisen, daß der Prozeß kein Tendenzprozeß ist. Jetzt hebt er den Tendenzcharakter hervor, um die Polizeienthüllungen vergessen zu machen. Nach der 11/2jährigen Voruntersuchung bedurften die Geschworenen eines objektiven Tatbestandes, um sich vor der öffentlichen Meinung zu rechtfertigen. Nach der fünfwöchigen Polizeikomödie bedurften sie der »reinen Tendenz«, um sich aus dem tatsächlichen Schmutz zu retten. Saedt beschränkt sich daher nicht nur auf das Material, das den Anklagesenat zu dem Urteil veranlaßte: »es sei kein objektiver Tatbestand vorhanden«. Er geht weiter. Er sucht nachzuweisen, daß das Gesetz gegen Komplott überhaupt keinen Tatbestand verlangt, sondern ein reines Tendenzgesetz ist, also die Kategorie des Komplotts nur ein Vorwand ist, um politische Ketzer in Form Rechtens zu verbrennen. Sein Versuch versprach größern Erfolg durch Anwendung des nach der Verhaftung der Angeklagten promulgierten neuen preußischen Strafgesetzbuchs. Unter dem Vorwand, dies Gesetzbuch enthalte mildernde Bestimmungen, konnte der servile Gerichtshof dessen retroaktive Anwendung zulassen.
War aber der Prozeß ein reiner Tendenzprozeß, wozu die 11/2jährige Voruntersuchung? Aus Tendenz.
Da es sich also einmal um Tendenz handelt, sollen wir nun die Tendenz prinzipiell mit einem Saedt-Stieber-Seckendorf, mit einem Göbel, mit einer preußischen Regierung, mit den 300 Meistbesteuerten des Regierungsbezirks von Köln, mit dem königlichen Kammerherrn von Münch-Bellinghausen und mit dem Freiherrn von Fürstenberg diskutieren? Pas si bête.
Saedt gesteht (Sitzung vom 8. November),
»daß, als ihm vor wenigen Monaten der Auftrag zuteil wurde, und zwar durch den Herrn Oberprokurator, das öffentliche Ministerium mit ihm in dieser Sache zu vertreten, und als er infolgedessen die Akten durchzulesen begann, er zuerst auf die Idee kam, sich mit dem Kommunismus und Sozialismus etwas näher zu beschäftigen. Er fühlte sich deshalb um so mehr gedrungen, den Geschworenen das Resultat seiner Nachforschungen mitzuteilen, als er von der Unterstellung ausgehen zu dürfen glaubte, daß vielleicht manche unter ihnen, gleich ihm, sich damit noch wenig beschäftigt hätten.«
Saedt kauft sich also das bekannte Kompendium von Stein.
»Und was er heute gelernt,
das will er morgen schon lehren.«[467]
Aber das öffentliche Ministerium hatte ein eigentümliches Unglück. Es suchte den objektiven Tatbestand Marx, und es fand den objektiven Tatbestand Cherval. Es sucht den Kommunismus, den die Angeklagten propagieren, und es findet den Kommunismus, den sie bekämpft haben. Im Kompendium Stein finden sich allerdings allerlei Sorten Kommunismus, nur nicht die Sorte, die Saedt sucht. Stein hat den deutschen, den kritischen Kommunismus noch nicht registriert. Allerdings befindet sich in Saedts Händen das »Manifest der Kommunistischen Partei«, das die Angeklagten als das Manifest ihrer Partei anerkennen. In diesem »Manifest« befindet sich wieder ein Kapitel, das die Kritik der ganzen bisherigen sozialistischen und kommunistischen Literatur, also der ganzen von Stein registrierten Weisheit enthält. Aus diesem Kapitel muß sich der Unterschied der angeklagten kommunistischen Richtung von allen früheren Richtungen des Kommunismus ergeben, also der spezifische Inhalt und die spezifische Tendenz der Lehre, gegen die Saedt requiriert. Kein Stein half bei diesem Stein des Anstoßes. Hier mußte man verstehen, sei es auch nur, um zu verklagen. Wie hilft sich nun der von Stein im Stiche gelassene Saedt? Er behauptet:
»Das ›Manifest‹ besteht aus 3 Abschnitten. Der erste Abschnitt enthalte eine historische Entwicklung der gesellschaftlichen Stellung der verschiedenen Bürger (!) vom Standpunkt des Kommunismus, (very fine)... Der zweite Abschnitt entwickele die Stellung der Kommunisten gegenüber den Proletariern... Endlich im letzten Abschnitt werde über die Stellung der Kommunisten in den verschiedenen Ländern gehandelt...«(!) (Sitzung vom 6. November.)
Das »Manifest« besteht nun allerdings aus 4 Abschnitten und nicht aus 3, aber was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Saedt behauptet daher, es bestehe aus 3 Abschnitten und nicht aus 4. Der Abschnitt, der nicht für ihn besteht, ist derselbige unselige Abschnitt, der die Kritik des von Stein protokollierten Kommunismus, also die spezifische Tendenz des angeklagten Kommunismus enthält. Armer Saedt! Erst fehlt ihm der Tatbestand, jetzt fehlt ihm die Tendenz.
Aber grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Die »sogenannte soziale Frage«, bemerkt Saedt, »und ihre Lösung hat in neuerer Zeit Berufene und Unberufene beschäftigt«. Saedt gehört jedenfalls zu den Berufenen, denn der Oberprokurator Seckendorf hat ihn amtlich vor drei Monaten zum Studium des Sozialismus und Kommunismus »berufen«. Die Saedts aller Zeiten und allerorten haben von jeher darin übereingestimmt, den Galilei für »unberufen«[468] zur Erforschung der Himmelsbewegung, den Inquisitor aber, der ihn verketzerte, für »berufen« zu erklären. E pur si muove.4
In den Angeklagten stand den in der Jury vertretnen herrschenden Klassen das revolutionäre Proletariat waffenlos gegenüber; die Angeklagten waren also verurteilt, weil sie vor dieser Jury standen. Was das bürgerliche Gewissen der Geschworenen einen Augenblick erschüttern konnte, wie es die öffentliche Meinung erschüttert hatte, war die bloßgelegte Regierungsintrige, die Korruption der preußischen Regierung, die sich vor ihren Augen enthüllt hatte. Aber, sagten sich die Geschworenen, aber wenn die preußische Regierung so infame und zugleich so waghalsige Mittel gegen die Angeklagten riskiert, wenn sie sozusagen ihren europäischen Ruf aufs Spiel gesetzt hat, nun dann müssen die Angeklagten, kleine Partei so viel man will, verdammt gefährlich und jedenfalls muß ihre Lehre eine Macht sein. Die Regierung hat alle Gesetze des Kriminalkodex verletzt, um uns vor dem kriminellen Ungeheuer zu schützen. Verletzen wir unsererseits unser bißchen point d'honneur, um die Ehre der Regierung zu retten. Selen wir dankbar, verurteilen wir.
Rheinischer Adel und rheinische Bourgeoisie stimmten mit ihrem Schuldig in den Schrei ein, den die französische Bourgeoisie nach dem 2. Dezember ausstieß:
»Nur noch der Diebstahl kann das Eigentum retten, nur noch der Meineid die Religion, nur noch das Bastardtum die Familie, nur noch die Unordnung die Ordnung!«
Das ganze Staatsgebäude hat sich in Frankreich prostituiert. Und doch hat sich keine Institution so tief prostituiert wie französische Gerichtshöfe und Geschworenen. Obertreffen wir die französischen Geschworenen und Richter, riefen Jury und Gerichtshof zu Köln. In dem Prozeß Cherval, unmittelbar nach dem Staatsstreich, hatte die Pariser Jury den Nette freigesprochen, gegen den mehr vorlag als gegen einen der Angeklagten. Übertreffen wir die Jury des Staatsstreichs vom 2. Dezember. Verurteilen wir in Röser, Bürgers etc. nachträglich den Nette.[469]
So ward der Aberglaube an die Jury, der in Rheinpreußen noch wucherte, für immer gebrochen. Man begriff, daß die Jury ein Standgericht der privilegierten Klassen ist, eingerichtet, um die Lücken des Gesetzes durch die Breite des bürgerlichen Gewissens zu überbrücken.
Jena!... das ist das letzte Wort für eine Regierung, die solcher Mittel zum Bestehen, und für eine Gesellschaft, die solch einer Regierung zum Schutz bedarf. Das ist das letzte Wort des Kölner Kommunistenprozesses... Jena![470]
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