VII. Fortsetzung. Streit des Idealisten mit dem Dualisten. Wahrheitstrieb und Billigungstrieb.

[59] In der letzten Vorlesung habe ich gesucht, den Streit zwischen den Spiritualisten und Dualisten ins Reine zu bringen, und euch zu zeigen, auf welche feine Distinction er am Ende hinausläuft. Der Anhänger des Idealismus hält alle Phänomena unsrer Sinne für Accidenzen des menschlichen Geistes, und glaubet nicht, daß ausserhalb desselben ein materielles Urbild anzutreffen sey, dem sie als Beschaffenheiten zukommen. Der Dualist hingegen spricht: Ich finde in diesen sinnlichen Erscheinungen, die ihr Accidenzen der Seele nennt, so viel Uebereinstimmung zwischen verschiedenen Sinnesarten, zwischen Menschen und Menschen, ja sogar zwischen Menschen und Thieren; daß ich mich für berechtigt halte, den Uebereinstimmungsgrund nicht in mich selbst, sondern in etwas zu setzen, das ausser mir befindlich ist. Als Accidenzen in mir, sind die sinnlichen Phänomena Abbildungen desselben; die, wie alle Abbildungen aus einem gewissen Gesichtspunkte, zwar etwas Perspectives haben, aber deswegen nicht ohne Wahrheit sind. Das materielle Urbild enthält den Grund von der Wahrheit und Uebereinstimmung aller dieser Abbildungen. Es erregt in uns die Vorstellung von Ausdehnung, Bewegung, Figur, Undurchdringlichkeit u.s.w. Daher ist dieses Urbild selbst ausgedehnt, beweglich, undurchdringlich und nimmt gewisse Figuren an. Man läßt sich durch leere Worte hintergehen und in die Irre führen, wenn man unter dem Ausdrucke, ausgedehnt, beweglich und undurchdringlich seyn, ein Mehreres verstehen will.

Seyd ihr es nicht vielmehr selbst, sprach letzthin ein Anhänger des geistigen Systems, mit dem ich mich hierüber in Streit einließ: Seid ihr es nicht vielmehr selbst, der diese Verwirrung in der Sprache veranlaßt, und uns darin zu verwickeln sucht? Alle Eigenschaften, die ihr diesem Urbilde zuschreibt, sind, eurem eignen Geständnisse nach, bloße Accidenzen der Seele. Wir wollen ja aber wissen, was dieses Urbild selber sey, nicht was es würke. Freund, antwortete ich, wenn dieses euer Ernst ist; so dünkt mich, ihr verlangt etwas zu[59] wissen, das schlechterdings kein Gegenstand des Wissens ist. Wir stehen an der Gränze, nicht nur der menschlichen Erkenntniß, sondern aller Erkenntniß überhaupt; und wollen noch weiter hinaus, ohne zu wissen, wohin. Wenn ich euch sage, was ein Ding würket oder leidet; so fraget weiter nicht, was es ist. Wenn ich euch sage, was ihr euch von einem Dinge für einen Begriff zu machen habet; so hat die fernere Frage, was dieses Ding an und für sich selbst sey? weiter keinen Verstand. Und so haben sich die Weltweisen von je her öfters mit Fragen gequälet, die im Grunde nicht zu beantworten sind; weil sie aus leeren Worten bestehen, die keinen Sinn mit sich führen. So fragt der Atheist, was denn Gott eigentlich sey? Zeigt ihm, was Gott gewürkt habe; zeigt ihm die ganze Herrlichkeit der Schöpfung und alle Schönheit und Vollkommenheit, die sie enthält. Saget ihm, Gott habe dieses alles hervorgebracht, mit Weisheit hervorgebracht; und erhalte und regiere dieses alles, nach den Gesetzen der Weisheit und Güte, davon er die Spuren in jedem Sonnenstäublein, so wie in sich selbst findet. Alles dieses befriedigt ihn nicht. Er fährt fort, zu fragen: Was ist denn aber Gott selbst?

Erinnert euch, fuhr ich fort, daß die Materialisten, welche alle einfache geistige Wesen für Hirngespinste halten, uns durch eine ähnliche Frage in die Enge zu treiben glauben. Was ist denn, sprechen sie gemeiniglich, was ist denn euer einfaches, geistiges Wesen, das weder Größe noch Figur, weder Farbe noch Ausdehnung haben soll. Umsonst führet ihr den Materialisten in sich selbst zurück, und laßt ihn auf das aufmerksam seyn, was in ihm selbst vorgeht, indem er denkt und empfindet, begehrt und verabscheuet, würkt oder leidet. Alles dieses thut ihm noch kein Genüge, und löset ihm die Frage noch nicht auf, was denn eine Seele sey, wenn sie nicht körperlich ist. Er überlegt nicht, daß wir vom Körper selbst auch nichts mehr wissen, als was er würkt oder leidet; und daß ausser dem Würken und Leiden eines Dings nichts weiter an ihm denkbar sey.

Derselben Waffen, fuhr ich fort, mit welchen wir gemeinschaftlich den Materialisten bestreiten, werde ich mich bedienen, auch Ihrem Einwurfe zu begegnen. Was ist das Urbild aller sinnlichen Eigenschaften, ausser den Accidenzen, die davon in denkenden Wesen anzutreffen sind? Ich antworte: so was, das nicht gefragt werden kann; weil es ausser dem Begriffe liegen soll, und also in dem Sinne der Frage selbst kein Gegenstand der Erkenntniß seyn kann. Ihr[60] forschet nach einem Begriffe, der eigentlich kein Begriff, und also etwas Widersprechendes seyn soll. Hier stehen wir an den Schranken der Erkenntniß; und jeder Schritt, den wir weiter thun wollen, ist ein Schritt ins Leere, der zu keinem Ziele führen kann. Laßt uns hier abbrechen, erwiederte mein Philosoph. Ich fürchte, daß am Ende der berühmte Zwist der Materialisten, Idealisten und Dualisten auf einen bloßen Wortstreit hinauslaufen würde, der mehr eine Sache des Sprachforschers, als des speculativen Weltweisen ist. Mich würde dieses nicht sehr befremden. Es wäre nicht die erste berühmte Streitfrage, um welche die Menschen sich veruneinigt, ja einander gehaßt und verfolgt haben, und die am Ende auf eine bloße Wortfehde hinauslief. Die Sprache ist das Element, in welchem unsre abgesonderten Begriffe leben und weben. Sie können dieses Element zur Veränderung abwechseln, aber verlassen können sie es nicht, ohne Gefahr den Geist aufzugeben.

Ich würde hier meine Vorlesungen, in so weit sie Vorerkenntniße zur Lehre von Gott seyn sollen, endigen können; wenn ich nicht noch eine Seite zu berühren hätte, von der ich mir in der Folge großen Nutzen verspreche. Was wir bisher untersucht haben, ging blos unsre Erkenntniß an, in so weit sie wahr oder falsch ist. Die wahren Erkenntnisse aber selbst unterscheiden sich von einander dadurch, daß sie Wohlgefallen oder Misfallen in der Seele erregen. Das Schöne, das Gute, das Erhabene wird von der Seele mit Lust und Wohlgefallen erkannt. Das Häßliche, Böse und Unvollkommene hingegen erregt Unlust und Widerwillen.

Man pflegt gemeiniglich das Vermögen der Seele in Erkenntnißvermögen und Begehrungsvermögen einzutheilen, und die Empfindung der Lust und Unlust schon mit zum Begehrungsvermögen zu rechnen. Allein mich dünkt, zwischen dem Erkennen und Begehren liege das Billigen, der Beyfall, das Wohlgefallen der Seele, welches noch eigentlich von Begierde weit entfernt ist. Wir betrachten die Schönheit der Natur und der Kunst, ohne die mindeste Regung von Begierde, mit Vergnügen und Wohlgefallen. Es scheinet vielmehr ein besonderes Merkmal der Schönheit zu seyn, daß sie mit ruhigem Wohlgefallen betrachtet wird; daß sie gefällt, wenn wir sie auch nicht besitzen, und von dem Verlangen, sie zu besitzen, auch noch so weit entfernt sind. Erst alsdann, wann wir das Schöne in Beziehung auf uns betrachten, und den Besitz desselben als ein Gut ansehen;[61] alsdann erst erwacht bey uns die Begierde zu haben, an uns zu bringen, zu besitzen: eine Begierde, die von dem Genuße der Schönheit sehr weit unterschieden ist. Wie aber dieser Besitz, so wie die Beziehung auf uns, nicht immer Statt findet, und selbst da, wo sie Statt findet, den wahren Freund der Schönheit nicht immer zur Habsucht reizt; so ist auch die Empfindung des Schönen nicht immer mit Begierde verknüpft, und kann also für keine Aeußerung des Begehrungsvermögens gehalten werden. Wollte man allenfalls die Richtung, welche die Aufmerksamkeit durch das Wohlgefallen erhält, denselben Gegenstand ferner zu betrachten; wollte man diese eine Würkung des Begehrungsvermögens nennen; so hätte ich im Grunde nichts darwider. Indessen scheint es mir schicklicher, dieses Wohlgefallen und Misfallen der Seele, das zwar ein Keim der Begierde, aber noch nicht Begierde selbst ist, mit einem besondern Namen zu benennen und von der Gemüthsunruhe dieses Namens zu unterscheiden. Ich werde es in der Folge Billigungsvermögen nennen, um es dadurch sowohl von der Erkenntniß der Wahrheit, als von dem Verlangen nach dem Guten, abzusondern. Es ist gleichsam der Uebergang vom Erkennen zum Begehren und verbindet diese beiden Vermögen durch die feinste Abstufung, die nur nach einem gewissen Abstande bemerkbar wird.

Wir können also das Erkenntniß der Seele in verschiedener Rücksicht betrachten; entweder in so weit es wahr oder falsch ist, und dieses nenne ich das Materiale der Erkenntniß; oder in so weit es Lust oder Unlust erregt, Billigung oder Misbilligung der Seele zur Folge hat, und dieses kann das Formale der Erkenntniß genannt werden; denn dadurch wird Erkenntniß von Erkenntniß, Wahrheit von Wahrheit selbst unterschieden.

Das Materiale der Erkenntniß leidet keine Abstufung. Ein Begriff kann nicht mehr, nicht weniger wahr als der andre seyn. Wenn es andern ist, daß Wahrheit allezeit eine Folge der positiven Denkungskraft der Seele ist; so findet hier kein Mehr oder Weniger Statt. Die Wahrheit ist mit einer unveränderlichen Größe zu vergleichen; sie ist eine unzertrennliche Einheit, die entweder ganz oder gar nicht anzutreffen ist. Daher auch in der Sprache das Beywort wahr selten eine Comparation leidet. Das Vergleichungswort wahrer ist eben so ungewöhnlich als der Superlativ, das wahrste.

Das Formale in der Erkenntniß aber hat nicht nur seine Abstufung;[62] sondern das Wesen derselben besteht hauptsächlich in der Vergleichung, in Mehr oder Weniger. Im Grunde betrachtet, führt jede Erkenntniß schon eine Art von Billigung mit sich. Ein jeder Begriff, in so weit er blos denkbar ist, hat etwas das der Seele gefällt, das ihre Thätigkeit beschäftigt, und also mit Wohlgefallen und Billigung von ihr erkannt wird. Nichts ist im höchsten Grade böse; nichts im höchsten Grade häßlich. Wie aber die Seele bey einem Begriffe mehr Wohlgefallen, angenehmere Beschäftigung finden kann, als bey einem andern; so kann sie jenen lieber haben wollen, und diesem vorziehen. In dieser Vergleichung und in dem Vorzuge, den wir einem Gegenstande geben, bestehet das Wesen des Schönen und Häßlichen, Guten und Bösen, Vollkommenen und Unvollkommenen. Was wir in dieser Vergleichung als das Beste erkennen, würket auf unser Begehrungsvermögen, und reitzet, wenn es keinen Widerstand findet, zur Thätigkeit. Dieses ist die Seite, von welcher das Billigungsvermögen an das Verlangen oder Begehren gränzet.

Ferner: das Materiale der Erkenntniß trennt das Denkbare vom Undenkbaren, das Würkliche vom Nicht Würklichen. Das Falsche, als eine Folge von der Einschränkung des Denkensvermögens, kann nicht nur nicht würklich vorhanden seyn; sondern muß auch, unter gewisser Bedingung, nicht gedacht werden können. Mit dem Formalen der Erkenntniß aber verhält es sich ganz anders. Nur der höchste Grad des Häßlichen und Bösen kann weder gedacht werden, noch würklich vorhanden seyn. Jede Abstufung derselben aber läßt sich nicht nur mit gleicher Wahrheit denken; sondern kann auch, unter gewissen Umständen, das Beste werden, und zur Würklichkeit gelangen. Das Falsche ist eine bloße Verneinung, und kann nirgends anzutreffen seyn. Das Häßliche und Böse aber, in so weit es blos in der Vergleichung diesen Nahmen erhält, kann würklich vorhanden seyn; jedoch mit der Bedingung, wie wir weiter sehen werden, daß es irgendwo und irgendwann, d.h. unter gewissen Bestimmungen der Zeit und des Raums, in der Vergleichung das Beste werde.

Noch einen Unterschied zwischen diesen verschiedenen Rücksichten in der Erkenntniß gebe ich euch zu bemerken, der mir von wichtigen Folgen zu seyn scheint. Beides, sowohl das Erkenntniß- als das Billigungsvermögen, sind, wie ihr aus der Psychologie wißt, Aeußerungen einer und ebenderselben Kraft der Seele; aber verschieden,[63] in Absicht auf das Ziel ihres Bestrebens. Jenes geht von den Dingen aus, und endiget sich in uns; da hingegen dieses den entgegengesetzten Weg nimmt, von uns selbst ausgeht, und die äußeren Dinge zu ihrem Ziele hat. Ich erkläre mich.

Eine jede Kraft führt das Bestreben mit sich, denkbare Accidenzen zur Würklichkeit zu bringen; entweder in der Substanz selbst, der diese Kraft zukömmt, oder in einer außer ihr befindlichen Substanz, welche alsdann die leidende genannt wird. Der Erkenntnißtrieb ist von der ersten Gattung. Er setzet die Wahrheit als unveränderlich zum voraus, und suchet die Begriffe der Seele mit derselben übereinstimmend zu machen. Das Ziel seiner Thätigkeit ist objective Wahrheit, und er gehet darauf aus, in dem denkenden Wesen solche Prädicate zur Würklichkeit zu bringen, die derselben gemäß sind. Vermöge des Triebes zur Wahrheit, suchen wir unsere Erkenntniß, ohne Rücksicht auf Wohlgefallen oder Misfallen, mit der unveränderlichen Wahrheit in Uebereinstimmung zu bringen. Nicht also bey der Aeußerung des Billigungstriebes. Wenn dieser in Bewegung gesetzt wird, so ist sein Ziel nicht in uns, sondern in den Dingen außer uns anzutreffen; und er gehet darauf aus, in demselben solche Accidenzen würklich zu machen, die mit unsrer Billigung, mit unserm Wohlgefallen, mit unsern Wünschen übereinstimmen. Jener will den Menschen nach der Natur der Dinge; dieser die Dinge nach der Natur des Menschen umbilden.

Ich glaube, aus diesem sehr auffallenden Unterschiede so manche Erscheinung erklären zu können, die sonst ihre Schwierigkeit hat. Wie gehet es zu, daß der Mensch die Wahrheit und zugleich die Erdichtung liebet? Wie können so widersprechende Neigungen in einem Subject beysammen seyn? Jetzt ist ihm die Wahrheit theurer als seine Ruhe, theurer als sein Leben; und jetzt hat er ein williges Ohr, sich das albernste Kindermährchen bethören und in die heftigste Gemüthsunruhe setzen zu lassen. So sehr er die Wahrheit liebt, eben so sehr wünscht er zuweilen getäuscht zu werden.

Mich dünkt, es kömmt auf die Absicht an, die wir bey einer Erkenntniß haben. Wir wollen entweder unsern Erkenntnißtrieb in Bewegung setzen, um ihn dadurch vollkommen zu machen; oder wir haben dieselbe Absicht mit dem Billigungstriebe. Ist jenes, so ist Wahrheit das Ziel unsres Wunsches; und jede andere Betrachtung, so theuer und so wichtig sie uns auch ist, muß derselben weichen.[64]

Wir wollen wissen, wie die Dinge beschaffen sind, nicht wie wir sie wünschen. Der Geometer soll, unsrer Gemächlichkeit halber, nichts von der Strenge seiner Beweise vergeben; und der Geschichtschreiber keine Umstände erdichten, um unserer Neigung zu schmeicheln. Wenn wir Wahrheit suchen, so kann nur Wahrheit uns befriedigen. Ein anderes ist es hingegen, wenn wir die Absicht haben, unser Billigungsvermögen zu beschäftigen, und dadurch vollkommener zu machen. In dieser Rücksicht liebt der Mensch Erdichtung. Er bildet die Dinge so um, wie sie seiner Neigung gemäß sind, wie sie sein Wohlgefallen und Misfallen in ein angenehmes Spiel setzen. Er will nicht unterrichtet, er will bewegt seyn. Gern läßt er sich also täuschen, und Dinge als würklich darstellen, die seiner bessern Ueberzeugung und der Wahrheit nicht gemäß sind. Seine Vernunft schweiget, so lange blos seine Neigungen anmuthig beschäftigt seyn sollen.

So oft wir an der Sache selbst und ihrer Würklichkeit Antheil nehmen; so widersezen wir uns aller Täuschung, so glücklich sie uns auch machen würde, und streben nach Wahrheit. Bey der unglücklichsten Nachricht, die uns hinterbracht wird, dringen wir auf Ueberzeugung; ob wir gleich vorher vermuthen, daß sie uns nur großes Elend bringen werde. Der Geitzige, der vielleicht seinen verborgenen Schatz nie aufgegraben haben würde, mit welcher Bestürzung eilet er hin, so bald der mindeste Verdacht entsteht, daß er gestohlen seyn könnte; mit welchem Ungestüm sucht er sich von der Wahrheit zu überführen, und er konnte bey fortdauernder Täuschung so glücklich seyn! – Der Freund, der seinen Freund in Amerika am Leben geglaubt und glücklich war, ohne vielleicht die Hoffnung zu haben, ihn je wieder zu sehn, erhält die traurige Bothschaft von einer Lebensgefahr, in welcher sich jener befunden; und nunmehro kann er sich nicht länger in seinem glücklichen Wahn erhalten; er dringet auf Ueberzeugung, ob er gleich nur Bestätigung seines Elends zu erwarten hat. »Unglücklicher«, spricht der eifersüchtige Mohr zum Verläumder seiner Desdemona, »Unglücklicher, bringe Beweise! Gieb mir Ueberzeugung, daß Desdemona treulos sey; oder verfluche deine Geburt! Ha! ich war glücklich, so lange ich mich im Besitze ihrer Treue glaubte. Mögte sie dann ihre Reitze an jeden Kriegsman verschwendet haben! Ich wußte es nicht, argwohnte nichts davon, und war glücklich. Du hast die Natter mir in den[65] Busen gesetzt! Gieb überzeugende Beweise, oder wünsche, nie das Licht der Sonne erblickt zu haben!« In der heftigsten Gemüthsbewegung selbst erkennet er, daß seine Ruhe blos von der Meynung abhänge, und daß er glücklich seyn würde, wenn er fortfahren könnte, sich in dem Wahne von der Treue seiner Geliebten zu erhalten. Allein er fühlt die Unmöglichkeit. Sein Trieb geht auf die Sache, nicht auf die Meynung. Das Ziel seines Wunsches ist außer ihm, liegt in dem Objekte. Desdemona soll nicht blos unschuldig scheinen; sie soll unschuldig seyn: und wenn sie es nicht ist, so will er von ihrer Treulosigkeit überführt und elend seyn.

Niemand von uns, meine Lieben! wird, wie ich hoffe, Anstand nehmen, lieber sein Leben zu verlieren, als z.B. eine Stadt in Brand zu stecken, oder ein ganzes Heer unschuldiger Menschenkinder, aus bloßem Muthwillen, zur Schlachtbank zu führen. Aber wenn das Uebel geschehen ist, wenn ihm von uns nicht mehr abgeholfen werden kann; so wird jeder von uns eine unwiderstehliche Begierde empfinden, allenfalls eine beschwerliche Reise zu unternehmen, um die verheerte Stadt, oder das mit Leichen besäete Schlachtfeld in Augenschein zu bekommen. Wie läßt sich dieses begreifen? Auch dieses läßt sich aus der vorigen Betrachtung gar leicht erklären. So lange es von uns abhänget, ob etwas würklich werden soll; so kömmt es auf unsre Billigung, unser Gutfinden an, und wir unterlassen das Böse, in so weit es von uns praktisch dafür erkannt wird. Sobald das Uebel geschehen, und nicht mehr abzuändern ist, so hört es auf, ein Gegenstand unsers Billigungsvermögens zu werden; und nunmehr reitzet es unsern Erkenntnißtrieb, der die Sachen so erkennen will, wie sie sind, nicht wie wir sie wünschen oder lieben. So lange wir noch handeln können, ist das Gute der Gegenstand unsers Wunsches, und das Beste der Gegenstand unsers praktischen Willens. Wir wünschen alles thun zu können, was wir für gut halten; und thun wirklich das, was uns für itzt das Beste zu seyn scheinet. Sobald wir aber die Sachen nicht mehr nach unserm Wunsche abändern können; so bleibt uns nichts mehr zurück, als unsern Erkenntnißtrieb zu befriedigen und die Wahrheit zu erfahren, wenn sie auch das größte Unglück für uns enthielte. Mit einem Worte: der Mensch forschet nach Wahrheit, billiget das Gute und Schöne, will alles Gute und thut das Beste.[66]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 59-67.
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