[139] Was ist Gott und was ist der Tempel Gottes? Vierundzwanzig Meister kamen zusammen und wollten sagen, was Gott sei, und konnten es nicht. Hernach kamen sie zu geeigneter Zeit wieder und jeder von ihnen brachte seinen Spruch mit, von denen nehme ich jetzt zwei oder drei. Der eine sprach: Gott ist etwas, gegen den alle wandelbaren und zeitlichen Dinge nichts sind, und alles was Wesen hat, ist von ihm und ist gegen ihn klein. Der zweite sprach: Gott ist etwas, das da über Wesen ist und das in sich selbst niemandes bedarf und dessen alle Dinge bedürfen. Der dritte sprach: Gott ist eine Vernünftigkeit, die sich selbst erkennen will.
Ich lasse das erste und das dritte und spreche von dem zweiten, dass Gott etwas ist, das notwendig über Wesen sein muss. Was Wesen hat, Zeit oder Raum, das gehört nicht zu Gott, er ist über dasselbe; was er in allen Kreaturen ist,[139] das ist er doch darüber; was da in vielen Dingen eins ist, das muss notwendig über den Dingen sein. Einige Meister wollten, die Seele wäre allein im Herzen. Dem ist nicht so, und darin haben grosse Meister geirrt. Die Seele ist ebensogut ganz und ungeteilt im Fuss und im Auge. Nehme ich ein Stück von der Zeit, so ist es weder der Tag heute noch der Tag gestern. Nehme ich aber ein Nu, das begreift alle Zeit in sich. Das Nu, worin Gott die Welt machte, ist dieser Zeit ebenso nahe, wie das Nu, worin ich eben spreche, und der jüngste Tag ist diesem Nu so nahe wie der Tag gestern war.
Ein Meister sagt: Gott ist etwas, das in Ewigkeit ungeteilt in sich selbst wirkt, das niemandes Hilfe und keines Werkzeuges bedarf, und das in sich selbst bleibt, das nichts bedarf und dessen alle Dinge bedürfen und nach dem alle Dinge trachten als in ihr letztes Ende. Dies Ende hat keine Weise, es entwächst der Weise und geht in die Weite. Sankt Bernhard sagt: Gott lieben, das ist weise ohne Weise. Kein Ding kann über sein Wesen wirken. Gott aber wirkt über Wesen in der Weite, wo er sich rühren kann, er wirkt in Unwesen Wesen; ehe ein Wesen war, wirkte Gott. Grosse Meister sagen, Gott sei ein absolutes Wesen; er ist hoch über Wesen, wie der oberste Engel über einer Mücke. Und ich[140] sage, es ist ebenso unrecht, Gott ein Wesen zu heissen, als ob ich die Sonne bleich oder schwarz hiesse. Gott ist weder dies noch das. Und es sagt ein Heiliger: Wenn einer wähnt, er habe Gott erkannt – wenn er etwas erkannt hat, so hat er etwas erkannt und hat also nicht Gott erkannt.
Kleine Meister lesen in der Schule, alle Wesen seien auf zweierlei Weise geteilt, und diese Weisen sprechen sie Gott völlig ab. Von diesen Weisen berührt Gott keine und er entbehrt auch keine. Die erste, die am allermeisten Wesen hat, worin alle Dinge Wesen annehmen, ist die Substanz, und das letzte, was am wenigsten Wesen in sich trägt, heisst relatio, das ist in Gott gleich dem allergrössten, das am allermeisten Wesen hat; sie haben ein gleiches Bild in Gott. In Gott sind aller Dinge Bilder gleich; aber sie sind ungleich dem Bild der Dinge. Der höchste Engel und die Seele und die Mücke haben ein gleiches Bild in Gott. Gott ist nicht Wesen noch Güte. Güte klebt an Wesen und ist nicht breiter als Wesen, denn wäre nicht Wesen, so wäre nicht Güte, und Wesen ist noch reiner als Güte. In Gott ist weder Güte noch Besseres noch Allerbestes. Wer sagte, dass Gott gut sei, der täte ihm ebenso unrecht, als wer die Sonne schwarz[141] hiesse. Nun spricht doch Gott: niemand ist gut als Gott allein. Was ist gut? Was sich dem Allgemeinen mitteilt. Den heissen sie einen guten Menschen, der gemeinnützig ist. Darum sagt ein heidnischer Meister, ein Einsiedler sei weder gut noch böse (dem Sinne nach), weil er der Gemeinschaft und den Leuten nicht nützlich sei. Gott ist das allgemeinste. Kein Ding teilt von dem Seinen mit, weil alle Kreaturen an sich selbst nichts sind. Was sie mitteilen, das haben sie von einem andern. Sie geben sich auch nicht selbst. Die Sonne gibt ihren Schein und bleibt doch dastehen, das Feuer gibt seine Hitze und bleibt doch Feuer; aber Gott teilt das Seine mit, weil er an sich selber ist, was er ist, und in allen den Gaben, die er gibt, gibt er sich selbst immer am ersten. Er gibt sich als Gott wie er ist in allen seinen Gaben, sofern es an ihm ist, dass einer ihn empfangen könnte.
Wenn wir Gott im Wesen nehmen, so nehmen wir ihn in seiner Vorburg; denn Wesen ist seine Vorburg, worin er wohnt. Wo ist er denn in seinem Tempel? Dies ist die Vernünftigkeit, wo er heilig erglänzt, wie der andere Meister sagte, dass Gott eine Vernunft ist, die in ihrer Erkenntnis allein lebt und in sich selbst allein bleibt,[142] und da hat ihn nie etwas berührt, denn er ist da allein in seiner Stille. Gott in seiner Selbsterkenntnis erkennt sich selbst in sich selbst.[143]