3. Von der Abgeschiedenheit

[165] Ich habe viele Schriften gelesen, von heidnischen Meistern und von Propheten, und vom alten und neuen Bund, und habe mit Ernst und ganzem Fleiss gesucht, was die beste und höchste Tugend sei, mit der der Mensch sich auf dem nächsten Wege zu Gott verfügen könnte, und mit der der Mensch ganz gleich wäre dem Bilde, wie er in Gott war, indem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war, bevor Gott die Kreaturen erschuf. Und wenn ich alle Schriften durchforsche, so gut meine Vernunft zu ergründen und erkennen vermag, so finde ich nichts anderes als reine Abgeschiedenheit, die aller Kreaturen entledigt ist. Darum sprach unser Herr zu Martha: »unum est necessarium,« das heisst so viel wie: wer ungetrübt und rein sein will, der muss eines haben, und das ist Abgeschiedenheit.

Die Lehrer loben gar gewaltig die Liebe, wie[165] zum Beispiel Sankt Paulus mit den Worten: »Was ich auch üben mag, habe ich nicht Liebe, so habe ich gar nichts.« Ich aber lobe die Abgeschiedenheit mehr als alle Liebe. Zum ersten darum, weil das Gute an der Liebe ist, dass sie mich zwingt, Gott zu lieben. Nun ist es viel mehr wert, dass ich Gott zu mir zwinge als dass ich mich zu Gott zwinge. Und das kommt daher, dass meine ewige Seligkeit daran liegt, dass ich und Gott vereinigt werden; denn Gott kann sich passender mir anpassen und besser mit mir vereinigen, als ich mit ihm. Dass Abgeschiedenheit Gott zu mir zwingt, das bewähre ich damit: ein jedes Ding ist doch gerne an seiner natürlichen Eigenstätte. Nun ist Gottes natürliche Eigenstätte Einfachheit und Reinheit; die kommen von der Abgeschiedenheit. Darum muss Gott notwendig sich selbst einem abgeschiedenen Herzen hingeben. – Zum zweiten lobe ich die Abgeschiedenheit mehr als die Liebe, weil die Liebe mich dazu zwingt, alles um Gottes willen auf mich zu nehmen, während die Abgeschiedenheit mich dazu zwingt, dass ich für nichts empfänglich bin als für Gott. Nun steht es aber viel höher, für gar nichts als Gott empfänglich zu sein, als um Gottes willen alles zu tragen. Denn in dem Leiden hat der Mensch noch einen Hinblick auf die Kreatur, von der er zu leiden hat. Die Abgeschiedenheit[166] dagegen ist aller Kreatur entledigt. Dass aber die Abgeschiedenheit für nichts als für Gott empfänglich ist, das beweise ich: denn was empfangen werden soll, dass muss irgendworin empfangen werden. Nun ist aber die Abgeschiedenheit dem Nichts so nahe, dass kein Ding so zierlich ist, dass es in der Abgeschiedenheit enthalten sein kann als Gott allein. Der ist so einfach und zierlich, dass er wohl in dem abgeschiedenen Herzen sich aufhalten kann.

Die Meister loben auch die Demut vor vielen andern Tugenden. Ich lobe die Abgeschiedenheit vor aller Demut, und zwar darum. Die Demut kann ohne die Abgeschiedenheit bleiben; dagegen gibt es keine vollkommene Abgeschiedenheit ohne vollkommene Demut. Denn vollkommene Demut zielt auf ein Vernichten seiner selbst; nun berührt sich aber die Abgeschiedenheit so nahe mit dem Nichts, dass zwischen ihr und dem Nichts kein Ding mehr sein kann. Daher kann es keine vollkommene Abgeschiedenheit ohne Demut geben, und zwei Tugenden sind immer besser als eine. Der andere Grund, warum ich die Abgeschiedenheit der Demut vorziehe, ist das, dass die vollkommene Demut sich selbst unter alle Kreaturen beugt, und eben damit begibt sich der Mensch aus sich selbst zu den Kreaturen. Aber die Abgeschiedenheit bleibt in sich selbst. Nun[167] aber kann kein Hinausgehen jemals so hoch stehen wie das Darinbleiben in sich selbst. Die vollkommene Abgeschiedenheit achtet auf nichts und neigt sich weder unter noch über eine Kreatur: sie will nicht unten noch oben sein; sie will so für sich selbst verharren, niemand zu Lieb und niemand zu Leid, und will weder Gleichheit noch Ungleichheit, noch dies noch das mit irgend einer Kreatur gemein haben, sie will nichts anderes als allein sein. Daher werden keinerlei Dinge von ihr belästigt.

Ich ziehe auch die Abgeschiedenheit allem Mitleid vor, denn das Mitleid ist nichts anderes, als dass der Mensch aus sich selbst heraus zu den Gebresten seines Mitmenschen geht und davon sein Herz betrüben lässt. Dessen steht die Abgeschiedenheit ledig und bleibt in sich selbst und lässt sich durch nichts betrüben. Kurz gesagt: wenn ich alle Tugenden betrachte, so finde ich keine so ganz ohne Fehler und so zu Gott führend wie die Abgeschiedenheit.

Ein Meister, namens Avicenna spricht: Die Stufe des Geistes, der abgeschieden ist, ist so hoch, das alles, was er schaut, wahr ist, und was er begehrt, wird ihm gewährt, und wo er gebietet, da muss man ihm gehorsam sein. Und ihr sollt das fürwahr wissen: wenn der freie Geist in rechter Abgeschiedenheit steht, so zwingt er[168] Gott zu seinem Wesen; und könnte er formlos und ohne allen Zustand sein, so nähme er Gottes Eigenschaft an. Das kann aber Gott niemandem geben als sich selbst; daher kann Gott dem abgeschiedenen Geiste nicht mehr tun, als dass er sich ihm selbst gibt. Und der Mensch, der in so ganzer Abgeschiedenheit steht, wird so in die Ewigkeit verzückt, dass ihn kein vergängliches Ding bewegen kann, dass er nichts empfindet, was körperlich ist, und der Welt tot heisst, denn er empfindet und schmeckt nichts, was irdisch ist. Das meinte Sankt Paulus, als er sprach: »Ich lebe und lebe doch nicht, Christus lebt in mir.« Nun könntest du fragen, was denn die Abgeschiedenheit sei, wenn sie so edel an sich selbst ist? Nun sollst du erfahren, dass richtige Abgeschiedenheit nichts anderes ist als dass der Geist gegen alle Umstände, sei es Freude oder Leid, Ehre, Schande oder Schmach, so unbeweglich bleibt, wie ein breiter Berg gegen einen kleinen Wind. Diese unbewegliche Abgeschiedenheit bringt den Menschen in die grösste Gleichheit mit Gott. Denn dass Gott Gott ist, das hat er von seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, und davon hat er seine Reinheit und seine Einfachheit und seine Unwandelbarkeit. Will daher der Mensch Gott gleich werden, soweit eine Kreatur Gleichheit mit Gott haben kann, so muss[169] er abgeschieden sein. Und du sollst wissen: leer sein aller Kreaturen ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein. Du sollst ferner wissen, dass Gott in dieser unbeweglichen Abgeschiedenheit vorweltlich gestanden ist und noch steht, und sollst wissen, als Gott Himmel und Erde erschuf und alle Kreaturen, das ging seine unbewegliche Abgeschiedenheit so wenig an, als ob er nie Kreaturen geschaffen hätte. Ich sage noch mehr: von allen Gebeten und guten Werken, die der Mensch in der Zeit wirken kann, wird Gottes Abgeschiedenheit so wenig bewegt, als ob nirgends in der Zeit ein Gebet oder ein gutes Werk geschähe, und Gott wird gegen den Menschen dadurch so wenig huldvoller oder geneigter, wie wenn das Gebet oder die guten Werke nicht vor sich gegangen wären. Ich sage noch mehr: als der Sohn in der Gottheit Mensch werden wollte und ward und die Marter erlitt, das ging die unbewegliche Abgeschiedenheit Gottes so wenig an, als ob er nie Mensch geworden wäre. Nun könntest du sagen: So höre ich wohl, dass alles Gebet und alle guten Werke verloren sind, wenn sich Gott ihrer nicht annimmt, und dass ihn niemand damit bewegen kann, und man sagt doch, Gott will um alle Dinge gebeten werden. Hier sollst du wohl auf mich achten und mich recht verstehn (wenn es[170] dir möglich ist), dass Gott mit seinem ersten Blick (wenn wir von einem ersten Blick da reden wollen) alle Dinge ansah, wie sie geschehen sollten, und mit demselben Blick sah, wann und wie er die Kreaturen erschaffen sollte. Er sah auch das geringste Gebet und gute Werk, das jemand je tun würde, und sah an, welches Gebet und welche Andacht er erhören sollte; er sah, dass du ihn morgen eifrig anrufen und mit rechtem Ernst bitten wirst, und dieses Anrufen und Gebet wird Gott nicht morgen erhören, denn er hat es in seiner Ewigkeit gehört, bevor du Mensch wurdest. Ist aber dein Gebet nicht vernünftig oder ohne Ernst, so wird es dir Gott nicht jetzt versagen, denn er hat es dir in seiner Ewigkeit versagt. So hat Gott mit seinem ersten ewigen Blick alle Dinge angesehen und wirkt gar nichts um eines Warums willen, denn es ist alles ein vorgewirktes Ding. Und so steht Gott allezeit in seiner unbeweglichen Abgeschiedenheit, während doch darum der Leute Gebet und gute Werke nicht verloren sind, denn wer recht tut, dem wird auch recht gelohnt. Philippus sagt: »Gott Schöpfer hält die Dinge in dem Lauf und der Ordnung, die er ihnen im Anfang gegeben hat.« Denn bei ihm ist nichts vergangen und auch nichts künftig, und er hat alle Heiligen geliebt, wie er sie vorhergesehen hat, ehe die Welt[171] ward. Und wenn es dazu kommt, dass sich das in der Zeit zeigt, was er in der Ewigkeit angesehen hat, so wähnen die Leute, Gott habe sich eine neue Liebe beigelegt; und wenn er zürnt oder etwas Gutes tut, so werden wir gewandelt, er aber bleibt unwandelbar, wie der Sonnenschein den kranken Augen weh und den gesunden wohl tut, und bleibt doch für sich selbst unwandelbar derselbe Schein. Gott sieht nicht die Zeit, und in seinem Sehen geschieht auch keine Erneuerung. In diesem Sinne spricht auch Isidorus in dem Buch vom obersten Gute: Es fragen viele Leute, was Gott tat, ehe er Himmel und Erde erschuf, oder woher der neue Wille in Gott kam, dass er die Kreaturen schuf? und antwortete folgendes: Es stand nie ein neuer Wille in Gott auf, denn obwohl es richtig ist, dass die Kreatur nicht für sich selbst war, wie sie jetzt ist, so war sie doch verweltlich in Gott und seiner Vernunft. Gott schuf nicht Himmel und Erde, wie wir vergänglich sagen, dass sie wurden, sondern alle Kreaturen sind in dem ewigen Worte gesprochen. Nun könnte ein Mensch fragen: Hatte Christus auch unbewegliche Abgeschiedenheit, als er sprach: »Meine Seele ist betrübt bis in den Tod?« und Maria, als sie unter dem Kreuze stand? und man spricht doch viel von ihrer Klage: wie kann dies alles sich[172] vertragen mit unbeweglicher Abgeschiedenheit? Hier sollst du erfahren, was die Meister sprechen, dass in einem jeden Menschen zweierlei Menschen sind: der eine heisst der äussere Mensch, das ist die Sinnlichkeit; diesem Menschen dienen fünf Sinne, doch wirkt er mit der Kraft der Seele. Der andere Mensch heisst der innere Mensch, das ist des Menschen Innerlichkeit. Nun sollst du wissen, dass jeder Mensch, der Gott liebt, die Kräfte der Seele in dem äussern Menschen nicht mehr anwendet, als die fünf Sinne zur Not bedürfen; und die Innerlichkeit wendet sich nur insoweit zu den fünf Sinnen, als sie ein Führer und Lehrer derselben ist und sie behütet, dass sie ihren Gegenstand nicht tierisch benutzen, wie manche Leute tun, die ihrer leiblichen Wollust nachleben wie die Tiere, die ohne Vernunft sind, und solche Leute sollten eigentlich mehr Tiere als Menschen heissen. Und die Kräfte, die die Seele überdies hat und den fünf Sinnen nicht gibt, gibt sie alle dem innern Menschen, und wenn der einen hohen, edeln Gegenstand hat, so zieht sie alle die Kräfte, die sie den fünf Sinnen geliehen hat, zu sich heran, und es heisst dieser Mensch dann von Sinnen und verzückt, weil sein Gegenstand ein unvernünftiges Bild ist oder etwas Vernünftiges ohne Bild. Und wisset, dass Gott von jedem Geistmenschen[173] begehrt, dass er ihn mit allen Kräften der Seele liebt. Darum sprach er: »liebe deinen Gott von ganzem Herzen.« Nun gibt es manche Menschen, die verzehren die Kräfte der Seele ganz und gar in dem äussern Menschen. Das sind die Leute, die alle ihre Sinne und Gedanken auf vergängliche Güter richten und nichts von dem inneren Menschen wissen. Wie nun ein guter Mensch manchmal den äussern Menschen aller Kräfte der Seele beraubt, wenn sie eine hohe Aufgabe hat, so berauben tierische Leute den innern Menschen aller Kräfte der Seele, und gebrauchen sie für den äussern Menschen. Nun musst du wissen, dass der äussere Mensch in Tätigkeit sein kann, während der innere gänzlich derselben entledigt und unbeweglich steht. Nun war in Christus auch ein äusserer und ein innerer Mensch, und ebenso in unserer Frau, und alles, was Christus und unsere Frau je von äusseren Dingen redeten, das taten sie als äusserer Mensch, und der innere Mensch stand in einer unbeweglichen Abgeschiedenheit. Nimm dafür ein Ebenbild: Eine Tür geht in einer Angel auf und zu. Nun vergleiche ich das äussere Brett an der Türe dem äusseren Menschen, und die Angel dem inneren Menschen. Wenn nun die Tür auf und zu geht, so bewegt sich das äussere Brett hin und her, und die Angel bleibt doch[174] unbeweglich an einem Fleck und wird darum nicht im geringsten verändert. In gleicher Weise ist es auch hier.

Nun frage ich, was die Aufgabe der reinen Abgeschiedenheit sei? Darauf antworte ich, dass weder dies noch das ihre Aufgabe ist. Sie beruht auf einem blossen Nichts, denn sie beruht auf dem Höchsten, worin Gott mit seinem ganzen Wirken kann. Nun kann Gott nicht in allen Herzen trotz all seines Willens etwas wirken. Denn obwohl Gott allmächtig ist, so kann er doch nur wirken, wenn er Bereitschaft oder Macht findet. Sein Wirken ist in den Menschen anders als in den Steinen; dafür finden wir in der Natur ein Gleichnis. Wenn man einen Backofen heizt und einen Teig von Hafer und einen von Gerste und einen von Roggen und einen von Weizen hineinlegt, so ist nur eine Hitze in dem Ofen, und doch wirkt sie nicht in allen Teigen gleich; denn der eine wird ein schönes Brot, der andere wird rauh und der dritte noch rauher. Daran ist nicht die Hitze schuld, sondern die Materie, die ungleich ist. Ebenso wirkt Gott nicht in allen Herzen gleich, sondern je nachdem er Bereitschaft und Empfänglichkeit findet. In den Herzen nun, in denen dies oder das ist, kann etwas sein, das Gott hindert aufs höchste zu wirken. Soll daher ein Herz Bereitschaft für[175] das Allerhöchste haben, so muss es auf einem blossen Nichts beruhen, und darin ist auch die grösste Möglichkeit, die es geben kann. Nimm dafür ein Gleichnis aus der Natur. Will ich auf eine weisse Tafel schreiben, so kann etwas, das auf der Tafel geschrieben steht, noch so erhaben sein, es stört mich doch, weil ich nicht darauf schreiben kann; und wenn ich schreiben will, so muss ich alles auslöschen, was auf der Tafel steht, und die Tafel passt mir dann am besten zum Schreiben, wenn nichts darauf steht. Ebenso ist es, wenn Gott aufs allerhöchste in mein Herz schreiben will, dann muss alles aus dem Herzen heraus, was dies oder das geheissen ist, und so steht es um das abgeschiedene Herz. Daher mag dann Gott aufs allerhöchste seinen obersten Willen wirken, und so ist des abgeschiedenen Herzens Aufgabe weder dies noch das. Nun frage ich aber: was ist des abgeschiedenen Herzens Gebet? Ich antworte: Abgeschiedenheit und Reinheit kann nicht bitten, denn wer bittet, der begehrt etwas von Gott, was ihm zu teil werde, oder was Gott ihm abnehmen soll. Nun begehrt aber das abgeschiedene Herz nach nichts und hat auch nichts, dessen es gerne ledig wäre. Darum ist es allen Gebets entledigt, und sein Gebet ist nichts anderes als mit Gott einförmig sein. In diesem Sinne[176] können wir das Wort nehmen, das Dionysius über Sankt Pauls Wort spricht: »Es sind ihrer viel, die alle nach der Krone laufen, und sie wird doch nur einem zu teil.« Alle Kräfte der Seele laufen nach der Krone, und sie wird doch allein dem Wesen zu teil. Dazu also sagt Dionysius: Der Lauf ist nichts anderes als ein Abwenden von allen Kreaturen und ein Vereinigen mit der Ungeschaffenheit. Und wenn die Seele dazu kommt, dann verliert sie ihren Namen und zieht Gott in sich, dass sie an sich selbst zunichte wird, wie die Sonne das Morgenrot anzieht, dass es zunichte wird. Dazu bringt den Menschen nichts als reine Abgeschiedenheit. Hierher kann auch das Wort, das Sankt Augustin spricht, passen: Die Seele hat einen himmlischen Eingang in die göttliche Natur, wo ihr alle Dinge zunichte werden. Dieser Eingang ist auf Erden nichts anderes als reine Abgeschiedenheit. Und wenn die Abgeschiedenheit aufs höchste kommt, so wird sie aus Bewusstsein bewusstlos und aus Liebe lieblos und vor Licht finster. Darum können wir auch annehmen, was ein Meister spricht: Selig sind die Armen des Geistes, die Gott alle Dinge gelassen haben, wie er sie hatte, als wir nicht waren. Dass Gott in einem abgeschiedenen Herzen lieber ist als in allen andern Herzen, das merken wir daran: wenn du mich[177] fragst, was Gott in allen Dingen suche, so antworte ich dir aus dem Buche der Weisheit, wo er spricht: »In allen Dingen suche ich Ruhe.« Es ist aber nirgends ganze Ruhe als allein in dem abgeschiedenen Herzen. Es kann sich aber kein Mensch für das göttliche Einfliessen anders empfänglich machen als dadurch, dass er mit Gott einförmig wird, denn je nachdem ein Mensch mit Gott einförmig ist, ist er des göttlichen Einfliessens empfänglich. Daher scheidet die Bilder ab und einigt euch mit formlosem Wesen, denn Gottes geistiger Trost ist zart, darum will er sich niemandem bieten als dem, der leiblichen Trost verschmäht.

Nun höret, vernünftige Leute allesamt: es ist niemand fröhlicher als wer in der grössten Abgeschiedenheit steht. Es kann keine leibliche oder fleischliche Lust ohne geistigen Schaden sein; wer darum im Fleisch ungeordnete Liebe sät, der ruft den Tod herbei; und wer im Geist ordentliche Liebe sät, der erntet im Geist das ewige Leben. Je mehr daher der Mensch vor dem Geschöpf flieht, um so mehr läuft ihm der Schöpfer nach. Daher ist Abgeschiedenheit das allerbeste, denn sie reinigt die Seele und läutert die Gewissen und entzündet das Herz und erweckt den Geist und spornt die Begierde und vergoldet die Tugend und lässt Gott erkennen[178] und scheidet die Kreatur ab und vereint sie mit Gott; denn die von Gott getrennte Liebe ist wie das Wasser im Feuer und die mit ihm vereinigte Liebe ist wie der Waben im Honig. Nun passt auf, vernünftige Geister allesamt! Das schnellste Tier, das euch zur Vollkommenheit trägt, ist Leiden, denn es geniesst niemand mehr der ewigen Seligkeit als wer mit Christus in der grössten Bitternis steht. Es gibt nichts Galligeres als leiden und nichts Honigsameres als gelitten haben. Das sicherste Fundament, worauf diese Vollkommenheit beruhen kann, ist Demut, denn wessen Natur hier in der tiefsten Niedrigkeit kriecht, dessen Geist fliegt auf in das Höchste der Gottheit, denn Freude bringt Leid und Leid bringt Freude. Der Menschen Tun ist vierlerlei: der eine lebt so, der andere anders. Wer in dieser Zeit zum höchsten Leben kommen will, der nehme mit kurzen Worten aus dieser ganzen Schrift die Lehre, mit der ich schliesse:

Halte dich abgeschieden von allen Menschen, halte dich rein von allen eingezogenen Bildern, befreie dich von alledem, was Unfall, Haft und Kummer bringen kann, und richte dein Gemüt allzeit auf ein tugendhaftes Schauen, in dem du Gott in deinem Herzen trägst als stetes Ziel, von dem deine Augen niemals ablassen; und was andere Uebungen angeht, als Fasten, Wachen,[179] Beten, die richte darauf als auf ihren Zweck und habe so viel davon, als sie dich dazu fördern können, so erreichst du das Ziel der Vollkommenheit. Nun könnte jemand sagen: wer könnte den unverwandten Anblick des göttlichen Vorbildes aushalten? Darauf antworte ich: niemand, der heutzutage lebt. Es ist dir allein darum gesagt, damit du weisst, was das Höchste ist, und wonach du trachten und begehren sollst. Wenn aber dieser Anblick dir entzogen wird, so soll dir, wenn du ein guter Mensch bist, zu Mute sein, als ob dir deine ewige Seligkeit genommen wäre, und du sollst bald zu ihm wiederkehren, damit er dir wieder werde, und du sollst allezeit auf dich selbst acht haben, und dein Ziel und deine Zuflucht soll darin sein, so sehr es dir möglich ist. Herr, gelobt seist du ewiglich. Amen.[180]

Quelle:
Meister Eckharts mystische Schriften. Berlin 1903, S. 165-181.
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