XXI. Des Vaters Tod.

[241] Kurz vor diesem meinem »Ehrentage« war mein Vater aus Meran nach Hause gebracht worden. Als ein Sterbender. Aus Rücksicht auf seinen verzweifelten Zustand wurde im elterlichen Hause von der bevorstehenden Aufführung meines Stückes in keinerlei Weise gesprochen, weder mit hoffnungsvollen noch mit herabsetzenden Worten; nur den Unterton des Vorwurfs konnte ich heraushören, daß ich dem kranken Vater durch so einen dummen Streich, wie die Einreichung eines Dramas doch wohl scheinen mußte, noch einen Schmerz bereitet hätte. Später erfuhr ich freilich, daß der Vater sich von meiner Schwester täglich hatte Bericht erstatten lassen und die mehr oder weniger freundlichen Rezensionen mit Stolz und Befriedigung las. Mich aber rief er wenige Tage nach der Aufführung an sein Bett, erwähnte mein Stück mit keinem Worte, sprach sehr harte, im allgemeinen gar nicht unberechtigte Urteile über die literarische Laufbahn, die in der Gosse enden müßte, und nahm mir das Versprechen ab, dem schönen Berufe eines Advokaten treu zu bleiben. Ich könnte ja nebenbei so viel dichten als ich nur wollte. Ich gab das Versprechen.

Am folgenden Nachmittage bat mich der Vater, dessen Befinden unverändert schien, ihm eine Orange vom[241] besten Prager Zuckerbäcker zu holen; Orangen waren damals noch eine seltenere Frucht als heute, wenigstens in Prag. Ich setzte die Mütze auf und stürzte die Treppe hinunter, um den Wunsch meines Vaters zu erfüllen; er war tot zurückgesunken, bevor ich noch das Haustor erreicht hatte. Als ich mit der Orange zurückkam, war schon eine Viertelstunde seit seinem letzten Atemzuge vergangen.

Ich saß lange allein neben dem Toten. Was mir da alles durch den Sinn ging, das geht keinen Lebendigen etwas an. Da ich aber mein Versprechen vom Tage vorher nicht verschwiegen habe, so darf und muß ich jetzt hinzufügen, daß ich in dieser Stunde, unter Selbstvorwürfen und von namenloser Erregung gepeinigt, dennoch den klaren und festen Entschluß faßte, mein gegebenes Wort nicht zu halten. Ich soll selbst wie eine Leiche ausgesehen haben, als ich endlich das Sterbezimmer verließ. Ich stand in meinem fünfundzwanzigsten Jahre und hatte noch das Pathos des Knaben nicht überwunden. Heute darf ich ruhig sagen, daß es ebensogut und natürlich dem Sterbenden gegenüber war, ihm das geforderte Versprechen zu geben, wie es gut und natürlich mir selbst gegenüber war, mich nicht als gebunden zu betrachten. Ich habe das Wort »Pflicht« oder gar das Wort »Pflichtenkollision« absichtlich vermieden; Pflichtenkollisionen wie alle Widersprüche sind nur in der Sprache.

Insoweit ich es für richtig halte, Familienangelegenheiten in Lebenserinnerungen zu veröffentlichen, habe ich schon kurz erzählt, wie das Kriegsjahr 1866 meinen Vater um sein kleines Vermögen und um seine Gesundheit gebracht hatte. Als der Bankerott seiner Neffen hereinbrach – mein Vater erfuhr die Nachricht aus[242] einem Zeitungstelegramm, während wir am Frühstückstisch saßen – hatte sich eben, fast zu gleicher Zeit, sein ältester Sohn und seine einzige Tochter verlobt; meine Schwester mit einem jungen Arzte, mein Bruder mit einem ebenfalls plötzlich verarmten schönen und lieben Mädchen. Wenn ich es recht bedenke, benahm sich mein Vater in dieser harten Zeit mustergültig; der auf seine Ehre stolze Junker, der ihm wohl in seiner glänzenden Kinderzeit anerzogen war, kam schön heraus. Die notwendigen Geldopfer wurden vornehm und klaglos gebracht; wie das der Vater bei der Zerrüttung seiner Verhältnisse möglich gemacht hat, ist mir ein Rätsel geblieben. Außer mir, der nun bald allein im Hause zurückblieb und seine Studien hätte aufgeben sollen, schien meinem Egoismus nur meine Mutter unter der veränderten Lage zu leiden. Meine Brüder waren schlicht in die Fremde gegangen. Mein Vater hörte keinen Tag auf, der vornehme Mann zu sein, fast hätte ich Kavalier gesagt; und es ist auch schon erwähnt worden, daß die Neffen nach wenigen Jahren wieder zu Vermögen kamen und ihre Verpflichtungen bei Heller und Pfennig erfüllten, so daß unser Haus noch bei Lebzeiten des Vaters in seinen bescheidenen Wohlstand zurückkehrte.

Aber die Aufregungen des Jahres 1866, die unmerkbaren Demütigungen für Stolz und Eitelkeit hatten die Kräfte des Vaters aufgezehrt. Im Jahre 1867, während ich wegen eines bedrohlichen Lungenspitzenkatarrhs und eines noch bedrohlicheren Schwächezustandes im Bad Reinerz Molke trank, erkrankte der Vater an einer Lungenentzündung. Nach der scheinbaren Heilung blieb Tuberkulose zurück. Ein Husten, der wieder vergehen würde, so wurde ihm noch jahrelang zum Troste gesagt.[243] Als die äußern Verhältnisse sich wieder besserten, begann mein Vater nach der Reihe die Orte aufzusuchen, in denen vom Schwindel, von der Mode oder von gutgläubigen Ärzten Hustern und Schwindsüchtigen Genesung versprochen wurde. Der Vater, der die Disposition wahrscheinlich von seiner Mutter geerbt hatte, war gewiß unheilbar. Und brach völlig zusammen, als ihm der gewissenlose Arzt eines berühmten Badeortes in der Heftigkeit eines Streites die Wahrheit über seinen Zustand gesagt hatte. Von da ab – in seinen drei letzten Jahren – brachte der Vater einen Sommermonat und den ganzen Winter stets in sogenannten Bädern zu und entfremdete seinem Hause noch mehr, als das auch sonst wohl durch seine Schweigsamkeit gekommen wäre.

In diese Leidenszeit meines Vaters fiel 1869 mein mit Glanz bestandenes Abiturientenexamen, dann 1871 das mit weniger Glanz aber doch immerhin bestandene rechtshistorische Staatsexamen, fiel endlich mein erstes öffentliches Auftreten als Schriftsteller. Als die vorgeschriebenen acht Semester vorüber waren, und ich weder das zweite Staatsexamen abgelegt hatte, noch mich auf die Doktorpromotion vorbereitete, drängte mich der Vater, wenigstens nicht völlig müßig zu gehn, vielmehr als so etwas wie Volontär bei einem Advokaten zu arbeiten. Doktor von Wiener, der angesehenste Advokat von Prag, Mitglied des böhmischen Landesauschusses usw., erklärte sich bereit, mich noch vor dem zweiten und dritten Staatsexamen, von welchem Termin ab der Dienst eigentlich erst »zählte«, in seine Kanzlei aufznehmen. Ich fügte mich mit jenem passiven Widerstande, der mir zur zweiten Natur geworden war; so wenig ich seit dem rechtshistorischen[244] Staatsexamen irgendwelche nützliche Juristerei getrieben hatte, so wenig dachte ich jetzt daran, die beiden letzten Examina zu machen oder gar Doctor juris zu werden. Es war mir nur nicht gegeben, dem schwerkranken Vater – es war ein halbes Jahr vor seinem Tode – zu widersprechen.

Die menschlichen Beziehungen zu der Advokaten-Kanzlei waren im Grund sehr gemütlich. Unser Haus und das des Advokaten waren seit vielen Jahren befreundet; zwischen uns Geschwistern und den Töchtern des Advokaten bestanden jüngere und ältere Tanzstunden- und Eislaufbeziehungen. Auch meine berufliche Tätigkeit dort hätte unter einem guten Zeichen stehen können. Dr. von Wiener selbst freilich hatte keine Zeit, sich um sein Bureau zu kümmern; er hatte zu viele politische Ämter. Aber sein erster »Konzipiert«, ein vortrefflicher Jurist und ausgezeichneter Mensch, auch mir als älteres Tanzstundensemester wohlgesinnt, gab sich redliche Mühe, mich zu einem brauchbaren Juristen zu erziehen. Es war ganz vernünftig, daß ich in den ersten Monaten wie zwei andere einfache Schreiber mit der Kopierung von Schriftsätzen beschäftigt wurde; da kann man lernen, wie die hohe Wissenschaft der Jurisprudenz in der Praxis aussieht. Zu Beginn des Jahres 1875 begann mein freundlicher Mentor, der erste Konzipient, meine juristischen Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Zweimal wurde mir, als die Arbeit drängte und immer wieder neue Kläger Prozesse anstrengten, die erste Einleitung eines solchen Prozesses anvertraut, die Protokollierung der Species facti.

In dem ersten Falle war mein Chef der Vertreter des Verklagten, eines der fürstlichen böhmischen Magnaten,[245] die beinahe wie reichsunmittelbare Herren auf einem ihrer ungeheuern Güter sitzen und den Rechtsstaat dazu gebrauchen, die kleinen Leute an ihren »Grenzen« zu drücken. Die Streitfrage lag eigentlich sehr einfach und wurde nur durch die Gesetzesparagraphen kompliziert. Durch die Anlage von großen Karpfenteichen auf einem der fürstlichen Güter war einem unterhalb hausenden Müller das nötige Wasser für sein Mühlrad während der größern Jahreshälfte genommen worden. Widerrechtlich. Der Müller hatte geklagt. Der Förster des Fürsten war nach Prag gekommen und seine Aussage, die offenbar eine Rechtsbeugung möglich machen sollte, hatte ich vorläufig aufzunehmen. Der Tadel blieb mir nicht erspart, daß ich diesen wichtigsten Zeugen auf einen schwachen Punkt seiner Aussage nicht aufmerksam gemacht hätte; daß ich also aus falscher Sentimentalität dem Gegner unseres Klienten geholfen hätte. Der Müller verlor dennoch seinen Prozeß. Als wir beim Biertisch nachher die Angelegenheit besprachen, wie irgendeine ganz unpersönliche juristische Frage, da mußte ich mich von unserm ersten Konzipienten und seinen Freunden darüber belehren lassen, daß ein tüchtiger Advokat einzig und allein die Interessen seines Klienten wahrzunehmen hätte. Davon hatte ich wirklich keine Ahnung gehabt.

Der zweite Fall war ebensowenig geeignet, meiner Scheu vor der Ausübung des Advokatenberufes ein Ende zu machen. Ein jüdischer Schuster, der nebenbei in seinem Viertel ein bißchen Wucher trieb, verklagte einen kleinen Beamten, der ihm einen Wechsel im Betrage von etwas über 100 Gulden unterschrieben hatte. Der Schuster betonte, daß die Summe »gesetzlich« so[246] angewachsen wäre. Das war eigentlich gar kein Prozeß zu nennen; wir hatten nur einige Formalien auszuführen. Als ob der Beamte an den Wucherer Steuern zu zahlen gehabt hätte, so kurzerhand wurde er verurteilt und gepfändet.

So habe ich wohlgezählt zweimal als ein winziges Glied der großen Rechtsmaschine dazu beigetragen, daß das zermalmende Rad des unrichtigen Rechtes sich weiter drehe. Ich mußte die beiden kleinen Erlebnisse mitteilen, wollte ich die Stimmung erraten lassen, in welcher ich dem Berufe gegenüberstand, in den man mich hineindrängen wollte, wollte ich begreiflich machen, wie unmöglich es mir war, diesen Beruf nicht an den Nagel zu hängen. An der Leiche meines Vaters hielt ich mir sehr pathetisch die Schrecklichkeit eines gebrochenen Worts vor, ich war sogar töricht genug, eine Beruhigung dabei zu empfinden, daß es nicht ausdrücklich ein Ehrenwort gewesen war; nicht geringer war das Pathos, mit dem ich mich dagegen empörte, etwa als Advokat dem zahlungsfähigen Unrecht jedes Klienten dienen zu müssen.

Ich besuchte die Kanzlei nach dem Tode meines Vaters nur noch ein einziges Mal, um den juristischen Herren Lebewohl zu sagen; sie wunderten sich nicht und gaben mir freundliche Wünsche auf den Weg. Aber in ihren Mienen konnte ich lesen: Aus dem wird nichts.[247]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 241-248.
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