[102] Nach einigem Stillschweigen wendete sich Sokrates zum Cebes und sprach: Mein lieber Cebes! seitdem du von dem Wesen der Unsterblichen richtigere Begriffe erlangt hast, was dünkt dich von den Fabellehrern, die öfters einen Gott auf die Vordienste eines Sterblichen neidisch, und wider denselben bloß aus Mißgunst feindlich gesinnt seyn lassen? – Du weißt es, Sokrates, was wir von dergleichen Lehrern und ihren Erdichtungen zu halten gelernt haben. – Haß und Neid, diese niederträchtigen Leidenschaften, die die menschliche Natur so sehr entehren, müssen der göttlichen Heiligkeit schnurstracks widersprechen. – Ich bin hievon überzeugt. – Du glaubst also nunmehr zuverläßig, und ohne die geringste Bedenklichkeit, daß du, wir, und alle unsere Nebenmenschen von jenem allerheiligsten Wesen, das uns hervorgebracht, nicht beneidet, nicht gehaßt, nicht verfolgt, sondern auf das zärtlichste geliebt werden? – Richtig! – In dieser festen Ueberzeugung kann dir niemals die mindeste Furcht anwandeln, daß der Allerhöchste dich zur ewigen Qual berufen, und, schuldig oder unschuldig, unaufhörlich würde elend seyn lassen? – Niemals, niemals! rief Apollodorus, an den die Frage doch gar nicht gerichtet gewesen, und Cebes begnügte sich einzustimmen. – Wir wollen diesen Satz, fuhr Sokrates fort, daß uns Gott nicht zum ewigen Elende bestimmt, zum Maßstabe für die Gewißheit unserer Erkenntniß annehmen, so oft von zukünftigen Dingen die Rede ist, die einzig und allein von dem Willen des Allerhöchsten abhängen. Aus der Natur und den Eigenschaften erschaffener Dinge läßt sich in diesem Falle nichts mit Gewißheit schließen: denn aus diesen folgen nur diejenigen Sätze, die an und für sich unveränderlich sind, und also von der Erkenntniß des Allerhöchsten, nicht von seinem Gut finden, abhängen. Zu den göttlichen Vollkommenheiten müssen wir uns in dergleichen Untersuchungen wenden, und zu[102] erforschen suchen, was mit denselben übereinstimmt, und was ihnen widerspricht. Wovon wir überzeugt sind, daß es denselben nicht gemäß sey, das können wir verwerfen, und für so unmöglich halten, als wenn es mit der Natur und dem Wesen des untersuchten Dinges selbst stritte. Eine ähnliche Frage ist die, mein Cebes! die wir auf Veranlassung deines Einwurfs nunmehr zu untersuchen haben. Du räumest es ein, mein Freund, daß die Seele ein einfaches Wesen sey, das ohne den Körper, seine eigne Bestandheit hat: Nicht? – Richtig! – Du giebst ferner zu, daß sie unvergänglich sey? – Hievon bin ich überzeugt. – So weit, fuhr Sokrates fort, haben uns unsere Begriffe von der Natur der Ausdehnung und der Vorstellung geführet. Aber nunmehro entstehen Zweifel über das zukünftige Schicksal des menschlichen Geistes, das in so weit einzig und allein von dem Willen und von dem Gutfinden des Allerhöchsten abhängt. Wird er den Geist des Menschen in einem wachenden Zustande, des Gegenwärtigen und des Vergangenen wohl bewußt, in Ewigkeit fortdauren lassen? oder hat er denselben bestimmt, mit dem Hintritt seines Körpers in einen dem Schlaf ähnlichen Zustand zu versinken, und niemals zu erwachen? War es dieses nicht, was dir noch ungewiß schien? – Eben dieses, mein Sokrates. – Daß eine gänzliche Beraubung alles Bewußtseyns, aller Besinnung, wenigstens auf eine kurze Zeit, nicht unmöglich sey, lehret Schlaf, Ohnmacht, Schwindel, Entzücken, und tausend andere Erfahrungen. Zwar ist die Seele, in allen diesen Fällen, noch an ihren Körper gefesselt, und muß sich nach der Beschaffenheit des Gehirns richten, das ihr in allen diesen Schwachheiten nichts als unmerkliche, leicht verlöschliche Züge darbeut. Hiervon ist kein Schluß auf den Zustand unserer Seele, nach ihrer Scheidung von dem Körper, zu ziehen; weil alsdann die Gemeinschaft zwischen diesen verschiedenen Wesen aufgehoben wird, der Körper aufhört das Werkzeug der Seele zu, seyn, und die Seele ganz andern Gesetzen folgen muß, als die ihr hienieden vorgeschrieben sind. Indessen ist es genug für unsere Ungewißheit, daß ein völliger Mangel des Bewußtseyns der Natur eines Geistes nicht widerspricht; denn wenn dieses ist, so scheinet unsere Furcht nicht ganz ungegründet. – Aber wenn wir von diesem fürchterlichen Zweifel befreyet zu seyn wünschen, können wir etwas mehr verlangen, als die Vergewisserung, daß unsere Besorgniß den Absichten Gottes zuwider laufe, und von demselben[103] ebenso wenig, als das ewige Elend seiner Geschöpfe, hat beliebt werden können? – Freylich, war Cebes Antwort, wenn wir nicht eine Ueberzeugung verlangen, die der Natur der untersuchten Sache zuwiderläuft. Als ich dir meine Zweifel vorbrachte, mein theurer Freund! habe ich selbst einige aus den Absichten des Schöpfers entlehnte Gründe angezeigt, die dein Lehrgebäude höchst wahrscheinlich machen: ich wünsche sie aber aus deinem Munde zu empfangen, und meine Freunde wünschen es mit mir. – Ich versuche es, sprach Sokrates, ob ich euch Gnüge leisten kann. Antworte mir mein Cebes! wenn du befürchtest, mit dem Tode auf ewig alles Bewußtseyn deiner selbst, alles Gefühl deines Daseyns zu verlieren, besorgest du etwa, daß dieses Schicksal dem gesamten menschlichen Geschlechte, oder nur einem Theil desselben bevorstehe? Werden wir alle von dem Tode hingerafft, und, in der Sprache der Dichter zu reden, von ihm in die Arme seines ältern Bruders, des ewigen Schlafes, getragen? oder sind einige von den Erdbewohnern bestimmt, von jener himmlischen Aurora zur Unsterblichkeit aufgeweckt zu werden? So bald wir einräumen, daß einem Theil des menschlichen Geschlechts die wahre Unsterblichkeit beschieden ist: so zweifelt Cebes wohl nicht einen Augenblick, daß diese Seligkeit den Gerechten, den Freunden der Götter und Menschen vorbehalten sey? – Nein, mein Sokrates! Die Götter theilen den ewigen Tod so ungerecht nicht aus, als die Athenienser den zeitlichen. Ich bin überdem der Meynung, daß in dem weisesten Plane der Schöpfung ähnliche Wesen auch ähnliche Bestimmungen haben, und mithin dem gesamten menschlichen Geschlechte nach diesem Leben ein ähnliches Schicksal bevorstehen müsse. Entweder sie erwachen alle zu einem neuen Bewußtseyn; und alsdann können Anitus und Melitus selbst wohl nicht zweifeln, daß der unterdrückten Unschuld ein besseres Schicksal erwarte, als ihrer Verfolger; oder sie endigen alle mit diesem Leben ihre Bestimmung, und kehren in den Zustand zurück, aus welchem sie bey der Geburt gezogen worden; ihre Rollen reichen nicht weiter, als auf die Bühne dieses Lebens: am Ende treten die Schauspieler ab, und werden wieder das, was sie in dem gemeinen Leben sonst gewesen. Ich entsehe mich, mein theurer Freund! diese Gedanken weiter zu verfolgen; denn ich merke, daß sie mich auf offenbare Ungereimtheiten führen. – Das thut nichts, Cebes! antwortete jener: wir müssen auch für die[104] sorgen, welche nicht so leicht bey einer ungereimten Folgerung schamroth werden. Aehnliche Wesen, hast du behauptet, mein Werther! müßten in dem weisesten Plane der Schöpfung ähnliche Bestimmungen haben? – Ja! – Alle erschaffene Wesen, die denken und wollen, sind einander ähnlich? – Allerdings! – Wenn auch dieses richtiger, wahrer, vollkommener denkt, mehr Gegenstände umfassen kann, als jenes: so giebt es doch keine Grenzlinie, die sie in verschiedene Klassen trennet, sondern sie erheben sich in unmerklichen Stufen übereinander, und machen ein einziges Geschlecht aus: Nicht? – Dieses muß zugegeben werden. – Und wenn es über uns noch höhere Geister giebt, die sich einander an unmerklichen Graden der Vollkommenheit übertreffen, und dem unendlichen Geiste allmählig nähern, gehören sie nicht alle, so viel ihrer erschaffen sind, zu einem einzigen Geschlechte? – Richtig! – Wie ihre Eigenschaften nicht wesentlich unterschieden sind, sondern nur dem Grade nach, wie in einer stetigen Reihe, sich allmählig erheben: so müssen auch ihre Bestimmungen sich im Wesentlichen ähnlich, nur in unmerklichen Graden von einander unterschieden seyn. Denn in dem großen Plane der Schöpfung ist doch nichts willkührlich? es harmoniren doch die Bestimmungen der Wesen mit ihren Vollkommenheiten auf das genaueste? – Ohne Zweifel! – O! meine Freunde! die Frage, die wir hier untersuchen, fängt an in dem großen Plane der Schöpfung von unendlicher Wichtigkeit zu werden. Nicht das menschliche Geschlecht allein, die Entscheidung gehet das gesamte Reich der denkenden Wesen an. Sind sie zur wahren Unsterblichkeit, zur ewigen Fortdauer ihres Bewußtseyns und deutlichen Selbstgefühls bestimmt, oder hören diese Wohlthaten des Schöpfers nach einem kurzen Genusse wieder auf, und machen einer ewigen Vergessenheit Platz? In dem Rathschlusse des Allerhöchsten muß, wie wir gesehen, die Frage in dieser Allgemeinheit entschieden worden seyn: werden wir nicht, bey unserer Untersuchung, sie auch in diesem allgemeinen Lichte zu betrachten haben? – Wie es scheinet. – Aber je allgemeiner der Gegenstand wird, fuhr Sokrates fort, desto ungereimter wird unsere Besorgniß. Alle endlichen Geister haben anerschaffene Fähigkeiten, die sie durch Uebung entwickeln und vollkommener machen. Der Mensch bearbeitet sein angebornes Vermögen zu empfinden und zu denken mit einer erstaunenswerthen Geschwindigkeit. Mit jeder[105] Empfindung strömet ihm eine Menge von Erkenntnissen zu, die der menschlichen Zunge unaussprechlich sind; und wenn er die Empfindungen gegen einander hält, wenn er vergleichet, urtheilet, schließt, wählt, verwirft, so vervielfältiget er diese Menge ins Unendliche. Zu gleicher Zeit entfaltet eine unaufhörliche Geschäfftigkeit die ihm angebornen Fähigkeiten des Geistes, und bildet in ihm Witz, Verstand, Vernunft, Erfindungskraft, Empfindung des Schönen und Guten, Großmuth, Menschenliebe, Geselligkeit, und wie die Vollkommenheiten alle heißen, die noch kein Sterblicher auf Erden hat unterlassen können zu erwerben. Laß es seyn, daß wir manche Menschen dumm, thörigt, gefühllos, niederträchtig und grausam schelten: vergleichungsweise können diese Benennungen zuweilen Grund haben; aber noch hat kein Dummkopf gelebt, der nicht einige Merkmale des Verstandes von sich gegeben, und noch kein Tyrann, in dessen Busen nicht noch ein Funken von Menschenliebe geglimmt hätte. Wir erwerben alle dieselben Vollkommenheiten, und der Unterschied bestehet nur in dem mehr und weniger; wir erwerben sie alle, sage ich, meine Freunde! denn auch dem Gottlosesten ist es nie gelungen, seiner Bestimmung schnurstracks zuwider zu handeln. Er streube, er widersetze sich mit der größten Hartnäckigkeit: so wird sein Widerstreben selbst einen angebornen Trieb zum Grunde haben, der ursprünglich gut, und bloß durch unrechte Anwendung verdorben seyn wird. Diese fehlerhafte Anwendung macht den Menschen unvollkommen und elend; allein die Ausübung des ursprünglich guten Triebes befördert gleichwohl, wider seinen Dank und Willen, den Endzweck seines Daseyns. Auf solche Weise, meine Freunde! hat noch kein Mensch in dem wohlthätigen Umgange mit seinen Nebenmenschen gelebt, der nicht den Erdboden vollkommener verlassen, als er ihn betreten hat. Mit der gesamten Reihe der denkenden Wesen hat es die nehmliche Beschaffenheit: so lange sie mit Selbstgefühl empfinden, denken, wollen, begehren, verabscheuen, so bilden sie die ihnen anerschaffenen Fähigkeiten immer mehr aus; je länger sie geschäftig sind, desto wirksamer werden ihre Kräfte, desto fertiger, schneller, unaufhaltsamer werden ihre Wirkungen, desto fähiger werden sie, in der Beschauung des wahren Schönen und Vollkommenen ihre Seligkeit zu finden. Und wie? meine Freunde! alle diese erworbenen, göttlichen Vollkommenheiten fahren dahin, wie leichter Schaum auf dem[106] Wasser, wie ein Pfeil durch die Luft fliegt, und lassen keine Spuren hinter sich, daß sie jemals da gewesen sind? Das kleinste Sonnenstäublein kann in der Natur der Dinge, ohne wunderthätige Zernichtung, nicht verloren gehen: und diese Herrlichkeiten sollen auf ewig verschwinden? sollen in Absicht auf die Wesen, von welchen sie besessen worden, ohne Folgen, ohne Nutzen, so anzusehen seyn, als wenn sie ihm niemals zugehöret hätten? Was für Begriffe von dem Plane der Schöpfung setzet diese Meynung voraus! In diesem allerweisesten Plane, ist das Gute von unendlichem Nutzen, jede Vollkommenheit von unaufhörlichen Folgen: doch nur die Vollkommenheit der einfachen, sich selbst fühlenden Wesen, denen im eigentlichen Verstande eine wirkliche Vollkommenheit zugeschrieben werden kann; diejenige hingegen, welche wir in zusammengesetzten Dingen wahrnehmen, ist vergänglich und wandelbar, wie die Dinge selbst, denen sie zukömmt. Um dieses deutlicher zu machen, meine Freunde! müssen wir den Unterschied zwischen dem Einfachen und dem Zusammengesetzten abermals in Erwägung ziehen. Ohne Beziehung auf das Einfache, auf denkende Wesen, haben wir gesehen, kann dem Zusammengesetzten weder Schönheit, Ordnung, Uebereinstimmung, noch Vollkommenheit zugeschrieben, ja sie können ohne diese Beziehung, nicht einmal zusammengenommen werden, um Ganze auszumachen. Auch sind sie in dem großen Entwurfe dieses Weltalls nicht um ihrer selbst willen hervorgebracht worden: denn sie sind leblos und ihres Daseyns unbewußt, auch an und für sich keiner Vollkommenheit fähig. Der Endzweck ihres Daseyns ist vielmehr in dem lebenden und empfindenden Theile der Schöpfung zu suchen: das Leblose dient dem Lebendigen zu Werkzeugen der Empfindungen, und gewähret ihm nicht nur sinnliches Gefühl von mannigfaltigen Dingen, sondern auch Begriffe von Schönheit, Ordnung, Ebenmaß, Mittel, Endzweck, Vollkommenheit, oder wenigstens den Stoff zu allen diesen Begriffen, die sich das denkende Wesen hernach, vermöge seiner innern Thätigkeit, selbst bildet. Im Zusammengesetzten finden wir nichts für sich bestehendes, nichts das fortdauere, und von einiger Beständigkeit sey, so daß man in dem zweyten Augenblick sagen könne, es sey noch das vorige. Indem ich euch hier ansehe, meine Freunde! so ist nicht nur das Licht der Sonne, das von eurem Antlitze wiederstralt, in einem beständigen Strome; sondern eure Leiber haben unterdessen in ihrer innern[107] Bildung und Zusammenfügung unendliche Veränderungen gelitten: alle Theile derselben haben aufgehört die vorigen zu seyn, sie sind in stetem Wechsel und Fluße von Veränderungen, der sie unabläßig mit sich fortreißt. Wie die glückseligen Weisen der vorigen Zeiten schon bemerket, daß die körperlichen Dinge nicht sind, sondern entstehen und vergehen: nichts ist in denselben von Dauer und Bestandheit; sondern alles folget einem unaufhaltsamen Strome von Bewegungen, dadurch die zusammengesetzten Dinge ohne Unterlaß erzeugt und aufgelöset werden. Dieses hat auch Homer darunter verstanden, wenn er den Ocean den Vater, und die Thetis die Mutter aller Dinge nennet: er hat damit anzeigen wollen, daß alle Dinge in der sichtbaren Welt durch den steten Wechsel entstehen, und wie in einem fortströmenden Weltmeer, nicht einen Augenblick an der vorigen Stelle bleiben.
Ist nun das Zusammengesetzte an sich selbst keines Fortdauerns fähig: wie viel weniger wird es ihre Vollkommenheit seyn, die ihnen, wie wir gesehen, niemals an und für sich selbst, sondern nur in Beziehung auf das Empfindende und Denkende in der Schöpfung zugeschrieben werden kann? Dahero sehen wir in der leblosen Schöpfung das Schöne verwelken und aufblühen, das Vollkommene verderben und in einer andern Gestalt wieder zum Vorscheine kommen, scheinbare Unordnung und Regelmäßigkeit, Harmonie und Mißstimmung, Angenehmes und Widriges, Gutes und Böses in unendlicher Mannigfaltigkeit mit einander abwechseln, so wie es Gebrauch, Nutzen, Bequemlichkeit, Lust und Glückseligkeit der lebendigen Dinge erfodert, um deren Willen jene hervorgebracht worden.
Der lebendige Theil der Schöpfung enthält zwo Klassen, sinnlichempfindende und denkende Naturen. Beide haben dieses gemein, daß sie von fortdaurendem Wesen sind, eine immer für sich bestehende Vollkommenheit besitzen und genießen können. Wir finden bey allen Thieren, die diesen Erdboden bedecken, daß ihre Empfindungen, ihre Kenntnisse, ihre Begierden, ihre eingepflanzten Naturtriebe auf das wunderbarste mit ihren Bedürfnissen übereinstimmen, und insgesamt auf ihre Erhaltung, Bequemlichkeit und Fortpflanzung, auch zum Theil auf das Wohlseyn ihrer Nachkommen abzielen. Diese Harmonie wohnet ihnen innerlich bey; denn alle diese Fühlungen und Naturtriebe sind Beschaffenheiten des einfachen,[108] unkörperlichen Wesens, das sich in ihnen seiner selbst und anderer Dinge bewußt ist: daher besitzen sie eine wahre Vollkommenheit, die nicht erst in Beziehung auf andere außer ihnen so genennet werden darf, sondern ihre Bestandheit, und ihr Fortdaurendes für sich hat. Sind die leblosen Dinge zum Theil ihrentwegen da, damit sie Unterhaltung, Lust und Bequemlichkeit finden sollen: so sind sie ihrer Seits auch fähig diese Wohlthaten zu genießen, Lust und Unlust, Angenehmes und Widriges, Verlangen und Abscheu, Wohlseyn und Unglückseligkeit zu fühlen, und dadurch innerlich vollkommen oder unvollkommen zu werden. Sind die leblosen Dinge die Mittel gewesen, derer sich der allerweiseste Schöpfer bedienet: so gehören die Thiere schon mit zu seinen Absichten; denn um ihrentwillen ist ein Theil des Leblosen hervorgebracht worden, und sie besitzen das Vermögen zu genießen, und dadurch in ihrer innern Natur übereinstimmend und vollkommen zu werden. Hingegen bemerken wir bey ihnen, so wie wir sie auf dem Erdboden vor uns sehen, keinen beständigen Fortgang zu einer höhern Stufe der Vollkommenheit. Sie erhalten ohne Unterweisung, ohne Ueberlegung, ohne Uebung, ohne Vorsatz und Wissensbegierde, gleichsam unmittelbar aus der Hand des Allmächtigen, diejenigen Gaben, Fertigkeiten und Triebe, die zu ihrer Erhaltung und Fortpflanzung nöthig sind. Ein mehreres erwerben sie nicht, und wenn sie Jahrhunderte leben, oder sich unendlich vermehren und fortpflanzen. Sie können auch das Erhaltene weder verbessern noch verschlimmern, auch keinen andern mittheilen; sondern üben es auf die ihnen eingepflanzte Weise aus, so lange es ihren Umständen zuträglich ist, und hernach scheinen sie es wohl selber wieder zu vergessen. Durch menschlichen Unterricht können zwar einige Hausthiere etwas weniges erlernen, und zum Kriege, oder zu häuslichen Verrichtungen gewöhnet und gezogen werden: sie zeigen aber durch die Art und Weise, wie sie diesen Unterricht annehmen, zur Gnüge, daß ihr Leben hienieden nicht bestimmt sey, ein beständiger Fortgang zur Vollkommenheit zu seyn; sondern daß ein gewisser Grad der Fähigkeit, den sie erreichen, auch ihr letztes Ziel sey, und daß sie von selbst nie weiter streben, nie höhere Dinge zu beginnen von innen angetrieben werden. Nun ist zwar dieses Stillstehen, diese dumme Zufriedenheit mit dem Erreichten, ohne sich erheben und empor schwingen zu wollen, ein Zeichen, daß sie in dem großen[109] Entwurfe der Schöpfung nicht das letzte Ziel gewesen, sondern als niedrigere Absichten, zugleich Mittel abgeben, und Dingen von würdigern und erhabenern Bestimmungen in Erfüllung der Endabsichten Gottes behülflich seyn sollten. Allein die Quelle des Lebens und der Empfindungen in ihnen, ist ein einfaches für sich bestellendes Wesen, das unter allen Abänderungen, die es in dem Laufe der Dinge leidet, etwas Beständiges und Fortdaurendes hat; daher die Eigenschaften, die es einmal durch Erlernen, oder als ein unmittelbares Geschenk von der Hand des Allgütigen erhalten, ihm eigenthümlich zukommen, durch natürliche Wege nie wieder gänzlich verschwinden, sondern von unaufhörlichen Folgen seyn müssen. Da diese empfindende Seele natürlicher Weise nie aufhört zu seyn, so hört sie auch nie auf die Absichten Gottes in der Natur zu befördern, und sie wird mit jeder Dauer ihres Daseyns immer tüchtiger und tüchtiger, ihres Urhebers großen Endzweck in Erfüllung bringen zu helfen. Dieses ist der unendlichen Weisheit gemäß, mit welcher der Plan dieses Weltalls in dem Rathe der Götter ist entworfen worden. Alles ist in unaufhörlicher Arbeit und Bemühung, gewisse Absichten in diesem Plane zu erfüllen; einer jeden wahren Substanz ist eine unabsehbare Folge und Reihe von Verrichtungen vorgeschrieben, die sie nach und nach bewirken muß, und die wirkende Substanz wird allezeit durch die letzte Verrichtung tüchtiger, die nächstfolgende auszuführen. Nach diesen Grundsätzen ist das geistige Wesen, das die Thiere belebt, von unendlicher Dauer, und fähret auch in Ewigkeit fort, die Absichten Gottes in der Reihe und Stufenfolge zu erfüllen, die ihm in dem allgemeinen Plane angewiesen worden.
Ob diese thierischen bloß sinnlich empfindenden Naturen mit der Zeit ihre niedrige Stufe verlassen, und von einem Winke des Allmächtigen gelockt, sich in die Sphäre der Geister emporschwingen werden, läßt sich mit keiner Gewißheit ausmachen, wiewohl ich sehr geneigt bin, es zu glauben.
Die vernünftigen Naturen und Geister nehmen in dem großen Weltall, so wie insbesondere der Mensch auf diesem Erdboden, die vornehmste Stelle ein. Diesem Unterherrn der Schöpfung schmückt sich die Natur in ihrer jungfräulichen Schönheit. Ihm dienet das Leblose, nicht nur zum Nutzen und zur Bequemlichkeit, nicht nur zur Nahrung, Kleidung, Wohnung, und zum sichern Aufenthalt,[110] sondern vornehmlich zur Ergetzung und zum Unterrichte; und die erhabensten Sphären, die entferntesten Gestirne, die kaum mit dem Auge entdeckt werden können, müssen ihm in dieser Absicht nützlich seyn. Wollt ihr seine Bestimmung hienieden wissen: so sehet nur, was er hienieden verrichtet. Er bringet auf diesen Schauplatz weder Fertigkeit, noch Naturtrieb, noch angebornes Geschick, weder Wehr noch Schutz mit, und erscheinet bey seinem ersten Auftritte dürftiger und hülfloser, als das unvernünftige Thier. Aber die Bestrebung und die Fähigkeit sich vollkommener zu machen, diese erhabensten Geschenke, deren eine erschaffene Natur fähig ist, ersetzen vielfältig den Abgang jener viehischen Triebe und Fertigkeiten, die keiner Verbesserung, keines höhern Grades der Vollkommenheit je fähig werden können. Kaum genießt er das Licht der Sonnen, so arbeitet schon die gesamte Natur, ihn vollkommener zu machen: dieses schärfet seine Sinne, Einbildungskraft, und Erinnerungsvermögen; jenes übet seine edlern Erkenntnißkräfte, bearbeitet seinen Verstand, seine Vernunft, seinen Witz, seine Scharfsinnigkeit; das Schöne in der Natur bildet seinen Geschmack und verfeinet seine Empfindung; das Erhabene erregt seine Bewunderung, und erhebt seine Begriffe gleichsam über die Sphäre dieser Vergänglichkeit hinweg. Ordnung, Uebereinstimmung, und Ebenmaß dienen ihm nicht nur zum vernünftigen Ergötzen, sondern beschäfftigen seine Gemüthskräfte alle in gehöriger und ihrer Vollkommenheit zuträglicher Harmonie. Bald tritt er mit seines gleichen in Gesellschaft, um sich wechselsweise die Mittel zur Glückseligkeit zu erleichtern: und siehe! es zeugen und bilden sich an ihm in dieser Gesellschaft höhere Vollkommenheiten, die bisher wie in einer Knospe eingewickelt gewesen. Er erlanget Pflichten, Rechte, Befugnisse, und Obliegenheiten, die ihn in die Klasse moralischer Naturen erheben; es entstehen Begriffe von Gerechtigkeit, Billigkeit, Anständigkeit, Ehre, Ansehen, Nachruhm. Der eingeschränkte Trieb der Familienliebe wird in Liebe zum Vaterlande, zum ganzen menschlichen Geschlecht erweitert, und aus dem angebornen Keime des Mitleidens entsprossen Wohlwollen, Mildthätigkeit, und Großmuth.
Nach und nach bringet der Umgang, die Geselligkeit, das Gespräch, die Aufmunterung alle sittlichen Tugenden zur Reife, sie entzünden das Herz zur Freundschaft, die Brust zur Tapferkeit, und den Geist[111] zur Wahrheitsliebe; breiten einen Wetteifer von Dienst und Gegendienst, Liebe und Gegenliebe, eine Abwechselung von Ernst und Scherz, Tiefsinn und Munterkeit, über das menschliche Leben aus, die alle einsamen und ungeselligen Wollüste an Süßigkeit übertreffen. Daher auch der Besitz aller Güter dieser Erde, der Genuß der feurigsten Wollüste uns nicht behagt, wenn wir sie in der Einsamkeit besitzen und genießen sollen; und die erhabensten und prächtigsten Gegenstände der Natur ergetzen das gesellige Thier, den Menschen, nicht so sehr, als ein Anblick von seinem Mitmenschen.
Erlanget nun dieses vernünftige Geschöpf erst wahre Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften, o! welch ein kühner Schritt zu einer höhern Vollkommenheit! Aus der Gemeinschaft mit dem Nebengeschöpfe tritt er in eine Gemeinschaft mit dem Schöpfer, erkennet das Verhältniß, in welchem er, das ganze menschliche Geschlecht, alles Lebendige und alles Leblose, mit diesem Urheber und Erhalter des Ganzen stehen; die große Ordnung von Ursachen und Wirkungen in der Natur wird ihm nunmehr auch zu einer Ordnung von Mitteln und Absichten; was er bisher auf Erden genossen, ward ihm wie aus den Wolken zugeworfen: nunmehr zertheilen sich diese Wolken, und er siehet den freundlichen Geber, der ihm alle diese Wohlthaten hat zufließen lassen. Was er an Leib und an Gemüthe für Eigenschaften, Gaben und Geschicklichkeiten besitzet, erkennet er als Geschenke dieses gütigen Vaters; alle Schönheit, alle Harmonie, alles Gute, alle Weisheit, Vorsicht, Mittel und Endzwecke, die er bisher in der sichtbaren und unsichtbaren Welt erkannt, betrachtet er als Gedanken des Allerweisesten, die er ihm in dem Buche der Schöpfung zu lesen gegeben, um ihn zur höhern Vollkommenheit zu erziehen. Diesem liebreichen Vater und Erzieher, diesem gnädigen Regenten der Welt heiliget er zugleich alle Tugenden seines Herzens, und sie gewinnen in seinen Augen einen göttlichen Glanz, da er weiß, daß er durch sie, und durch sie allein dem Allgütigen Wohlgefallen kann. Die Tugend allein führet zur Glückseligkeit, und wir können dem Schöpfer nicht anders Wohlgefallen, als wenn wir nach unserer wahren Glückseligkeit streben. Welch eine Höhe hat der Mensch in dieser Verfassung auf Erden erreichet! Betrachtet ihn, meine Freunde! den wohlgesinnten Bürger im Staate Gottes, wie alle seine Gedanken, Wünsche, Neigungen und[112] Leidenschaften unter sich harmoniren, wie sie alle zum wahren Wohlseyn des Geschöpfes, und zur Verherrlichung des Schöpfers abzielen! O! wenn die Welt nur ein einziges Geschöpf von dieser Vollkommenheit aufzuweisen hätte, wollten wir anstehen, in diesem Nachahmer der Gottheit, in diesem Gegenstande des göttlichen Wohlgefallens, den letzten Endzweck der Schöpfung zu suchen?
Zwar treffen alle Züge dieses Gemäldes nicht den Menschen überhaupt, sondern nur wenige Edle, die eine Zierde des menschlichen Geschlechts sind; allein dieses mag allenfalls die Grenzlinie seyn zwischen Menschen und höhern Geistern. Genug, daß sie alle zu derselben Klasse gehören, und ihr Unterschied nur in dem Mehr und Weniger bestehet. Vom unwissendsten Menschen bis zum vollkommensten unter den erschaffenen Geistern, haben alle die der Weisheit Gottes so anständige, und ihren eignen Kräften und Fähigkeiten so angemessene Bestimmung, sich und andere vollkommener zu machen. Dieser Pfad ist ihnen vorgezeichnet, und der verkehrteste Wille kann Niemanden ganz davon abführen. Alles, was lebt, und denkt, kann nicht unterlassen, seine Erkenntniß und seine Begehrungskräfte zu üben, auszubilden, in Fertigkeiten zu verwandeln, mithin mehr oder weniger, mit stärkern oder schwächern Schritten sich der Vollkommenheit zu nähern. Und dieses Ziel, wann wird es erreicht? Wie es scheinet niemals so völlig, daß der Weg zu einem fernern Fortgange versperrt seyn sollte: indem erschaffene Naturen niemals eine Vollkommenheit, über welche sich nichts gedenken ließe, erreichen können. Je höher sie klimmen, desto mehr ungesehene Fernen entwölken sich ihren Augen, die ihre Schritte anspornen. Das Ziel dieses Bestrebens bestehet, wie das Wesen der Zeit, in der Fortschreitung. Durch die Nachahmung Gottes kann man sich allmählig seinen Vollkommenheiten nähern, und in dieser Näherung bestehet die Glückseligkeit der Geister; aber der Weg zu denselben ist unendlich, kann in Ewigkeit nicht ganz zurück geleget werden. Daher kennet das Fortstreben in dem menschlichen Leben keine Grenzen. Eine jede menschliche Begierde zielet an und für sich selbst in die Unendlichkeit hinaus. Unsere Wissensbegierde ist unersättlich, unser Ehrgeiz unersättlich, ja der niedrige Geldgeiz selbst quälet und beunruhiget, ohne jemals befriediget werden zu können. Die Empfindung der Schönheit suchet das Unendliche; das Erhabene reizet uns bloß durch das Unergründliche, das ihm anhänget:[113] die Wollust ekelt uns, so bald sie die Grenzen der Sättigung berühret. Wo wir Schranken sehen, die nicht zu übersteigen sind, da fühlet sich unsere Einbildungskraft wie in Fessel geschmiedet, und die Himmel selbst scheinen unser Daseyn in gar zu enge Räume einzuschließen: daher wir unsrer Einbildungskraft so gern den freyen Lauf lassen, und die Grenzen des Raumes ins unendliche hinaus setzen. Dieses endlose Bestreben, das sein Ziel immer weiter hinausstreckt, ist dem Wesen, den Eigenschaften, und der Bestimmung der Geister angemessen, und die wundervollen Werke des Unendlichen enthalten Stoff und Nahrung genug, dieses Bestreben in Ewigkeit zu unterhalten: je mehr wir in ihre Geheimnisse eindringen, desto weitere Aussichten thun sich unsern gierigen Blicken auf; je mehr wir ergründen, desto mehr finden wir zu erforschen; je mehr wir genießen, desto unerschöpflicher ist die Quelle.
Wir können also, fuhr Sokrates fort, mit gutem Grunde annehmen, dieses Fortstreben zur Vollkommenheit, dieses Zunehmen, dieser Wachsthum an innerer Vortrefflichkeit sey die Bestimmung vernünftiger Wesen, mithin auch der höchste Endzweck der Schöpfung. Wir können sagen, dieses unermeßliche Weltgebäude sey hervorgebracht worden, damit es vernünftige Wesen gebe, die von Stufe zu Stufe fortschreiten, an Vollkommenheit allmählig zunehmen, und in dieser Zunahme ihre Glückseligkeit finden mögen. Daß diese nun sämtlich mitten auf dem Wege stille stehen, nicht nur stille stehen, sondern auf einmal in den Abgrund zurück gestoßen werden, und alle Früchte ihres Bemühens verlieren sollten, dieses kann das allerhöchste Wesen unmöglich beliebet, und in den Plan des Weltalls gebracht haben, der ihm vor allen Wohlgefallen hat. Als einfache Wesen sind sie unvergänglich; als für sich bestehende Naturen sind auch ihre Vollkommenheiten fortdaurend und von unendlichen Folgen; als vernünftige Wesen streben sie nach einem unaufhörlichen Wachsthum und Fortgang in der Vollkommenheit: die Natur bietet ihnen zu diesem endlosen Fortgange hinlänglichen Stoff dar; und als letzter Endzweck der Schöpfung können sie keiner andern Absicht nachgesetzt, und deswegen im Fortgange oder Besitze ihrer Vollkommenheiten vorsetzlich gestört werden. Ists der Weisheit anständig, eine Welt deswegen hervorzubringen, damit die Geister, die sie hineinsetzt, ihre Wunder betrachten, und glückselig seyn mögen, und einen Augenblick darauf diesen Geistern selbst die Fähigkeit zur[114] Betrachtung und Glückseligkeit auf ewig zu entziehen? Ists der Weisheit anständig, ein Schattenwerk der Glückseligkeit, das immer kömmt und immer vergehet, zum letzten Ziel ihrer Wunderthaten zu machen? O nein, meine Freunde, nicht umsonst hat uns die Vorsehung ein Verlangen nach ewiger Glückseligkeit eingegeben: es kann und wird befriediget werden. Das Ziel der Schöpfung dauert so lange, als die Schöpfung, die Bewunderer göttlicher Vollkommenheiten so lange, als das Werk, in welchem diese Vollkommenheiten sichtbar sind. So wie wir hienieden dem Regenten der Welt dienen, indem wir unsere Fähigkeiten entwickeln: so werden wir auch in jenem Leben unter seiner göttlichen Obhut fortfahren, uns in Tugend und Weisheit zu üben, uns unaufhörlich vollkommener und tüchtiger zu machen, die Reihe der göttlichen Absichten zu erfüllen, die sich von uns hin in das Unendliche erstreckt. Irgendwo auf diesem Wege stille stehen, streitet offenbar mit der göttlichen Weisheit, Gütigkeit oder Allmacht, hat, so wenig als das allerhöchste Elend unschuldiger Geschöpfe, von dem vollkommensten Wesen bey dem Entwurfe des Weltplans beliebet werden können.
Wie beklagenswerth ist das Schicksal eines Sterblichen, der sich durch unglückliche Sophistereyen um die tröstliche Erwartung einer Zukunft gebracht hat! Er muß über seinen Zustand nicht nachdenken, und wie in einer Betäubung dahin leben, oder verzweifeln. Was ist der menschlichen Seele schrecklicher, als die Zernichtung? und was elender, als ein Mensch, der sie mit starken Schritten auf sich zukommen siehet, und in der trostlosen Furcht, mit der er sie erwartet, sie schon vorher zu empfinden glaubet? Im Glücke schleicht sich der entsetzliche Gedanke vom Nichtseyn zwischen die wollüstigsten Vorstellungen, wie eine Schlange zwischen Blumen, und vergiftet den Genuß des Lebens; und im Unglücke schlägt er den Menschen ganz hoffnungslos zu Boden, indem er ihm den einzigen Trost verkümmert, der das Elend versüßen kann, die Hoffnung einer bessern Zukunft. Ja der Begriff einer bevorstehenden Zernichtung streitet so sehr wider die Natur der menschlichen Seele, daß wir ihn mit seinen nächsten Folgen nicht zusammen reimen können, und wohin wir uns wenden, auf tausend Ungereimtheiten und Widersprüche stoßen. Was ist dieses Leben mit allen seinen Mühseligkeiten, besonders wenn die angenehmen Augenblicke desselben von der Angst für eine unvermeidliche Zernichtung vergällt werden? Was[115] ist eine Dauer von gestern und heute, die morgen nicht mehr seyn wird? Eine höchst verächtliche Kleinigkeit, die uns die Mühe, Arbeit, Sorgen und Beschwerlichkeiten, mit welchen sie erhalten wird, sehr schlecht belohnet. Und gleichwohl ist dem, der nichts Besseres zu hoffen hat, diese Kleinigkeit alles. Seiner Lehre zu Folge, müßte ihm das gegenwärtige Daseyn das höchste Gut seyn, dem nichts in der Welt die Wage halten kann; das schmerzlichste, das gequälteste Leben dem Tode, als der völligen Zernichtung seines Wesens, unendlich vorzuziehen seyn: seine Liebe zum Leben müßte schlechterdings von nichts überwunden werden können. Welcher Bewegungsgrund, welche Betrachtung würde mächtig genug seyn, ihm in die geringste Lebensgefahr zu führen? Ehre und Nachruhm? diese Schatten verschwinden, wenn von wirklichen Gütern die Rede ist, die mit ihnen in Vergleichung kommen sollen. Es betrifft das Wohl seiner Kinder, seiner Freunde, seines Vaterlandes? – und wenn es das Wohl des ganzen menschlichen Geschlechts wäre; ihm ist der armseligste Genuß weniger Augenblicke alles, was er sich zu getrösten hat, und daher von unendlicher Wichtigkeit: wie kann er sie in die Schanze schlagen? Was er wagt ist mit dem, was er zu erhalten hoffet, gar nicht in Vergleichung zu bringen; denn das Leben ist, nach den Gedanken dieser Sophisten, in Vergleichung mit allen andern Gütern, unendlich groß.
Hat es aber keine Heldengeister gegeben, die, ohne von ihrer Unsterblichkeit überführt zu seyn, für die Rechte der Menschlichkeit, Freyheit, Tugend, und Wahrheit ihr Leben hingegeben? O ja! und auch solche, die es um weit minder löblicher Ursachen willen auf das Spiel gesetzt. Aber gewiß hat sie das Herz, und nicht der Verstand dahin gebracht. Sie haben es aus Leidenschaften, und nicht aus Grundsätzen gethan. Wer ein künftiges Leben hoffet und das Ziel seines Daseyns in der Fortschreitung zur Vollkommenheit setzet, der kann zu sich selber sagen: Siehe! du bist hieher gesendet worden, durch Beförderung des Guten dich selbst vollkommener zu machen: du darfst also das Gute, wenn es nicht anders erhalten werden kann, selbst auf Unkosten deines Lebens befördern. Drohet die Tyranney deinem Vaterlande den Untergang, ist die Gerechtigkeit in Gefahr unterdrückt, die Tugend gekränkt, und Religion und Wahrheit verfolgt zu werden: – so mache von deinem Leben den Gebrauch, zu[116] welchem es dir verliehen worden, stirb, um dem menschlichen Geschlechte diese theuren Mittel zur Glückseligkeit zu erhalten! Das Verdienst, mit so vieler Selbstverleugnung das Gute befördert zu haben, giebt deinem Wesen einen unaussprechlichen Werth, der zugleich von unendlicher Dauer seyn wird. So bald mir der Tod das gewähret, was das Leben nicht gewähren kann, so ist es meine Pflicht, mein Beruf, meiner Bestimmung gemäß zu sterben. Nur alsdann läßt sich der Werth dieses Lebens angeben, und mit andern Gütern in Vergleichung bringen, wann wir es als ein Mittel zur Glückseligkeit, betrachten; so bald wir aber mit dem Leben auch unser Daseyn verlieren, so hört es auf ein bloßes Mittel zu seyn, es wird der Endzweck, das letzte Ziel unserer Wünsche, das höchste Gut, wornach wir streben können, das um sein selbst willen gesucht, geliebt und verlangt wird, und kein Gut in der Welt kann mit ihm in Vergleichung kommen, denn es übertrifft alle anderen Betrachtungen an Wichtigkeit. Ich kann daher unmöglich glauben, daß ein Mensch, dem mit diesem Leben alles aus ist, sich nach seinen Grundsätzen, dem Wohl des Vaterlandes, oder des ganzen menschlichen Geschlechts aufopfern könne. Ich bin vielmehr der Meynung, daß, so oft die Erhaltung des Vaterlandes z.B. unumgänglich erfodert, daß ein Bürger das Leben verliere, oder auch nur in Gefahr komme es zu verlieren, nach dieser Voraussetzung, ein Krieg, zwischen dem Vaterlande und diesem Bürger entstehen muß, und was das seltsamste ist, ein Krieg, der auf beiden Seiten gerecht ist. Denn hat das Vaterland nicht ein Recht, von jedem Bürger zu verlangen, daß er sich dem Wohl des Ganzen aufopfere? Wer wird dieses leugnen? Allein dieser Bürger hat das gerade entgegengesetzte Recht, so bald das Leben sein höchstes Gut ist. Er kann, er darf, ja er ist diesen seinen Grundsätzen nach, verbunden es zu thun, den Untergang seines Vaterlandes zu suchen, um sein allertheuerstes Leben einige Tage zu verlängern. Jedem moralischen Wesen kömmt nach dieser Voraussetzung, ein entschiedenes Recht zu, den Untergang der ganzen Welt zu verursachen, wenn es sein Leben, das heißt sein Daseyn, nur fristen kann. Ebendasselbe Recht haben alle seine Nebenwesen. Welch ein allgemeiner Aufstand! welche Zerrüttung, welche Verwirrung in der sittlichen Welt. Ein Krieg der auf beiden Seiten gerecht ist, ein allgemeiner Krieg aller moralischen Wesen, wo jedes in Wahrheit das Recht auf seiner Seite hat; ein Streit, der[117] an und für sich selbst, auch von dem allergerechtesten Richter der Welt, nicht nach Recht und Billigkeit entschieden werden kann: was kann ungereimter seyn? Wenn alle Meynungen, worüber die Menschen jemals gestritten und in Zweifel gewesen, vor den Thron der Wahrheit gebracht werden sollten: was dünkt euch, meine Freunde! würde diese Gottheit nicht alsofort entscheiden, und unwiederruflich festsetzen können, welcher Satz wahr, und welcher irrig sey? Ganz unstreitig! denn in dem Reiche der Wahrheit giebt es keinen Zweifel, keinen Schein, kein Dünken und Meynen; sondern alles ist entschieden wahr, oder entschieden irrig und falsch. Jedermann wird mir auch dieses einräumen, daß eine Lehre, die nicht bestehen kann, wenn wir nicht in dem Reiche der Wahrheiten selbst Widersprüche, unauflösliche Zweifel oder nicht zu entscheidende Ungewißheiten annehmen, nothwendig falsch seyn müsse: denn in diesem Reiche herrschet die allervollkommenste Harmonie, die durch nichts unterbrochen oder gestört werden kann. Nun aber hat es mit der Gerechtigkeit die nehmliche Beschaffenheit: vor ihrem Throne werden alle Zwiste und Streitigkeiten über Recht und Unrecht durch ewige und unveränderliche Regeln entschieden. Da ist kein Rechtsfall streitig und ungewiß, da sind keine Gerechtsame zweifelhaft, da finden sich niemals zwey moralische Wesen, die auf eine und eben dieselbe Sache ein gleiches Recht hätten. Alle diese Schwachheiten sind ein Erbtheil des kurzsichtigen Menschen, der die Gründe und Gegengründe nicht gehörig einsiehet, oder nicht gegeneinander abwiegen kann; in dem Verstande des allerhöchsten Geistes stehen alle Pflichten und Rechte moralischer Wesen, so wie alle Wahrheiten, in der vollkommensten Harmonie. Aller Streit der Obliegenheiten, alle Kollision der Pflichten, die ein eingeschränktes Wesen in Zweifel und Ungewißheit setzen können, finden hier ihre unwiederrufliche Entscheidung, und ein gleiches Recht und Gegenrecht ist in den Augen Gottes nicht weniger ungereimt, als ein Satz und Gegensatz, Seyn und Nichtseyn, welche beide in eben der Zeit dem Gegenstande zukommen sollen. Was sollen wir also zu einer Meynung sagen, die uns durch die bindigsten Folgerungen, auf so übelzusammenhängende und unstatthafte Begriffe führet? Kann sie vor dem Throne der Wahrheit genehmiget werden? Mein Freund Kriton war vor einigen Tagen nicht geneigt mir einzuräumen, daß ich es der Republik und den Gesetzen schuldig sey, mich der Strafe zu[118] unterwerfen, die mir auferlegt worden. Wenn mir seine Denkungsart nicht ganz unbekannt ist, so schien er nur deswegen Bedenken zu tragen, weil er das Urtheil, welches über mich ausgesprochen worden, für ungerecht hielt. Wenn er wüßte, daß ich mich wirklich der Verbrechen schuldig gemacht die wider mich eingeklagt worden sind, so würde er nicht zweifeln, daß die Republick berechtiget sey, mich am Leben zu strafen, und daß mir obliege, diese Strafe zu leiden. Dem Rechte zu thun entspricht allezeit eine Verbindlichkeit zu leiden. Hat die Republik, wie jede andere sittliche Person, ein Recht denjenigen zu strafen, der sie beleidiget, und wenn es leichtere Strafen nicht thun, ihn so gar am Leben zu strafen: so muß der Beleidiger auch nach der Strenge der Gerechtigkeit verbunden seyn, diese Strafe zu dulden. Ohne diese leidende Verbindlichkeit, wäre jenes Recht ein leerer Ton, Worte ohne Sinn und Bedeutung. So wenig es in der physischen Welt ein Wirken ohne ein Leiden giebt: eben so wenig kann in der sittlichen Welt ein Recht auf eine Person, ohne eine Verbindlichkeit von Seiten dieser Person gedacht werden. Ich zweifle nicht, meine Freunde! daß Kriton, und ihr alle hierinn mit mir einstimmet. Aber so könnten wir nicht denken, wenn das Leben uns alles wäre. Dieser irrigen Meynung zu Folge, käme dem abscheulichsten Verbrecher nicht die Obliegenheit zu, die wohlverdiente Strafe zu leiden; sondern wenn er bey der Republik sein Leben verwirkt hat, so ist er befugt das Vaterland, das seinen Untergang will, zu Grunde zu richten. Das Geschehene ist nicht mehr zu ändern, das Leben ist sein höchstes Gut: wie kann er ihm das Wohl der Republik vorziehen? Wie kann ihm die Natur eine Pflicht vorschreiben, die nicht zu seinem höchsten Gute abzielet? Wie kann er verbunden seyn, etwas zu thun, oder zu leiden, das mit seiner ganzen Glückseligkeit streitet? Es wird also ihm nicht unerlaubt seyn, ja sogar obliegen, den Staat durch Feuer und Schwerdt zu verwirren, wenn er sein Leben dadurch retten kann. Wodurch aber hätte der Bösewicht diese Befugniß erlangt? Bevor er das zu bestrafende Verbrechen begangen, war er, als Mensch, verbunden das Wohl der Menschen, als Bürger, das Wohl seiner Mitbürger zu befördern. Was kann ihn nunmehr von dieser Verbindlichkeit befreyet, und ihm dagegen das entgegengesetzte Recht gegeben haben, alles neben sich zu vernichten? Was hat diese Veränderung in seinen Pflichten verursacht? Wer unterstehet sich zu antworten: Das begangene Verbrechen selbst![119]
Eine andre unglückselige Folge von dieser Meynung ist, daß ihre Anhänger auch endlich genöthiget sind, die Vorsehung Gottes zu läugnen. Da, nach ihren Gedanken, das Leben der Menschen zwischen die engen Grenzen von Geburt und Tod eingeschränkt ist: so können sie den Lauf desselben mit ihren Augen verfolgen und ganz übersehen. Sie haben also Kenntniß der Sache genug, die Wege der Vorsehung, wenn es eine giebt, zu beurtheilen. Nun bemerken sie in den Begebenheiten dieser Welt vieles, das offenbar mit dem Begriffe, den wir uns von den Eigenschaften Gottes machen müssen, nicht übereinkömmt: Manches widerspricht seiner Güte, Manches seiner Gerechtigkeit, und bisweilen sollte man glauben, das Schicksal der Menschen sey von einer Ursache angeordnet worden, die am Bösen Vergnügen gefunden. In dem physischen Theile des Menschen entdecken sie lauter Ordnung, Schönheit und Harmonie, die allerweisesten Absichten, und die vollkommenste Uebereinstimmung zwischen Mittel und Endzweck: lauter sichtbare Beweise der göttlichen Weisheit und Güte. Aber in dem gesellschaftlichen und sittlichen Leben der Menschen, wenigstens so viel wir davon übersehen können, sind die Spuren dieser göttlichen Eigenschaften ganz unkenntlich. Triumphirende Laster, gekrönte Uebelthaten, verfolgte Unschuld, unterdrückte Tugend sind wenigstens nicht selten; die Unschuldigen und Gerechten leiden nicht seltner, als die Uebelthäter; Meuterey gelingt so oft, als die weiseste Gesetzgebung, und ein ungerechter Krieg so gut, als die Vertilgung der Ungeheuer, oder jede andere wohlthätige Unternehmung, die zum Besten des menschlichen Geschlechts gereicht; Glück und Unglück trifft Gute und Böse, ohne merklichen Unterschied, und müssen in den Augen dieser Sophisten wenigstens, ganz ohne Absicht auf Tugend und Verdienst, unter die Menschen vertheilt zu seyn scheinen. Wenn sich ein weises, gütiges und gerechtes Wesen um die Schicksale der Menschen bekümmerte, und sie nach seinem Wohlgefallen ordnete: würde nicht in der sittlichen Welt eben die weise Ordnung herrschen, die wir in der physischen bewundern?
Zwar dürfte mancher sagen: »Diese Klagen rühren bloß von unzufriedenen Gemüthern her, denen es weder Götter noch Menschen jemals recht machen können. Erfüllet ihnen alle ihre Wünsche, setzet sie auf den Gipfel der Glückseligkeit: sie finden in den düstern Winkeln ihres Herzens noch allemal Eigensinn und üble[120] Laune genug, sich über ihre Wohlthäter selbst zu beklagen. In den Augen eines mäßigen und genügsamen Menschen sind die Güter dieser Welt so ungleich nicht ausgetheilt, als man glaubt. Die Tugend hat mehrentheils eine innere Selbstberuhigung zur Gefährtinn, welche eine süßere Belohnung für sie ist, als Glück Ehre und Reichthum. Die unterliegende Unschuld würde sich vielleicht selten an die Stelle des Wütrichs wünschen, der ihr den Fuß in den Nacken setzet; sie würde das in die Augen fallende Glück nur allzutheuer durch innre Unruhen erkaufen müssen. Ueberhaupt, wer mehr auf die Empfindungen der Menschen Achtung giebt, als auf ihre Urtheile, der wird ihren Zustand lange so beklagenswerth nicht finden, als sie ihn in ihren gemeinen Reden und Unterhaltungen machen.« So dürfte mancher vorgeben, um die Wege einer weisen Vorsehung in der Natur zu retten. Allein alle diese Gründe haben nur alsdann ein Gewicht, wann mit diesem Leben nicht alles für uns aus ist, wann sich die Hoffnungen vor uns hin ins Unendliche erstrecken. In diesem Falle kann es, ja es muß für unsere Glückseligkeit weit wichtiger seyn, wenn wir hienieden mit dem Unglück kämpfen, wenn wir Geduld, Standhaftigkeit, und Ergebung in den göttlichen Willen lernen und üben, als wenn wir uns im Glück und Ueberfluß vergessen. Wenn ich auch das Leben unter tausend Martern endige, was thut dieses? Hat nur meine Seele dadurch die Schönheit der leidenden Unschuld erworben, so ist sie für alle ihre Pein mit Wucher bezahlt. Die Qual ist vergänglich, und der Lohn von ewiger Dauer. Aber was hält den schadlos, der unter diesen Qualen sein ganzes Daseyn aufgiebt? und mit dem letzten Odem auch alle Schönheiten seines Geistes fahren läßt, die er durch diesen Kampf erworben? Ist das Schicksal eines solchen Menschen nicht grausam? kann der gerecht und gütig seyn, der es so geordnet? Und gesetzt, das Bewußtseyn der Unschuld hielte allen schmerzhaften Empfindungen der Todesqual selbst, die der Unschuldige von den Händen seines Verfolgers leidet, das Gleichgewicht: soll jener Gewaltthäter, jener Beleidiger der göttlichen und menschlichen Rechte so dahin fahren, ohne jemals aus der blinden Verstocktheit, in welcher er gelebt, gerissen zu werden, und vom Guten und Bösen richtigere Begriffe zu erlangen? ohne jemals gewahr zu werden, daß diese Welt von einem Wesen regieret wird, welches an der Tugend Wohlgefallen findet? Wenn kein zukünftiges Leben zu hoffen ist, so ist die Vorsehung[121] gegen den Verfolger so wenig zu rechtfertigen, als gegen den Verfolgten.
Unglücklicher Weise werden viele durch diese anscheinende Schwierigkeiten verführt, die Vorsehung zu leugnen. Das allerhöchste Wesen, wähnen sie, bekümmere sich um das Schicksal der Menschen gar nicht, so sehr es sich auch die Vollkommenheit seiner physischen Natur hat angelegen seyn lassen. Tugend und Laster, Unschuld und Verbrechen, wer ihm dienet, und wer ihn lästert, sprechen sie, seyn dem allgemeinen Weltgeist vollkommen gleich, und was dergleichen so lächerlicher als strafbarer Meynungen mehr sind, auf die man nothwendig gerathen muß, so bald man den Weg zur Wahrheit verfehlt. Ich halte es für überflüßig, meine Freunde! von dem Ungrunde dieser Meynungen viele Worte zu machen, da wir alle versichert sind, daß wir unter der göttlichen Obhut stehen, und das Gute von seinen Händen, so wie das Böse nicht anders, als mit seiner Zulassung, empfangen.
Hingegen wissen wir einen sicherem und leichtern Weg, uns aus diesem Labyrinthe zu finden. In unsern Augen verleugnet das Sittliche so wenig, als das Physische dieser Welt, die Vollkommenheit ihres Urhebers. So wie sich in der physischen Welt Unordnungen in den Theilen, Stürme, Ungewitter, Erdbeben, Ueberschwemmung, Pest, u.s.w. in Vollkommenheiten des unermeßlichen Ganzen auflösen: eben also dienen in der sittlichen Welt, in dem Schicksale und den Begegnissen des geselligen Menschen, alle zeitlichen Mängel zu ewigen Vollkommenheiten, vergängliches Leiden zu unaufhörlicher Seligkeit, und kurze Prüfung zu dauerhaftem Wohlseyn. Das Schicksal eines einzigen Menschen in seinem gehörigen Lichte zu betrachten, müßten wir es in seiner ganzen Ewigkeit übersehen können. Alsdann erst könnten wir die Wege der Vorsehung untersuchen und beurtheilen, wann wir die ewige Fortdauer eines vernünftigen Wesens unter einen einzigen, unserer Schwachheit angemessenen Gesichtspunkt bringen könnten; aber alsdann seyd versichert, meine Lieben! würden wir weder tadeln, noch murren, noch unzufrieden seyn; sondern voller Verwunderung die Weisheit und Güte des Weltbeherrschers verehren und anbeten.
Aus allen diesen Beweisgründen zusammengenommen, meine Freunde! erwächst die zuverläßigste Versicherung von einem zukünftigen Leben, die unser Gemüth vollkommen befriedigen kann.[122] Das Vermögen zu empfinden ist keine Beschaffenheit des Körpers, und seines feinen Baues; sondern hat seine Bestandheit für sich. Das Wesen dieser Bestandheit ist einfach, und folglich unvergänglich. Auch die Vollkommenheit, die diese einfache Substanz erworben, muß in Absicht auf sie selbst von unaufhörlichen Folgen seyn, und sie immer tüchtiger machen, die Absichten Gottes in der Natur zu erfüllen. Insbesondere gehört unsere Seele, als ein vernünftiges und nach der Vollkommenheit strebendes Wesen zu dem Geschlechte der Geister, die den Endzweck der Schöpfung enthalten, und niemals aufhören Beobachter und Bewunderer der göttlichen Werke zu seyn. Der Anfang ihres Daseyns ist, wie wir sehen, ein Bestreben und Fortgehen von einem Grade der Vollkommenheit zum andern; ihr Wesen ist des unaufhörlichen Wachsthums fähig; ihr Trieb hat die augenscheinlichste Anlage zur Unendlichkeit, und die Natur beut ihrem nie zu löschenden Durst eine unerschöpfliche Quelle an. Ferner haben sie, als moralische Wesen, ein System von Pflichten und Rechten, das voller Ungereimtheiten und Widersprüche seyn würde, wenn sie auf dem Wege zur Vollkommenheit gehemmt und zurück gestoßen werden sollten. Und endlich verweiset uns die anscheinende Unordnung und Ungerechtigkeit in dem Schicksale der Menschen auf eine lange Reihe von Folgen, in welcher sich alles auflöset, was hier verschlungen scheinet. Wer hier mit Standhaftigkeit, und gleichsam dem Unglücke zu Trotz, seine Pflicht erfüllet, und die Widerwärtigkeiten mit Ergebung in den göttlichen Willen erduldet, muß den Lohn seiner Tugenden endlich genießen; und der Lasterhafte kann nicht dahin fahren, ohne auf eine oder die andere Weise zur Erkenntniß gebracht zu seyn, daß die Uebelthaten nicht der Weg zur Glückseligkeit sind. Mit einem Worte, allen Eigenschaften Gottes, seiner Weisheit, seiner Güte, seiner Gerechtigkeit würde es widersprechen, wenn er die vernünftigen und nach der Vollkommenheit strebenden Wesen nur zu einer zeitlichen Dauer geschaffen hätte.
Es dürfte Jemand von euch sprechen: »Gut, Sokrates! Du hast uns gezeigt, daß wir uns eines künftigen Lebens zu getrösten haben: sage uns aber auch, wo werden sich unsere abgeschiedenen Geister aufhalten? Welche Gegend des Aethers werden sie bewohnen? womit werden sie sich beschäfftigen? auf welche Art werden die Tugendhaften belohnt, und die Lasterhaften zu besserer Erkenntniß gebracht werden?«[123] Wenn Jemand mich dieses fragt, so antworte ich: Freund, du foderst mehr, als meines Berufs ist. Ich habe dich durch alle Krümmungen des Labyrinths hindurch geführt, und zeige dir den Ausgang: hier endiget sich mein Beruf. Andere Wegweiser mögen dich weiter führen. Ob die Seelen der Gottlosen werden Frost oder Hitze, Hunger oder Durst zu leiden haben, ob sie in dem Acherusischen Moraste sich herumwälzen, in dem düstern Tartarus, oder in den Flammen des Pyriphlegetons ihre Zeit hinbringen müssen, bis sie geläutert werden; ob die Seligen auf einer von lauter Gold und Edelgestein blitzenden Erde die reinste Himmelsluft einsaugen, und sich in dem Glanze der Morgenröthe sonnen, oder ob sie in den Armen einer ewigen Jugend ruhen und sich mit Nektar und Ambrosia füttern lassen: alles dieses, mein Freund! weiß ich nicht. Wissen es unsere Dichter und Fabellehrer besser: so mögen sie andere davon versichern. Es schadet vielleicht nicht, wenn gewisser Leute Einbildungskraft auf eine solche Weise beschäfftiget und angestrengt wird. Was mich betrifft, so begnüge ich mich mit der Ueberzeugung, daß ich ewig unter göttlicher Obhut stehen werde, daß seine heilige und gerechte Vorsehung in jenem Leben, so wie in diesem, über mich walte, und daß meine wahre Glückseligkeit in den Schönheiten und Vollkommenheiten meines Geistes bestehe: diese sind Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Wohlwollen, Erkenntniß Gottes, Beförderung seiner Absichten, und Ergebung in seinen heiligen Willen. Diese Seligkeiten erwarten meiner in jener Zukunft, dahin ich eile, und ein mehreres brauche ich nicht zu wissen, um mit getrostem Muthe den Weg anzutreten, der mich dahin führet. Ihr, Simmias, Cebes, und übrigen Freunde! ihr werdet mir folgen, ein jeder zu seiner Zeit. Mir winkt jetzt schon das unbewegliche Schicksal, wie etwa ein Trauerspieldichter sagen würde. Es ist Zeit, daß ich ins Bad gehe; denn ich halte es für anständiger, nach dem Bade erst den Gift zu mir zu nehmen, damit ich den Weibern die Mühe erspare, meinen Leichnam zu waschen.
Als Sokrates ausgeredet hatte, ergriff Kriton das Wort und sprach: Es sey! Was hast du aber diesen Freunden oder mir zu hinterlassen, das deine Kinder oder häußlichen Angelegenheiten angehet? womit können wir dir zu Gefallen leben? – Wenn ihr so lebt, Kriton! sprach er, wie ich euch längst empfohlen habe. Ich habe nichts Neues hinzuzuthun. Wenn ihr für euch selbst Achtung[124] habet, so werdet ihr mir, den Meinigen und euch selbst zu Gefallen leben, und wenn ihr es auch nicht versprechet; vernachläßiget ihr aber euch selbst, und wollet der Spur nicht folgen, die euch heute und in vorigen Zeiten vorgezeichnet worden: so wird es nichts helfen, wenn ihr auch jetzt noch so viel zusaget. – Kriton versetzte: Wir werden mit allen Kräften streben, dir zu gehorchen, mein Sokrates! Wie sollen wir aber nach deinem Tode mit dir verfahren? – Wie ihr wollet, antwortete Sokrates, wenn ihr mich anders habet, und ich euch nicht entwische? – Zu gleicher Zeit sahe er uns lächelnd an, und sprach: Ich kann den Kriton nicht bereden, meine Freunde! daß derjenige eigentlich Sokrates sey, der jetzt redet, und euch eine Zeitlang unterhalten hat; er glaubt immer noch, der Leichnam, den er bald wird zu sehen bekommen, und der vorjetzo nur meine Hülle ist, das sey Sokrates, und fragt, wie er mich begraben soll. Alle die Gründe, die ich bisher angeführet, zu beweisen, daß ich, so bald der Gift gewirkt haben wird, nicht mehr bey euch bleiben, sondern in die Wohnungen der Glückseligen versetzt werde, scheinen ihm eine bloße Erfindung, um euch und mich zu trösten. Seyd so gut, meine Freunde! und verbürget nun beym Kriton das Gegentheil dessen, was er bey den Richtern verbürgt hat. Er ist für mich gut gewesen, daß ich nicht entlaufen werde; ihr aber müsset ihm dafür stehen, daß ich mich, gleich nach meinem Tode, davon mache, damit er meinen Leichnam verbrennen, oder in die Erde senken sehe, und sich nicht so sehr betrübe, als wenn mir das größte Unglück wiederführe. Er spreche auch bey meinem Leichenbegängnisse nicht: man legt den Sokrates auf die Bahre, man trägt den Sokrates hinweg, man beerdiget den Sokrates. Denn wisse, fuhr er fort, mein werther Kriton! dergleichen Reden sind nicht nur der Wahrheit zuwider, sondern auch eine Beleidigung für den abgeschiedenen Geist. Sey vielmehr getrosten Muths, und sprich, mein Leichnam werde beerdiget. Im übrigen magst du ihn beerdigen, wie es dir gefällt, und wie du glaubest daß es die Gesetze mit sich bringen. Hierauf gieng er in ein benachbartes Gemach, um sich zu waschen. Kriton folgte ihm, und uns hieß er warten. Wir blieben, und unterhielten uns eines Theils mit dem was wir gehöret hatten, wiederholten, überdachten, und erwogen einige Gründe, um uns davon gehörig zu überzeugen; andern Theils aber beschäfftigte uns die trostlose Erwartung des großen Unglücks, das[125] uns bevorstund. Denn es kam uns nicht anders vor, als wenn wir unsern Vater verlören, und von nun an als Waisen in der Welt leben müßten. Als er sich gewaschen hatte, brachte man ihm seine Kinder: (er hat ihrer drey, zwey kleine, und ein erwachsenes:) und seine Hausweiber traten zu ihm hinein. Er unterhielt sich mit ihnen in Gegenwart des Kriton, sagte ihnen, was er zu sagen hatte, ließ die Weiber und Kinder hierauf weggehen, und kam wieder zu uns heraus. Es war gegen Sonnenuntergang; denn er hatte sich etwas lange in dem Nebengemache verweilet. Er setzte sich nieder, sprach aber sehr wenig; denn bald darauf kam der Trabante der Eilfmänner, stellte sich neben ihn, und sprach: O Sokrates! ich werde an dir etwas ganz anders gewahr, als an andern Verurtheilten. Sie pflegen sich zu entrüsten, und mir zu fluchen, wenn ich ihnen auf Befehl der Obrigkeit ankündige, daß es Zeit sey, den Gift zu trinken; du aber scheinest mir allezeit, und vornehmlich jetzt, der gelassenste und sanftmüthigste Mann zu seyn, der jemals diesen Ort betreten. Ich weiß gewiß, du bist auch jetzo über mich nicht ungehalten, sondern über die, (du kennest sie!) die daran Schuld sind. Du merkest nun wohl, Sokrates! was für eine Botschaft ich dir zu bringen habe. Gehab dich wohl, und leide mit Geduld, was nicht zu ändern ist. Er sprach es, kehrte sich herum und weinte. Sokrates sahe sich nach ihm um, und sprach: Lebe du wohl, Freund! wir werden dir gehorchen. Zu uns aber sprach er: Was für ein rechtschaffner Mann! er hat mich oft besucht, auch sich zuweilen mit mir unterhalten. Es ist ein gar guter und ehrlicher Mensch: sehet wie aufrichtig er jetzt um mich weinet! Allein, Kriton! wir müssen ihm in der That gehorchen: laß den Gift herbringen, wenn er fertig ist, wo nicht, so mag ihn dieser zu rechte machen.
Warum so eilig, mein Sokrates? versetzte Kriton: ich glaube, daß die Sonne noch auf den Bergen scheinet, und noch nicht untergegangen ist. Andere pflegen, nach der Ankündigung, noch lange zu warten, bevor sie den Gifttrank zu sich nehmen, und vorher sich gütlich zu thun, zu essen, zu trinken, auch wohl gar der Liebe zu pflegen. Wir können noch eine gute Weile verziehen. – Das mögen die thun, Kriton! antwortete Sokrates, welche jede Frist für Gewinn halten; ich aber habe meine Gründe, das Gegentheil zu thun. Ich glaube nichts zu gewinnen, wenn ich verzögere, und würde mir nur selbst lächerlich vorkommen, wenn ich mit dem Leben jetzt[126] geizte und kargte, da es nicht mehr mein ist. Thue mir immer meinen Willen, und halte mich nicht auf.
Hierauf winkte Kriton dem Knaben, der neben ihm stand. Der Knabe gieng heraus, verweilte einige Zeit mit Zubereitung des Gifts, und brachte hierauf den Mann herein, der den Giftbecher in der Hand hatte, um ihn dem Sokrates zu reichen. Sokrates sahe ihn kommen, und sprach: Guter Mann, gieb her! Aber was muß ich dabey thun? du wirst es wissen. Nichts anders, antwortete dieser, als nach dem Trinken auf und nieder gehen, bis dir die Füße schwer werden; sodann legst du dich nieder: dieses ist alles. Und hiermit reichte er ihm den Becher. Sokrates nahm ihn, lieber Echekrates! mit solcher Gelassenheit, ohne Zittern, ohne Farbe oder Gesichtszüge im geringsten zu verändern, sahe den Menschen mit seinen weit offenen Augen an, und sprach: Was meynest du? darf man den Göttern davon einige Tropfen zum Dankopfer vergießen? Es ist gerade so viel als nöthig ist, versetzte dieser. So mag es bleiben, erwiederte Sokrates; aber ein Gebet kann ich doch an sie richten: Die ihr mich rufet, ihr Götter! verleihet mir eine glückliche Reise! Mit diesen Worten setzte er den Becher an, und leerte ihn ruhig und gelassen aus.
Bisher konnten sich viele von uns noch der Thränen enthalten, als wir ihn aber ansetzen, trinken, und ausleeren sahen, da war es nicht möglich. Mir selbst tröpfelten die Thränen nicht, sondern ergossen sich, wie in Strömen herunter, und ich mußte mir das Gesicht in den Mantel hüllen, um ungestört weinen zu können, nicht über ihn, sondern über mich selbst, daß ich das Unglück hatte, einen solchen Freund zu verlieren. Kriton, der sich noch vor mir der Thränen nicht enthalten konnte, stand auf und irrete im Gefängnisse umher; und Apollodorus, der die ganze Zeit mehrentheils geweinet, fieng damals an, überlaut zu heulen und zu jammern, daß einem jeden das Herz davon brach. Nur Sokrates blieb unbewegt, und rief uns zu: Was machet ihr, Kleinmüthigen? deßwegen habe ich so eben die Weiber weggeschickt, damit sie hier nicht so klagen und winseln möchten; denn ich habe mir sagen lassen, man müsse suchen unter Seegen und guten Wünschen den Geist aufzugeben. Seyd ruhig, und zeiget euch als Männer! – Als wir dieses vernommen, schämeten wir uns, und hörten auf zu weinen. Er gieng auf und nieder, bis ihm die Füße schwer wurden, und legte sich[127] sodann auf den Rücken, wie der Sklave ihm gerathen hatte. Bald darauf betastete ihn der Mann, welcher ihm den Gift gereicht, mit den Händen, und beobachtete seine Füße und seine Hüften. Er drückte ihm den Fuß, und fragte, ob er es fühlte? Nein, sprach er. Er drückte ihm den Schenkel, ließ aber wieder los, und gab uns zu verstehen, daß er kalt und steif sey. Er betastete ihn wieder, und sprach: So bald es ihm ans Herz kömmt, wird er verscheiden. Nun fieng ihm der Unterleib schon an kalt zu werden. Er deckte sich auf, denn man hatte ihn zugedeckt, und sagte zum Kriton: (dieses waren seine letzten Worte:) Freund! vergiß nicht, dem Gott der Genesung einen Hahn zu bringen, denn wir sind ihm einen schuldig. – Kriton antwortete: Es soll geschehen. Hast du sonst nichts mehr zu hinterlassen? Hierauf erfolgte keine Antwort. Einige Zeit hernach bekam er Zuckungen. Der Mann deckte ihn vollends auf, und seine Blicke blieben starr. Als Kriton es sahe, drückte er ihm Mund und Augen zu.
Dieses war das Ende unseres Freundes, o Echekrates! eines Mannes, der unter allen Menschen, die wir kannten, unstreitig der rechtschaffenste, weiseste, und gerechteste gewesen.[128]
Ausgewählte Ausgaben von
Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele
|
Buchempfehlung
Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.
78 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro