Die chinesischen Ausgaben und ihr Verhältnis zum Pāli-Text


Die Meinung mehrerer Orientalisten, dass es zwei verschiedene chinesische Übersetzungen der »Fragen des Menandros« gebe, beruht auf einem Irrtum.

Tatsächlich gibt es nur zwei verschiedene Ausgaben derselben Übersetzung, deren einziger Unterschied darin besteht, dass die koreanische Ausgabe, im Gegensatz zur Ausgabe der Sung-, Ming- und Yen-Dynastie, Kapitel 2, 3–9 und Kapitel 3 vom zweiten Buch des Pāli-Textes nicht mitenthält. Sonst sind die beiden Ausgaben, von einigen kleinen Änderungen und Zusätzen der Abschreiber und Herausgeber abgesehen, vollkommen identisch, und es ist kein Zweifel, dass wir es hier mit einer unvollständigen und einer vollständigen Abschrift desselben Textes zu tun haben. Wie der Inhalt des letzteren zu dem des Pāli-Textes sich verhält, zeigt die folgende, auf der Zählung der Rhys Davids'schen Übersetzung basierende Tabelle. [119]


Pāli / Chinesisch

Stoff / Reihenfolge

Buch I

1 / fehlt / –

2 / ähnlich / 4

3 / fehlt

4 – 8 / verschieden / 1

9 – 10 / verschieden / 3

11 – 14 / fehlen / –

17 – 18 / fehlen

15 – 16 / kürzer und teilweise verschieden / 2

19 – 36 / ebenso / 2

37 – 44 / ebenso / 5


Buch II

Kap. 1

1 / ebenso / 1

2 / fehlt

3 – 8 / ebenso / 2 – 7

9 / ebenso / 9

10 / ebenso / 8

11 – 15/ ebeneso / 10 – 14

Kap. 2

1 – 9/ ebenso / 1 – 9

Kap. 3

1 – 7 / ebenso / 1 – 7

– / ein Abschnitt / 8

8 / ebenso / 9

9 – 11 / ebenso / 10 – 12

12 – 13 / fehlen / –

14 – 16 / ebenso / 13 – 14


Buch III

Kap. 4

1 – 7 / ebenso / 1 – 7

Kap. 5

1 – 5 / ebenso / 1 – 5

6 / fehlt / –

7 – 10 / ebenso / 6 – 9[120]

Kap.,6

1 / ebenso / 1

2 / fehlt / –

3 – 7 / ebenso / 2 – 6

8 – 9 / fehlen / –

10 – 11 / ebenso / 7 – 8

Kap. 7

1 / ebenso / 1

– / ein Abschnitt / 2

2 – 6 / ebenso / 3 – 7

7 – 8 / ebeneso / 8 – 9

9 – 12 / ebenso / 13 – 16

13 – 15 / ebenso / 10 – 12

16 / ebenso / 17

17 – 18 / ebenso / 18 – 19


Bücher IV, V, VI / fehlen / –


Schlusserzählung / fehlt / –


Vom Pāli-Text unterscheidet sich der chinesische also hauptsächlich durch das Fehlen der letzten drei Bücher und durch die Vorgeschichte des ersten Buches, ausserdem durch ein paar kleinere Abweichungen. Interessant und bedeutsam für das gegenseitige Verhältnis der beiden Versionen ist vor allem die Vorgeschichte, von der ich gleichfalls eine Inhaltsangabe liefern will (nach J. Takakusu, J.R.A.S. 1896).

Die Geschichte beginnt, vom Fehlen der Eingangsformel abgesehen, genau wie ein buddhistisches Sūtra183. Der Buddha hat im Jeta-Haine bei Çrāvastī, im Garten Anāthapindikas, zahllosen Menschen Tag für Tag gepredigt und zieht sich, nach Erholung verlangend, in[121] ein Walddickicht zurück. In dasselbe Dickicht kommt ein Elefantenkönig, der sich von seiner Herde getrennt hat, um im Essen und Trinken von den jungen Elefanten nicht länger gestört zu werden. Er sieht den in Andacht dasitzenden Buddha und fällt vor ihm auf die Kniee. Der Buddha hält ihm nun eine Predigt, und die Folge davon ist, dass der entzückte Elefant sich ganz dem Erhabenen zu widmen beschliesst und ihn täglich bedient. Nicht lange darauf aber ging der Buddha, von der Erde verschwindend, in Parinirvāna ein. Der Elefant suchte ihn vergebens, weinte und klagte und nahm nicht Speise noch Trank zu sich, bis er endlich an ein von fünfhundert Arhats bewohntes Bergkloster kam und herausfand, dass dort regelmässige Vorlesungen über die Lehre Buddhas gehalten wurden. Er fand sich nun beständig zu diesen ein, bis sein langes Elefantenleben zu Ende war.

Darauf wurde er infolge des Interesses, das er für den Buddha und seine Lehre gezeigt, als Mensch wiedergeboren, und zwar in einer Brāhmanenfamilie. Er zog sich von dieser jedoch in den Wald zurück und machte dort die Bekanntschaft eines anderen brāhmanischen Einsiedlers, der von da an sein einziger Verkehr war. Kurz bevor er starb, ging er mit der Absicht um, als buddhistischer Mönch seine Geburten zum Abschluss zu bringen, während sein Genosse in der Sterbestunde sich wünschte, ein weltbeherrschender König zu werden.

In der Tat wurde dieser als der Sohn eines mächtigen Königs, dessen Land an die See grenzte184, wiedergeboren, und seine Eltern nannten ihn Mi-lan (Menandra). Der andere dagegen kam – und zwar[122] gleich mit dem gelben Gewand der buddhistischen Mönche – in Kaschmir wieder zur Welt und erhielt, da in dem Hause am gleichen Tage ein Elefant (nā = nāga) geboren worden war, den Namen Nā-sien (Nāgasena).

Der junge Nā-sien liess sich bald von seinem Oheim Lo-han (Rohana) in den buddhistischen Orden aufnehmen, und, als er zwanzig Jahre alt war, empfing er im Tempel Ho-shan (= Vattaniya?) von O-pei (Assagutta)185, dem Oberhaupt der dort wohnenden fünfhundert Arhats, die höhere Weihe, musste aber, weil er noch nicht Arhat war, diese Gesellschaft wieder verlassen und trat nun einstweilen bei dem achtzigjährigen Ka-vi in die Lehre. Dieser schickte ihn zu einem Laienjünger, und die Folge der Predigt, die er auf dessen Bitte hielt, war, dass der Jünger sowohl wie er selbst die erste Stufe der Heiligkeit186 erreichte. Darauf aber wurde Nā-sien wegen Ungehorsams gegen seinen Lehrer – er war nicht, wie ihm Ka-vi befohlen hatte, mit dem Mund voll Wasser zu dem Laienjünger gegangen – von den fünfhundert Arhats trotz des Protestes ihres Oberhauptes ausgestossen. Traurig zog er sich in ein Gebirge zurück, erlangte dort schliesslich die Arhatschaft, rechtfertigte sich nun vor den Fünfhundert und gelangte dann, als berühmter Wanderprediger Indien durchziehend, nach Sā-ga (Sāgala) zum Tempel I-ti-ka.

Mi-lan andererseits war inzwischen seinem Vater in der Herrschaft gefolgt, nachdem er eine hervorragende Geistesbildung erlangt hatte, und seine Stadt Sāgala stand in höchster Blüte. [Die Stadt wird hier ähnlich wie im Pāli-Text beschrieben.] Der König[123] liess öffentlich anfragen, ob jemand mit ihm über die Lehren Buddhas diskutieren wolle. Da führte ihm einer seiner Höflinge einen Çramanen187 namens Ya-ho-la (Āyupāla) zu. Aber diesen brachte der König durch die Frage zum Schweigen, warum er nicht ein weltliches Leben führte, da er doch selbst zugegeben hätte, dass auch Laien Nirvāna erlangen könnten.188 Darauf wird von demselben Höfling Nāgasena vor den König geführt, und die grosse Unterredung beginnt, die den eigentlichen Inhalt des Buches bildet.

Diese Vorgeschichte der Unterredung nimmt im Exemplar des India Office von neunundfünfzig Blättern nur neun ein, ist also nicht übertrieben gross. Sie stimmt mit der Pāli-Erzählung ungefähr überein, ausser in der Eröffnungserzählung von dem Elefantenkönig und seinem Schicksal, die in der ersteren fehlt. Nun ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass der Autor des Pāli-Textes die Elefantengeschichte zwar vorgefunden, aber nicht mitübersetzt habe. Diese wird also nachträglich erfunden worden sein, um den Namen Nāga-sena »der ein Elefantenheer hat« zu erklären, aber natürlich nicht in China, sondern schon in Indien, so dass folglich dem chinesischen und dem Pāli-Übersetzer unmöglich ein und dasselbe Original vorgelegen haben kann.

Viel unbedeutender als in der Vorgeschichte sind die Abweichungen im zweiten und dritten Buche. Hier stimmt der chinesische nur darin nicht zu dem Pāli-Text, dass ihm II, 1, 2 und II, 3, 12–13 des letzteren fehlen, dass III, 6, 2 des Pāli-Textes bei ihm den Abschnitt III, 7, 2 bildet, und endlich durch den[124] auf II, 3, 7 folgenden Abschnitt, der im Pāli fehlt. Dieser Abschnitt lautet:

Der König fragte Nāgasena weiter: »Was ist Zahl?«

Der Weise antwortete: »Zahl ist Rechnen. Alle Wissenschaften in den Büchern sind auch Zahl. Sie (die Wissenschaften) können durch Gehör, Gesicht, Geruch, Geschmack, Getast und Phantasie allmählich erlernt werden. Durch diese sechs (Sinne) kommt Erkenntnis189 zustande, nicht durch einen (allein).«

Der König sprach: »Gut!«

Was endlich das gänzliche Fehlen des vierten, fünften und sechsten Buches und der dem letzten folgenden Schlusserzählung (Bekehrungs-Geschichte) betrifft, so ist dieses, wie schon in unserer Einleitung ausgeführt, ein um so stärkerer Beweis für die Unursprünglichkeit dieser Stücke, als von ihnen das Vorhergehende nicht nur durch seinen Inhalt scharf absticht, sondern auch dadurch, dass es eine eigene, vollkommen natürliche Schlusserzählung hat.

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. 116-125.
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